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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1380 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gazer, Hacik Rafi

Titel/Untertitel:

Die Armenische Kirche in Sowjetarmenien zwischen den Weltkriegen. Anatomie einer Vernichtung.

Verlag:

Münster-Hamburg-Berlin-London: LIT 2001. 393 S. m. 1 Kt. gr.8 = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 14. Geb. Euro 20,90. ISBN 3-8258-5555-4.

Rezensent:

Martin Tamcke

Die in der Reihe "Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte" erschienene Arbeit ist die Habilitationsschrift G.s an der Theologischen Fakultät der Universität Halle aus dem Wintersemester 2000/2001. Sie stellt in mancher Hinsicht eine Fortsetzung seiner Dissertation dar (Hacik Rafi Gazer, Die Reformbestrebungen in der Armenisch-Apostolischen Kirche im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1996), ist zugleich aber mehr als das. Mit dem Untertitel will G. die Arbeit- Anatomie einer Vernichtung - vielmehr als ein Stück fortgesetzter Verfolgungsgeschichte verstanden wissen, die freilich hier die ansonsten gepflegte Einheitlichkeit im armenischen Verfolgungsbewusstsein nicht für sich in Anspruch nehmen kann, da - wie immer die Wertung dieser Zeit heute aussehen mag - unbestreitbar die politisch maßgeblichen Kräfte in der Sowjetrepublik Armenien ebenfalls Armenier waren.

Der Konflikt stellt sich also vornehmlich als ein Konflikt zwischen Staat (Armenische Sowjetrepublik) und Kirche dar. Die Arbeit ist auf der Grundlage von neu erschlossenen Quellen erstanden. Das macht ihren besonderen Wert und Reiz aus. Allerdings darf nicht verwundern, dass G. in der Zeit der Bearbeitung der Quellen von 1994 bis 2000 bei aller Hilfsbereitschaft in den Archiven nicht nur kriegsbedingt auf Probleme bei der Arbeit an den Quellen stieß. So waren ihm die Materialien im Archiv des Rates für Religiöse Angelegenheiten nicht zugänglich. Doch genügt schon, was G. hier fleißig zusammengetragen hat, um sich ein hinlängliches Bild von den Vorgängen zu machen.

Das Buch hat einen chronologischen Aufbau: Das Katholikosat aller Armenier in den Anfangsjahren der Armenischen SSR (Unterkapitel handeln zu Ostarmenien zwischen Zarenreich und Sowjetreich, Das Katholikosat in der Gründungsphase der Armenischen SSR, Verhandlungen mit der etablierten Sowjetmacht, Verankerung der Religionsgesetzgebung in den Jahren 1922-1923, Die Tscheka und die Armenische Kirche, Die Schaffung von neuen kirchlichen Gremien, Vorschriften für die Gründung "religiöser Gesellschaften" 1926), Die Lage in Etschmiadzin und in den einzelnen Diözesen 1920 bis 1926 (hier handeln die Unterkapitel weithin zu einzelnen Diözesen: Die Diözese Ararat-Jerewan, Die Diözese Siunik' in den Jahren 1922-1927, Die Diözese Sirak, Katholikosat und sowjetarmenischer Staat seit Mitte 1927), Die Organisation und der Aufbau der "Gottlosenverbände" - Die staatlich zentral gesteuerte atheistische Propaganda in Sowjetarmenien (nur zwei Unterkapitel zum "Bund der Gottlosen in Sowjetarmenien und zur Vakanz des Katholikosats von Mai 1930 bis November 1932"), Die Amtszeit des Katholikos Xoren I. 1932-1938 (Unterkapitel hier: Die nationale Kirchenversammlung November 1932, Die Situation der Gemeinden in Sowjetarmenien 1932, Die Repressalien gegenüber Gemeinden und Geistlichen in der Zeit des Zweiten Fünfjahresplans 1933-1937, Die Hinrichtungen in den Jahren 1937-1938).

G. sieht Parallelen und zieht Parallelen zum Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges. "Beide Verfolgungswellen sind geistesgeschichtlich aus den Ideen des 19. Jahrhunderts abzuleiten", meint G. Eine gemeinsame Linie führt dabei über die nationalistischen Ideen, wobei die nationalbolschewistische Idee der Lösung der Armenienfrage über den Weg der Sowjetisierung durch den Frieden zwischen Sowjets und der neuen Türkei sich schnell als Illusion erwies. Ideologisch sei es dem Staat von vornherein um die gänzliche Vernichtung und Ausschaltung der "Religion" gegangen (327; es fragt sich, ob G. hier nicht besser in seiner Formulierung exklusiv bei der Armenischen Kirche als Bezugspunkt hätte bleiben sollen). Doch ist hier wirklich von zwei "Systemen" zu sprechen (Armenisch-Apostolische Kirche und Sowjetrepublik Armenien)? Die tragische innerarmenische Konfrontation ist trotz aller Vergleichbarkeiten mit den Vorgängen auf dem Boden des Osmanischen Reiches und der türkischen Republik wohl doch zugleich auch eine wirklich anders geartete Konstellation als die ältere im muslimischen Orient.

Die zeitliche Begrenzung hat G. plausibel gewählt: Die Ermordung des Katholikos im April 1938 und der endgültige Beschluss der Auflösung des Katholikosats vom 4. August 1938 sind nicht nur wegen der bis heute schwierigen Archivsituation für die Folgezeit als Schlusspunkt einleuchtend: Hier ist der Tiefpunkt der armenischen Kirchengeschichte im 20. Jh. erreicht, von dem sich die nachfolgende Geschichte wiederum abzuheben beginnt. Schade, dass G. nicht die vielen Artikel in der deutschen Berichterstattung zu seinen armenischen Akten hinzugesetzt hat, die gerade über die Microficheedition zugänglich gemacht worden sind. Aber das lag auch im Ziel einer auf Primärquellen gestützten Darstellung. G. ist es gelungen, eine quellengebundene Darstellung eines wichtigen Abschnittes der armenischen Kirchengeschichte zu schreiben. Wer die Situation der Kirche in Ostarmenien heute verstehen will, der muss auf dieses Werk zurückgreifen und wird Gewinn davon haben.