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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1377–1379

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Paul Oppenheim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Einheit bezeugen. Zehn Jahre nach der Meissener Erklärung/Witnessing to Unity (Ten Years After the Meissen Declaration). Beiträge zu den theologischen Konferenzen von Springe und Cheltenham zwischen der EKD und der Kirche von England.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2003. 544 S. gr.8. Kart. Euro 24,00. ISBN 3-87476-405-2.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Im Jahr 1991 haben die Evangelische Kirche in Deutschland und die Kirche von England mit der Meißener Erklärung weitgehende Kirchengemeinschaft vereinbart. Zu dieser Vereinbarung gehörte die Selbstverpflichtung der Kirchen, "gemeinsam nach der vollen, sichtbaren Einheit zu streben" und offizielle theologische Gespräche weiterzuführen (Meißen 17). Die Realisierung dieser Aufgabe in den darauffolgenden zehn Jahren dokumentiert der angezeigte Band. Er enthält die wichtigsten Vorträge, die auf den Konferenzen in Springe 1999 und Cheltenham 2001 von englischen und deutschen Theologen gehalten worden sind, jeweils mit Übersetzung. In einem Anhang werden die Ergebnisprotokolle der beiden Konferenzen sowie die "Meissener Gemeinsame Feststellung und Erklärung" (1988) geboten.

Den ökumenischen Kontext des Meißenprozesses sichten im Eingangsteil A. D. Falconer in der Perspektive des ÖRK, H. Barth mit Blick auf die von der EKD geführten ökumenischen Gespräche und W. Hüffmeier mit Blick auf die ökumenischen Beziehungen der UEK. Den Bezug zur kirchlichen Wirklichkeit stellen - über den Band verteilt - die Beiträge von W. Hüffmeier über "Einheit in unseren Kirchen. Theorie und Praxis, Erfahrungen und Hindernisse", von D. Wendebourg über "Sichtbare Einheit in der Evangelischen Kirche in Deutschland" und von R. Williams "Ways forward from Meissen: What kind of Unity in Witness and Mission?" her.

Die Erörterung der theologischen Kernfrage nach der sichtbaren Einheit wird eröffnet mit der Sichtung der biblischen Grundlagen durch A. Lindemann und Th. Seville. Schon hier zeichnen sich die Differenzen in der Beschreibung des Verhältnisses von Kircheneinheit und ordiniertem Amt ab, die Gegenstand der Gespräche waren. Als den zentralen Differenzpunkt benennt I. U. Dalferth sodann, dass trotz der gegenseitigen Anerkennung der beiden Kirchen in 16 der Meißener Erklärung "auf anglikanischer Seite nach wie vor die historische Sukzession im Bischofsamt" (198) als notwendige Bedingung der full, visible unity angesehen werde. Diese anglikanische Forderung sei für evangelisches Verständnis problematisch, weil diesem zufolge die Einheit der Kirche nicht im Amt sichtbar werde, sondern "darin, dass dieses vollzieht, wofür es da ist: den Dienst am Wort" (200). Die sichtbare Einheit der Kirche hänge mithin "nicht am Amt, sondern allein daran, dass das Evangelium, dem sich der Glaube verdankt, wahrnehmbar (sichtbar, hörbar, schmeckbar) kommuniziert" (201) werde.

Diesen Differenzpunkt bestätigt von anglikanischer Seite P. Avis, der die Entwicklung der anglikanischen Sicht von der englischen Reformation über die hochkirchliche Tradition bis in die Gegenwart verfolgt. Das anglikanische Verständnis voller, sichtbarer Einheit konkretisiert er, indem er die "Glaubensattribute der Kirche" als in besonderer Weise in die Verantwortung des Bischofsamtes gestellt beschreibt (144; vgl. 144-147) und vom Bischofsamt als "the most fully ecclesial ministry" (132) spricht. Allerdings gesteht er auch zu, dass das Bischofsamt einschließlich der historischen Sukzession nur eine Form von episkope darstelle, deren Strukturen der Katholizität und Apostolizität der Kirche dienen sollten und als historisch gewachsene fehlbar seien (vgl. 148 f.). Den zuletzt genannten Gedanken unterstützt M. D. Chapman, indem er die Begründung des Bischofsamtes in der anglikanischen Tradition theologiegeschichtlich erhellt und als die treibenden Motive einerseits machtpolitische Interessen, andererseits die Suche nach Gewissheit (vgl. 197) zu Bewusstsein bringt. So gelangt er zu dem Ergebnis, der trennende 16 von Meißen scheine "weder durch die anglikanische Tradition noch [...] durch die Lehrvereinbarungen der Kirchen begründet zu sein" (197).

Welche Wege auf der Suche nach Einheit erscheinen nun aber aus der konfessionellen Tradition beider Kirchen heraus jeweils möglich? P. Avis votiert aus anglikanischer Sicht methodisch für das Konzept einer stufenweisen Suche nach der Einheit. Er betont, dass nach anglikanischer Auffassung das dreifache Amt in historischer Kontinuität keine "Bedingung für die Anerkennung einer anderen Kirche als Teil der einen Kirche Jesu Christi" (250) sei. Auch stelle der historische Episkopat "keine Garantie für die Katholizität und Apostolizität der Kirche" (ebd.) dar. Wohl aber gehöre er zur vollen sichtbaren Einheit des Christentums. Denn er lege "in besonderer Weise von den notae ecclesiae Zeugnis ab" (ebd.) und sei darum unverzichtbar für die sichtbare Gemeinschaft in Raum und Zeit. Das Ziel der weiteren ökumenischen Bemühungen sieht Avis von daher in "einem gemeinsamen, austauschbaren, ordinierten Amt, das einen gemeinsamen, austauschbaren Episkopat einschließt und wahrhaftig dem gemeinsamen Leben, der Koinonia der Kirchen entspringt" (252). Als mögliche letzte Stufe auf dem Weg zu diesem Ziel bestimmt er neben weiterer theologischer Konvergenz die verstärkte Gemeinschaft in der Ausübung der episkope durch gemeinsame Ordinationen (ebd.).

Im Gegenzug klärt D. Wendebourg darüber auf, dass aus evangelisch-lutherischer Sicht das eine ordinationsgebundene Amt seiner primären Gestalt nach im Pfarramt bestehe (281 ff.), wobei aber der Dienst der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums in Predigt und Sakrament die Notwendigkeit von episkope einschließe. Deren Wahrnehmung durch das Bischofsamt sei in der Wittenberger Reformation ebenso mitsamt der Praxis der bischöflichen Ordination bejaht worden (284-292). Gleichzeitig habe die Reformation jedoch zu Bewusstsein gebracht, dass die episkope in verschiedenen Strukturen wahrgenommen werden könne und die Bindung der Ordination an ein bischöfliches Amt eine sinnvolle, wenngleich nicht eine notwendige und unter allen Umständen zu wahrende Ordnung darstelle (292-299). Durch die Notlage, die in der Reformation zur Unterbrechung der bischöflichen Ordination geführt habe, sei vielmehr manifest geworden, "was grundsätzlich möglich und theologisch legitim und, wenn es darauf ankommt, auch hinreichend ist" (293). Von daher mahnt D. Wendebourg zu Recht, bei der Frage nach dem historischen Episkopat das theologische Erbe der Reformation nicht zu verspielen "und die Einsicht nicht zu vergessen [...], dass amtliche Kontinuität und apostolische Kontinuität der Kirche niemals identisch sind, ja im Extremfall sogar in Gegensatz zueinander treten können" (299).

Sind die auf der Suche nach Einheit zu berücksichtigenden amtstheologischen Differenzen somit benannt, stellt sich die Frage, ob bzw. warum sie die volle, sichtbare Einheit hindern. Das hängt mit dem Verständnis der Sichtbarkeit der Einheit zusammen. Nach I. U. Dalferth besteht die "Pointe eines evangelischen Verständnisses sichtbarer Einheit" darin, "dass die Konstitution der Einheit und das Sichtbarwerden dieser Einheit nicht zwei verschiedene Vorgänge mit Gott und den Glaubenden als verschiedenen Subjekten, sondern ein und derselbe Vorgang sind" (332). Da dieser Vorgang als Gabe Gottes zu verstehen sei, könne das "Sichtbarwerden der Einheit in Jesus Christus [...] nicht an den historischen Episkopat gebunden werden" (333). Dieser gehöre vielmehr "zu den historischen Gestaltungen des Lebensvollzuges von Kirchen, an denen sich nicht entscheidet, ob Kirchengemeinschaft vollzogen werden kann" (333).

In seiner Antwort auf die Position von I. U. Dalferth vertritt G. Jones die Auffassung, für anglikanisches Denken resultiere aus der Inkarnation und dem Pfingstereignis "und folglich aus der Gegenwart Gottes in der Welt und in der Geschichte", dass "Gott der Kirche den historischen Episkopat als reine Gabe" (366) gegeben habe. Allerdings könne diese Gabe nicht einfach anderen aufgezwungen werden (371 f.). Darum bejaht Jones die Frage, ob volle, sichtbare Einheit auch ohne dreifaches Amt, historischen Episkopat und bischöfliche Sukzession möglich sei. Allerdings geschieht dies unter dem Vorbehalt, dass die EKD ihren Empfang von Gottes Gaben analog zu dem Empfang der Gabe des historischen Episkopats in der Church of England verstehen müsse und dass umgekehrt die Church of England der EKD eine "(sakramentale) Theologie der Gabe" (368) nicht streitig machen dürfe. Darüber hinausgehend wirft Ch. Hill im Versuch konstruktiver Aufnahme der Leuenberger Kirchenstudie Die Kirche Jesu Christi (1994) die Frage auf, ob nicht "im Bischofsamt ein Zeichen (aber keine Garantie) der weiterreichenden Sichtbarkeit (d. h. Zeugnis, Wahrnehmung und Bezeugung) der Kirche durch Zeit und Raum" (419) und damit "eine Gabe (neben presbyteralen und synodalen Gaben) zur Erbauung der ganzen Kirche Christi in sichtbarer Einheit" (ebd.) gesehen werden könne.

Ch. Schwöbel möchte hingegen - ebenfalls auf der Basis der Leuenberger Kirchenstudie - mit einer "Hermeneutik des ökumenischen Prozesses" (432) "die unterschiedliche Geschichte der Reformation in England und in Deutschland theologisch interpretieren" (435) und "die Frage der Ordnung des Amtes, einschließlich des historischen Episkopats, in den Bereich der legitimen geschichts- und ortsbedingten Vielfalt" (ebd.) einordnen. Der historische Episkopat würde dann zwar einen bleibenden Unterschied markieren, aber als "ein Element bereichernder Vielfalt [...] kein bleibendes Hemmnis auf dem gemeinsamen Weg vorwärts von Meißen" (ebd.) darstellen. Dem entsprechend plädiert E. Herms für weitere theologische Gespräche mit dem Ziel, ein Verständnis der "Superintendentur" anzustreben, innerhalb dessen beide Seiten ihre jeweilige Einschätzung und Wahrnehmung "als erträglich innerhalb einer Gemeinschaft durchschauen" (469) mit der Konsequenz der Austauschbarkeit der Ämter und der Interzelebration (470).

Ob dieses Ziel realistisch ist oder ob es sinnvoller wäre, die bestehende Differenz in der Amtsfrage zuzulassen und die theologischen Gespräche der Meißen-Kommission auf andere und wichtigere Fragen zu konzentrieren, wie I. U. Dalferth (204) vorschlägt, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls würde die Anerkennung des historischen Episkopats als konstitutives Moment sichtbarer Einheit und als unverzichtbare Voraussetzung für die Austauschbarkeit der Ämter nicht nur reformatorisch errungene Einsichten über Stellenwert und Historizität der personalen Amtssukzession unterlaufen und die Gültigkeit der evangelischen Ämter faktisch in Frage stellen; sie würde auch die Ansätze im evangelisch-katholischen Dialog unterminieren, die auf der Suche nach einem gemeinsamen Verständnis der apostolischen Sukzession die Sukzession in der Lehre in den Vordergrund stellen. Die ökumenische Bedeutung des Meißenprozesses reicht darum weit über den Bereich der beteiligten Kirchen hinaus.