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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1367–1369

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Biehl, Peter, u. Karl Ernst Nipkow

Titel/Untertitel:

Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive.

Verlag:

Münster: LIT 2003. 276S. gr.8 = Schriften aus dem Comenius-Institut, 7. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-8258-6558-4.

Rezensent:

Joachim Kunstmann

"Bildung" ist aktuell wie wenig sonst. Karl Ernst Nipkow und Peter Biehl, die beiden Autoren, die in der Religionspädagogik bisher am eingehendsten zum Bildungsgedanken gearbeitet haben, entfalten hier die evangelische Perspektive auf die Debatte in einer eindrucksvollen Bandbreite und Bezugsvielfalt, die von der theologischen Vergewisserung über Pädagogik und Gesellschaft bis zur kirchlichen Bildungspolitik reicht. "Im Blick auf Bildung überschneiden sich elementare Interessen von Gesellschaft und Kirchen" (7).

Der erste gut 100 Seiten umfassende Beitrag von Biehl über Bildung und Gottesebenbildlichkeit ist eine Wiederveröffentlichung (zuerst in "Erfahrung, Glaube und Bildung", 1991). Er stellt fundierte und differenzierte Bezüge zu Systematischer Theologie und Pädagogik her, beschreibt die Wiedereinführung des ursprünglich theologischen Bildungsbegriffs in der Religionspädagogik als deren "Grundbegriff". Er sondiert die neueren pädagogischen Grundlegungen bei Klafki und Peukert, die Gottesebenbildlichkeit als "Leitkategorie" und theologisches Spezifikum der Bildung u. a. bei Brunner, Pannenberg und Karl Barth, dessen christologische Fassung ihm als richtungweisend gilt.

Gottesebenbildlichkeit, theologisch begründetes Freiheitsverständnis, Rechtfertigung und Reich-Gottes-Verheißung sind "Aspekte" theologisch verstandener Bildung; den Schwerpunkt hat das Verhältnis von Bildung und Glaube, deren gegenseitige Verwiesenheit Biehl als "schwer zu lösendes Grundproblem der Religionspädagogik" kennzeichnet (49). Theologisch ausgesprochen klar markiert er die "heilsame Unterscheidung zwischen dem, was wir empfangen, und dem, was zu tun gefordert ist" (49, vgl. auch 127), und sieht in ihr die auch pädagogisch bedeutsame theologische Fundierung des Bildungsdenkens. (Die Unterscheidung macht Bildung, anders als bei Eckhart und Schleiermacher, allerdings nicht als Offenbarung Gottes denkbar.) Ausgelegt wird dieses Bildungsverständnis (unter Bezug auf Gadamer, Ricur, Pongratz, Habermas u. a.) in teils bemerkenswerten Gedankengängen unter den Aspekten Gespräch, (Alltags-)Erfahrung und Handeln, wobei die Theologie die unverfügbaren Vorgaben von Angesprochensein, Deutungsrahmen und Sinn benennt, die sowohl den gebildeten Glauben als auch pädagogische Grundeinsichten bestimmen.

Nipkow kommentiert diesen Aufsatz unter der Kategorie "bewunderungswürdige Kabinettstücke gelehrter Analyse und Reflexion" (103) in einem kurzen, ebenfalls bereits veröffentlichten Beitrag (in: Dressler u. a. 1999). Ebenbildlichkeit und Rechtfertigungsgedanke, die das Werk Gottes von dem des Menschen unterscheiden und seine Bildung erst möglich machen, sind zu Recht Grundlage evangelischen Bildungsdenkens.

Biehl beschreibt sodann detailliert und pointiert die "Wiederentdeckung der Bildung in der gegenwärtigen Religionspädagogik" seit 1991, die in der Bildung zunehmend im Kontext der gesellschaftlichen Pluralität diskutiert wird. Biehl legt den Religionsbegriff und Bezüge zur Systematischen Theologie als Kriterien an. Er geht auf die wichtigsten pädagogischen, systematischen und religionspädagogischen Entwürfe ein. Besonderer Aufmerksamkeit wert ist für ihn die vom Vf. vorgelegte Wendung der religiösen Bildung zur Ästhetik (142 ff.).

Nipkows großer Beitrag "Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche" wendet sich entschlossen dem "realgeschichtlichen Kontext" kirchlicher Bildungspolitik zu, der im Gegenüber zu einer "ideengeschichtlichen" Betrachtung von Bildung bewusst betont wird. Nipkow gibt eine detaillierte Übersicht über die "Erziehungs- und Bildungspolitik" der Kirche seit der Weimarer Zeit, die trotz ihrer Ausweitung zu einer innerkirchlichen und gesellschaftlichen "Bildungsmitverantwortung" faktisch weit überwiegend kirchliche Schulpolitik ist. Es folgen Erläuterungen und Kommentare zur neuen umfänglichen Bildungs-Denkschrift der EKD ("Maße des Menschlichen", 2003), schließlich zur Religionspädagogik als "Testfall evangelischer Bildungspolitik". Der kirchliche Bezug der Religionspädagogik gilt als deren "zentrale Frage" (240); evangelische Bildung ohne diesen Bezug ist für Nipkow nicht denkbar.

So teilen die beiden Autoren Bildungsidee (Biehl) und Bildungspolitik (Nipkow) weitgehend unter sich auf. Die Fülle der Bezüge erschwert den Überblick: Bildung verweist nach Biehl neben der "Ebenbildlichkeit" "auf das noch ausstehende Ganze des menschlichen Lebens" (9), ist ein "umfassender Erfahrungs- und Reflexionsprozess" (11), ist "Subjektwerdung" im gesellschaftlichen Kontext (40), Lernen aus Erfahrungen (52), Verständigungsfähigkeit (56), Befreiung zum Handeln (67), "gesteigerte Erfahrungsfähigkeit" (85), Wahrung der Menschenrechte (99) usw. und immer wieder "kritisches" Denken; Aspekte, denen niemand widersprechen möchte. Wie aber hängen sie letztlich zusammen? Die sinnvolle theologische Unterscheidung zwischen Gottes- und Menschenwerk, auf die auch Nipkow immer wieder Bezug nimmt, gibt da keine inhaltliche Aussage. Nipkows bildungspolitische Akzentuierung - die eine unverzichtbare Aufgabe beschreibt! - überlässt die theoretische Bestimmung der Bildung Biehl und anderen und zeigt in der Fülle der Aspekte, Bezüge und Aufgaben kein ideengebendes Fundament. Wie christliche Bildung angebahnt werden, welchen Sinn und Nutzen sie für das gegenwärtige Leben haben und wie sie unter heutigen Bedingungen relativistisch-säkularen Denkens (das vor den Toren der Kirche nicht halt macht) einleuchten kann, wird da zur Randfrage, an der allerdings die Zukunft der Religionspädagogik, des Religionsunterrichts und wohl auch der Kirche hängen dürfte.

"Interne" theologische Klärung plus Interesse an kirchenpolitischen Strukturen plus Wendung zu den Menschen ergibt noch keine überzeugende christliche Bildung, die nicht von anderen Fächern ersetzbar wäre - auch wenn Nipkow den Vf. wegen dieser bereits andernorts geäußerten Kritik angreift (und ihm fälschlich "Unbehagen" an der Kirche vorwirft, 233 ff.). "Bildungsmitverantwortung" benennt eine Unverzichtbarkeit, kann eine Begründung religionspädagogischer Bildungsarbeit aber nicht leisten.

Die Klassiker, denen "harmonische" Weltsicht und die Idee einer "Vermittlung von Kulturgütern" unterstellt wird (59), haben Bildung konsequent als persönliche Entfaltung verstanden, und zwar gegen jede Einmischung durch Staat, Institution und Kultur, und sie hatten dafür ihre hellsichtigen Gründe. Sie sind für ihre bildungsbürgerliche Perversion nicht zu "korrigieren" - wer käme angesichts der Inquisition auf die Idee, das Evangelium umzuschreiben?

Angesichts eines relativistischen Bewusstseins ist mit Distanzierungsmechanismen zu rechnen. Gefragt ist Expertenwissen. Überzeugen dürften darum (kirchlich wie religionspädagogisch) eher religiöse Bildungs-Kompetenzen, die von anderen nicht ebenso oder gar besser geleistet werden können und die nicht denkbar sind ohne das solide Angebot und die Anbahnung von religiöser Wahrnehmung und Erfahrung sowie deren symbolische Deutung und Darstellung im christlichen Symbolkontext. Ein Ausweichen auf billige religiöse Erlebnisse ist da nicht gemeint und der Diskussion nicht wert.