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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1363–1365

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Arbeitsbuch.

Verlag:

Tübingen: Francke 2000. XIV, 407 S. m. Abb. gr.8 = Mainzer hymnologische Studien, 1. Kart. Euro 37,50. ISBN 3-7720-2911-6.

Rezensent:

Britta Martini

Mit diesem hymnologischen Arbeitsbuch gibt es nun auch für die Kirchenliedforschung und für die Gesangbuch- und die Gemeindegesangforschung einen Quellenband - analog zu den Quellensammlungen zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes (Hrsg: Joachim Beckmann) bzw. zum evangelischen Gottesdienst (Hrsg: Wolfgang Herbst). Es ist erfreulich und praktisch, dass man bisher schwer zugängliche Texte wie Gesangbuchvorreden, altkirchliche Meinungsäußerungen zum Frauengesang im Gottesdienst sowie Äußerungen englischer, niederländischer und skandinavischer Melodisten und Dichterinnen in einem Buch beieinander hat. Und es mag der einen oder dem anderen hymnologisch Interessierten zum Verständnis der Materie hilfreich sein, dass die ausgewählten Quellentexte zum Teil recht ausführlich kommentiert werden.

Der Herausgeber des Bandes, der Heidelberger Theologieprofessor Christian Möller, konnte acht weitere Autoren, Theologen und Hochschullehrer, zur Mitarbeit gewinnen; zwei der Autoren, Ansgar Franz und Franz Karl Praßl, gehören der römisch-katholischen Konfession an. In acht Kapiteln werden Geschichte und Entwicklung von Kirchenliedern, Gesangbüchern und Gemeindegesang anhand von ausgewählten Quellentexten dargestellt und kommentiert. Die Einteilung in Kapitel folgt einem chronologischen Prinzip; nach den Eingangskapiteln "Die alte Kirche" (Ansgar Franz) und "Das Mittelalter" (Franz Karl Praßl) widmen sich die nächsten fünf Kapitel den einzelnen Jahrhunderten, angefangen beim 16. Jh., endend beim 20. Jh. Das Schlusskapitel berichtet aus "Liedtraditionen der fremdsprachigen Ökumene" (Jürgen Henkys) und steht mit dieser Perspektive quer zum linearen Ansatz einer Einteilung der Kirchenlied- und Gesangbuchgeschichte in Jahrhunderte.

Alle Kapitel beginnen mit einer Einleitung, dann folgen Quellentexte zu Themen, Formen, Personen, Gruppierungen und Zentren, die Gesang und Lieder der christlichen Gemeinde im Lauf der Jahrhunderte beeinflusst haben. Trotz dieser allen Kapiteln gemeinsamen Struktur unterscheiden sich die einzelnen Kapitel auf Grund ihrer verschiedenen Autoren naturgemäß in mancher Hinsicht voneinander. Nicht alle Einleitungen werden zu einer theoretischen Reflexion über Untersuchungsfragen und -ziele genutzt. Während die Autoren des Kapitels zum 20. Jh. (Heinrich Riehm in Verbindung mit Peter Bubmann und Holger Müller) verschiedene mögliche Perspektiven und Methoden zur Darstellung ihres Jahrhunderts diskutieren, bevor sie sich für eine chronologische Vorgehensweise entscheiden, beschränkt sich Christian Möller (16. Jh.) auf einen konventionellen lutherzentrierten Blickwinkel. Neben der wohltuend nüchtern-wissenschaftlichen Diskussion des Quellenbefundes und der Literatur zu einzelnen Epochen und Erscheinungsweisen christlichen Singens (so bei Franz und Praßl) finden sich bewertende Einführungstexte und Quellenkommentare, in denen Perspektiven und Schlussfolgerungen der Quellenautoren zum Teil affirmativ übernommen und als objektive Darstellung von Sachverhalten vorgestellt werden. Wenn z. B. Martin Rößler, Autor der Kapitel über das 17. und das 18. Jh., die Ziele der Sprachgesellschaft Palmenorden mit den Worten "Reinigung der deutschen Sprache von allem modischen Fremdwesen" (129) beschreibt, bleibt offen, ob es sich hier um ein nicht kenntlich gemachtes Zitat oder um die distanzlose Wiedergabe der Gedanken von 1617 handelt.

Auch in anderen Kapiteln des hymnologischen Arbeitsbuches wird auf die Untersuchung des Erkenntniswertes von Quellen allzu unkritisch verzichtet, so z. B. besonders störend im Kapitel über das 20. Jh. Historische Quellen entstanden oft in der Absicht, konkrete Ereignisse und Vorgänge in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen; Primärquellen sind - ohne dass dies ihren Wert schmälert - häufig tendenziös und selektiv. Sie zeigen eben nicht immer, wie sich etwas objektiv zugetragen hat, sondern sie berichten subjektiv, zuweilen aus einer sehr nahen Perspektive. Nicht akzeptabel ist es also, dass ein Bericht von Walter Blankenburg mit dem Titel "Was war die Singbewegung?" als einzige Quelle ausgewählt wurde, um die Singbewegung abschließend und zusammenfassend zu charakterisieren. Unter der nicht als Zitat kenntlich gemachten Kapitelüberschrift Was war die Singbewegung wird Blankenburgs "sehr persönlich[e]" und "aus eigener Erfahrung" gewonnene Beschreibung, betitelt: "Was war die Singbewegung?", abgedruckt (297). Indem Kapitelüberschrift und Aufsatztitel identisch sind, erhält die subjektive Schilderung quasi objektiven Charakter, zumal keine weitere Quelle folgt. Hier trifft zu, was Cornelia Kück in ihrer soeben erschienenen Untersuchung zum Kirchenlied im Nationalsozialismus schreibt, dass nämlich "die geschichtlichen Akteure zugleich die Historiographen ihrer eigenen Tätigkeit sind" bzw. dass ihnen bis heute kritiklos dieses Recht zugebilligt wird. Um nicht falsch verstanden zu werden: Als Quelle ist Blankenburgs Text hochinteressant, jedoch nicht wegen der Antwort auf die Frage danach, was die Singbewegung war, sondern wegen der hier dokumentierten Sicht eines begeisterten Insiders, einer Sicht, die er auch 1973, im Entstehungsjahr seines Textes, beibehalten hat. Ein Kapitel mit der Überschrift Was war die Singbewegung müsste mindestens einen weiteren, von einem anderen Autor verfassten Quellentext aufweisen.

Auch die Präsentation des Stählin-Textes von 1927: "Die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang" (276), ist frei von jeglicher Quellenkritik. Quellenkritik fragt u. a. nach bewussten oder unbewussten "politischen oder ideologischen Zwecksetzungen und Nutzenkalküle[n] des Urhebers der Quelle, die in seine Darstellung eingehen" (Matthias Kuchenbrod), und sie macht eine vergleichende Kontrolle mehrerer Quellen untereinander erforderlich. Im vorliegenden Fall zeigt Stählins Text weniger, wie im Kommentar behauptet wird, die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang, sie zeigt aber deutlich Stählins Interesse an einem Bedeutungszuwachs der Singbewegung für kirchliche Kreise.

Die Singbewegung wird ausschließlich mit Texten ihrer Anhänger dokumentiert - dabei ist Blankenburgs "Was war die Singbewegung?" auch als Antwort auf (Adornos) Kritik entstanden; die entsprechenden einleitenden Sätze aus Blankenburgs Rückschau sind im Quellenband jedoch nicht abgedruckt. Texte von außerhalb dieser Bewegung stehenden kritischen Beobachtern fehlen. Schon 1936 veröffentlichte Theodor W. Adorno in der Wiener Musikzeitschrift Dreiundzwanzig einen kritischen Text zur Singbewegung. Diesen Text sucht man vergeblich, ebenso einen Verweis auf die Tagung, die unter dem Thema "Ende der Singbewegung?" 1958 in Loccum stattfand (einer der Teilnehmer war Th. W. Adorno); es fehlen einschlägige Literaturangaben wie Adornos Aufsätze "Kritik des Musikanten" und "Zur Musikpädagogik" (beide in: Dissonanzen, Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956) oder Johannes Hodek: "Musikalisch-pädagogische Bewegung zwischen Demokratie und Faschismus" (Weinheim und Basel 1977). - Merkwürdig mutet auch der kurze Einschub aus einem Vortrag Dietrich Bonhoeffers an, der im vorliegenden Kontext wohl zur Unterstützung der Ideale der Singbewegung dienen soll (290). Die Auswahl dieser wenigen Zeilen aus Bonhoeffers nachgelassenen Texten wirkt tendenziös: Wo bleibt der Verweis auf Bonhoeffers Dissens mit Stählin, wo der Bonhoeffer, der gregorianischen Gesang nur denen zubilligt, die auch für die Juden schreien?

In vieler Hinsicht verharrt der hymnologische Quellenband bei überholten Sichtweisen; das wird nicht nur durch die Auswahl der Quellen, sondern auch durch die Art ihrer Kommentierung deutlich. Noch immer gilt hier die Aufklärung als Anbruch musikalisch-liturgischen Verfalls. Da-bei hatte Wolfgang Herbst 1992 mit seinem Quellenband zum Evangelischen Gottesdienst im Hinblick auf das 18. Jh. eine Akzentverschiebung bewirkt, indem er auf die in der Aufklärungszeit entstehende Kreativität einer "liturgischen Aufbruchstimmung" verwies. Im Kapitel zum 19. Jh. (Ulrich Wüstenberg) werden die Begriffe Verfall und hymnologische Not wenigstens in der Einleitung in Anführungszeichen gesetzt (214).

Vielleicht gerät meine Kritik deswegen etwas heftig, weil ich von einem längst überfälligen und deshalb sehr begrüßenswerten hymnologischen Quellenband auch neue Akzente in der hymnologischen Forschung, die Diskussion einschlägiger Literatur (nicht ihre bloße Reproduktion) und eine größere Berücksichtigung quellenkritischer Methoden erwartet habe. Neu und wichtig im vorliegenden Quellenband ist die Öffnung für die konfessionelle sowie für die fremdsprachige Ökumene, hilfreich für hymnologische Studien sind die Faksimile-Abbildungen nicht nur der Titelkupfer, sondern auch der Inhaltsverzeichnisse und einzelner Lieder aus vielen Gesangbüchern, sehr praktisch ist Riehms Übersicht über die Erstausgaben des Evangelischen Gesangbuchs 1993-1996 und ein Gewinn bleibt die Versammlung unterschiedlichster Quellentexte in einem Band. Umso bedauerlicher ist der überwiegend konventionelle Ansatz der Auswahl und Kommentierung von Quellen und Lehrstoff.