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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1360 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herzog, Markwart, u. Norbert Fischer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

B>Totenfürsorge- Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination. M. Beiträgen v. H. L. Cox, N. Fischer, K. Gernig, H.-P. Hasenfratz, M. Herzog, H. Lach, P. Lange-Berndt, K. Püschel, I. Saake, K. Stukenbrock, J. F. Thiel u. G. Wilbertz.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 232 S. m. Abb. gr.8 = Irseer Dialoge, 9. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-018131-9.

Rezensent:

Klaus Dirschauer

Der Band geht auf die Tagung "Unentbehrlich und verrufen?" der Schwabenakademie Kloster Irsee zurück. Über die Dokumentation für die Akademiegemeinde hinaus weckt der Buchtitel grundsätzliches Interesse, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen.

Markwart Herzog und Norbert Fischer geben einen geschichtlichen Überblick über die Berufsgruppen in der Totenfürsorge, die die räumliche Marginalisierung des Leichnams verantworten. Die ersten vier Beiträge skizzieren den sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergrund derer, die mit den Körpern toter Tiere und Menschen zu tun haben, der Totengräber und der Bestatter. - Hans-Peter Hasenfratz konzentriert sich auf das "Tabu - Unehrlichkeit", auf die Berührungsvermeidung in der Totenfürsorge. Die Verletzung eines Tabus führt zur Tabuisierung des Verletzten, zum Abbruch sozialer Kommunikation.

Heinrich Leonhard Cox wertet empirisches Material des ersten Viertels des 20. Jh.s im Rheinland im Blick auf "Gestalt und Wandel der Nachbarschaftshilfe bei Sterben und Tod" aus; ihn interessiert die Sitte, den Tod anzusagen, die Totenglocke zu läuten, das Grab auszuheben, die Leiche zu waschen, zu bekleiden, den Sarg zu tragen. - Josef Franz Thiel beschreibt die traditionelle Totenfürsorge eines Bantuvolkes im Kongo: "Die Trauerarbeit der Bayansi erschöpft sich nicht in Totenklage und Begräbnis, sie geht tiefer und reicht zeitlich über das Grab hinaus." - Irmhild Saake richtet ihren soziologischen Blick auf die Trauernden und beklagt das "Verschwinden der Leiche" durch die entsprechenden Berufsgruppen. Sie definiert den sinnlosen, den geschwätzigen, den sichtbaren Tod.

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit exemplarischen Berufsgruppen in der Totenfürsorge. Gisela Wilpertz nennt ihren Beitrag "Der Abdecker - oder: Die Magie des toten Körpers" und zeigt die Herkunft, Alltags- und Lebenswelt dieses städtischen Berufes auf, der seit dem 14. Jh. Selbstmörder, verstorbene Gefangene und Hingerichtete zu verscharren oder in die Anatomie zu transportieren hatte. - Karin Stukenbrock geht es im "Theatrum anatomikum" zunächst um die "Körperwelten" Gunther von Hagens, dann um die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Anatomen (Präparationen, Publikationen, Umgang mit Leichen) im 18. Jh. - Für Klaus Püschel und Holger Lach gilt der Satz "Mortui vivos docent". Sie beschäftigen sich mit dem Berufsbild, Arbeitsfeld und Ethos des Rechtsmediziners.

Zwei Vorträge thematisieren schließlich die Fragestellung in Literatur und Kunst. Kerstin Gernig überschreibt ihren Beitrag: "Alles, was ich habe, / Dank' ich Spaten dir!". Ihre Spurensuche des Totengräber-Gedankens in Literatur und Dichtung zeitigt die Erkenntnis: "Die Angst vor der Profanisierung ist der Ästhetik des Schreckens gewichen, die Jenseitsorientierung im Kontext der Leib-Seele-Problematik hat sich zu einer Diesseitsorientierung gewendet. In dem Maße, in dem die spirituelle Dimension des Todes zurücktritt, bekommen die Berufsgruppen in der Totenfürsorge ein eigenes, dem Diesseits angehöriges Forum."

Petra Lange-Berndts Artikel "Totengräber - Anatome - Präparatoren" konzentriert sich auf die Werke des Pop Art-Künstlers Claes Oldenburg und seine Arbeit mit Totengräbern, auf Kiki Smith und John Isaak, die die idealisierten Körperentwürfe der historischen Wachsplastik in Frage stellen, und auf Damien Hirst, der mit der Pose des Kopfschlächters und Präparators provoziert.

Abgesehen von dem jeweiligen inhaltlichen Ergebnis und Umfang lassen die Aufsätze einen unterschiedlichen Stellenwert erkennen: Der von Heinrich L. Cox geschilderte Sachverhalt liegt heute bereits differenzierter zu Tage. Josef Franz Thiels Analyse der Totenfürsorge eines Bantuvolkes erfordert eine breitere religionsgeschichtliche Diskussion. Dass der Aufsatz von Gisela Wilpertz ungekürzt übernommen worden ist und alle Arbeiten der rote Faden des Unehrlichkeitsmakels in der Totenfürsorge durchzieht, mag am Charakter der Tagungsdokumentation liegen. Die allen Beiträgen eigene Intention, aufklären zu wollen, ist begrüßenswert.

Kerstin Gernigs ausgezeichnete Literaturanalyse ergänzt den germanistischen Forschungsstand wesentlich. Lediglich der bibeltheologische Eingang bedarf einer konkordanten Erweiterung wegen des neutestamentlichen Zeugnisses österlichen Glaubens.

Meine Kritik an diesem Werk bezieht sich auf das Berufsbild des Bestatters, der zwar zu den Berufsgruppen der Totenfürsorge gezählt und immer wieder erwähnt wird, jedoch eines Einzelbeitrages nicht für würdig befunden worden ist.