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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1357–1360

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt-Lauber, H.-Ch. , M. Meyer-Blanck u. K.-H. Bieritz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche. 3., vollständig neu bearb. u. ergänzte Aufl.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2003. 990 S. gr.8. Lw. Euro 94,00. ISBN 3-525-57210-7.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Mit dem Erscheinen der 3. Auflage des Handbuchs der Liturgik wird der etwa Anfang der 90er Jahre neu eröffnete Reigen liturgiewissenschaftlicher Arbeiten nicht nur erweitert, sondern er erhält auch insgesamt einen neuen Auftritt: Es ist den Herausgebern und Autoren gelungen, in diesem Werk die Entwicklungen der letzten 15 Jahre aufzunehmen und sie in einzelnen Themen und Schwerpunkten der Theorie und Praxis liturgischen Handelns zusammenzuführen. Der für diese Auflage neu dazugewonnene Herausgeber, der Bonner Praktische Theologe Michael Meyer-Blanck, hat an vielen Stellen seine Handschrift hinterlassen und wie es scheint nicht unerheblich sowohl zur Umstrukturierung des Buches als auch zur Umprofilierung einzelner Artikel beigetragen. Peter Cornehl hat in einem umfassenden Buchbericht (ThLZ 121 [1996], 224-240) den Inhalt der 1. Auflage dargestellt und diskutiert, so dass ich mich an dieser Stelle auf eine Kommentierung der in der 3. Auflage vorgenommenen Veränderungen sowie auf ein paar Rückfragen konzentrieren kann.

Die offenkundigste Neuerung der 3. Auflage ist in einem eigenen Kasualien-Teil zu sehen, der zwischen (2.) "Geschichte und Gestalt des Gottesdienstes" und (4.) "Die Gestaltung des Gottesdienstes" als dritter Hauptteil eingeschoben wurde. Der erste Teil ist weiterhin den "Grundlagen des christlichen Gottesdienstes" gewidmet. Der erwähnte neue dritte Teil enthält zwar gegenüber den vorausgegangenen Auflagen kaum neue Informationen, bietet sie aber in einer weitaus schlüssigeren Struktur, indem die früher verstreuten Aspekte einer historischen und praktischen Betrachtungsweise der Kasualien neu komponiert werden. So erscheinen nun die Artikel der meisten Beiträge unter doppelter Autorenschaft, wobei die früheren Texte nicht einfach addiert, sondern umsichtig aufeinander bezogen wurden. Für den Artikel "Konfirmation" (Michael Meyer-Blanck/ Karl Dienst) bedeutet das nach dem Autorenwechsel zudem einen Qualitätssprung: Hier wird nicht nur das gesamte Spektrum der west- und ostdeutschen Debatte - einschließlich Jugendweihe - in den Blick genommen; auch die Erfahrungen der Ökumene (USA, Lutherischer Weltbund) kommen hier in gebührendem Maße zur Geltung. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Kasualien und der Herausforderung ihrer - unter den spezifischen sozioreligiösen Bedingungen der Gegenwart - angemessenen Gestaltung ist der einleitende, von Christian Grethlein verfasste Beitrag zu den empirischen Aspekten der Kasualien von besonderem Gewicht.

Auch in anderen Teilen des Buches haben die Herausgeber Texte eingefügt bzw. - noch häufiger - durch neue ersetzt. Zu den besonders gelungenen dürften m. E. die Beiträge von Corinna Dahlgrün (Die Planung des Gottesdienstes), Ulrich H. J. Körtner (Gestalten des Wortes), Michael Meyer-Blanck (Liturgische Rollen) und Werner Reich (Beteiligung der Gemeinde) zählen. Auch der von Walther Lührs vorgelegte Artikel "Die Erneuerung des Gottesdienstes - Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe" ist gegenüber dem früher an dieser Stelle abgedruckten Beitrag ein guter, nach Erscheinen des Gottesdienstbuches notwendig gewordener Ersatz. Dass der hervorragende Artikel von Rainer Volp (Kirchenbau und Kirchenraum) durch den Text eines in diesen Fragen weniger ausgewiesenen Kollegen ersetzt wurde, ist kaum überzeugend. Bei allem Verständnis dafür, dass der "Gottesdienst immer im Fluss ist" (aus dem neuen Vorwort der Herausgeber) - so schnell veralten liturgiewissenschaftliche Einsichten, wie Volp sie in seiner "ausgereiften Darstellung ... früherer Arbeiten" (P. Cornehl, a. a. O., 232) geboten hat, denn doch nicht. Ein Handbuch der Liturgik, das über den Tag hinaus von Belang sein will, sollte einen Klassiker dieser Wissenschaft nicht schon wenige Jahre nach seinem Ableben aus dem Inhaltsverzeichnis streichen.

Zwei Beiträge, die den Abschnitt "Zugänge zur Praxis" bereichern, seien besonders erwähnt, da sie als Schlüsseltexte zu zwei im Handbuch bislang vernachlässigten Themen gelten können. Das betrifft zunächst den von Christa Reich verfassten Beitrag zum Kirchenlied: In einer ebenso weit gefächerten wie stringenten Gliederung setzt Reich beim Singen sowie beim Lied als komplexem Klanggeschehen ein, erörtert höchst aufschlussreich den Sitz des Kirchenliedes in Geschichte und Gegenwart, zwischen Kirche und Welt und spannt den Bogen schließlich über die theologischen Horizonte und Erläuterungen zum Gesangbuch bis hin zur Hymnologie. Der andere Beitrag, Das Gebet, stammt aus der Feder von Frieder Schulz. Mit ihm haben die Herausgeber den für dieses Thema wohl kompetentesten Autor gewonnen. Schulz geht - anders als Reich - von geschichtlichen Entwicklungen aus (das Allgemeine Gebet, Kollekten- und Fürbittengebete, Tauf- und Abendmahlsgebete, Kasualgebete), erörtert von dort aus deren Formen und Funktionen und kommt schließlich auf gegenwärtige Entwicklungen (u. a. neue Gebetsformen, inhaltliche Verschiebungen) zu sprechen. Überlegungen zur Wiedergewinnung des Psalmgebets runden diesen informativen und instruktiven Beitrag ab.

Bei aller Entschlossenheit zur Neubearbeitung haben die Herausgeber die Struktur des Handbuchs - von der Einfügung des Kapitels zu den Kasualien abgesehen - nicht grundlegend geändert, so dass zu Recht von einer 3. Auflage gesprochen werden kann. Damit sind freilich auch einige Probleme geblieben, die durch die neuen bzw. neu bearbeiteten Beiträge nicht vollständig wettgemacht werden können. Das betrifft aus meiner Sicht die mangelnde Kohärenz der Beiträge, die bereits in der unverbindlichen, grobmaschigen Gliederung zum Ausdruck kommt. Die Differenzierung z. B. des vierten Teils zur Gestaltung des Gottesdienstes (immerhin mehr als 400 Seiten) in "Gottesdienst in Gesellschaft und Gemeinde", "Zugänge zur Praxis", "Zielgruppen" und "Sonderformen" bietet wenig Orientierung und ließe auch eine ganz andere Zuordnung der einzelnen Beiträge zu. Hier vermisst man eine gewisse Problemorientierung, ein stärkeres Bewusstsein für eine Hierarchie von Grundfragen, abgeleiteten Fragen, Unterthemen usw. Statt dessen werden Themen und Perspektiven eher additiv nebeneinander gestellt, so dass es einerseits zu Überschneidungen kommt; andererseits erscheinen zusammengehörende Aspekte als "gestreut", die in einer zusammenhängenden Darstellung an Plausibilität gewinnen könnten. So wird etwa unter "Sonderformen" vieles untergebracht (Kirchenmusikalischer Gottesdienst, Gottesdienst in Kleinstgemeinden usw.), was von seiner "Problembeschaffenheit" im Zusammenhang der "Sprachformen" oder im Kontext von Gesellschaft und Gemeinde hätte erörtert werden können.

Für inhaltlich ergänzungsfähig halte ich die systematisch-theologische Grundlegung des Handbuchs. Geoffrey Wainwrights in sich ruhender, orthodox anmutender Gottesdienstbegriff vermag dem - auch innerhalb des Protestantismus, d. h. nicht nur in der Ökumene - theologisch facettenreichen Streit um den Gottesdienst kaum gerecht zu werden (vgl. bereits P.Cornehl, a. a. O., 230). K.-H. Bieritz' "Anthropologische Grundlegung" macht zwar einiges wett; eine die Praktische Theologie der letzten 150 Jahre involvierende theologische Auseinandersetzung mit dem Gottesdienst kann und will sie nicht ersetzen. Ebenso wünschte man sich eine nicht nur den Autoren überlassene, sondern auch in den Plan des Handbuchs einbezogene Auseinandersetzung mit den Ansätzen bzw. "Reflexionsperspektiven" der Liturgiewissenschaft selbst.

Möglicherweise überfordern die angesprochenen kritischen Punkte die Möglichkeiten eines "Handbuchs", dessen Herausgeber legitimerweise auf Kooperation und nicht auf Zensur, auf Vielfalt und nicht auf erzwungenen Konsens, auf ein praxisrelevantes Werkbuch und nicht auf eine Sammlung von Kurzfassungen liturgiewissenschaftlicher Dissertationen bedacht sind. Im Übrigen wird das Buch den mit der Überarbeitung verbundenen Erwartungen mehr als gerecht: Es überwindet den in der Liturgiewissenschaft und von Vertretern der kirchlichen Praxis immer wieder beklagten Hiatus zwischen historischen Erörterungen und gegenwärtigen Herausforderungen zur Gestaltung des Gottesdienstes mit Bravour. Von daher gehört das Buch in die Hände eines jeden, der im Interesse der Lebensdienlichkeit, Lebendigkeit und theologischen Integrität des Gottesdienstes von dessen Entwicklungsgeschichte etwas erwartet; und auch denjenigen sei es von Herzen empfohlen, die in liturgiewissenschaftlichem Eifer für die Ursprünge christlichen Feierns vergessen haben, vor welchem Hintergrund wir uns heute Gestalt und Gehalt des Gottesdienstes vergegenwärtigen müssen. Die dritte Auflage dieses Standardwerkes der Liturgik ist für beide Leser-Typen ein unbedingtes Muss.