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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1355–1357

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hammann, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit. In Zusammenarbeit m. G. Ph. Wolf.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 334 S. m. 10 Abb. gr.8. Kart. Euro 34,90. ISBN 3-525-52191-X.

Rezensent:

Karl-Fritz Daiber

Das Buch ist in seiner ersten Fassung 1994 bei Cerf in Paris unter dem Titel: "L'amour retrouvé" erschienen. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Gerhard Philipp Wolf, der bereits Hammanns Monographie über Martin Bucer (1989) übertragen hatte. Wolfs Rolle geht schon dem Titelblatt zufolge über die des Übersetzers hinaus. H. spricht von "Zusammenarbeit" mit dem Übersetzer, auf den vermutlich die sprachliche Anpassung an deutsche Diskussions- und Interessenlagen zurückzuführen ist.

H. beschreibt seinen Ansatz als "historiographisch". Häufig wird in der Arbeit der Gegenstand, um den es geht, als "Diakonie und Diakonat" beschrieben. Das ergibt sich auch aus dem Untertitel der französischen Ausgabe, der so formuliert: "La diaconie chrétienne et le ministère de diacre". Die Analyse des Diakonenamtes ist historiographisch sicher wesentlich leichter anzugehen als die der Diakonie.

Nicht überraschend ist, dass die Arbeit ohne Definition des Begriffs Diakonie nicht auskommt. H. benutzt den Terminus "für die Gesamtverantwortung der Kirche und für die im Zusammenhang mit der sozialen Unterstützung und den Werken der Nächstenliebe stehenden kirchlichen Aktivitäten" (13).

H. zeigt die Entwicklung von der Urgemeinde bis zur Zeit der Reformation. Die Positionen von Luther, Zwingli, Calvin und Bucer werden ausführlich gewürdigt, zugleich die praktischen Probleme herausgearbeitet, mit denen sich die Umsetzung theologischer Konzepte konfrontiert sah. Informativ sind auch die Teile über das christliche Altertum und das Mittelalter. H. verweist etwa auf die Bedeutung der Städte "als Schauplatz karitativer Diakonie" (45-51) in der Zeit des christlichen Altertums. Aus dem Teil über das Mittelalter ist Kapitel VII hervorzuheben: "Von der höfischen Liebe zu den sozialen Diensten im Humanismus" (137-166). Nicht selten werden nichtkirchliche Einflüsse auf die Entwicklung des europäischen und damit christlichen Wohlfahrtswesens in theologischen Darstellungen übergangen.

H. geht es darum, auf die grundlegende ekklesiologische Bedeutung von Diakonie und Diakonat zu verweisen. Dies begründet er von der Anfangsgeschichte des Christentums her. Verglichen mit der historischen Ausgangslage muss dann die Geschichte des Diakonats als eines kirchlichen, eines geweihten Amtes als Verfallsgeschichte beschrieben werden. Trotz aller theologischen Neuansätze konnte daran auch die Reformation nichts ändern. Das hängt damit zusammen, und dies zeigt H. eindrucksvoll, dass es früh zu Konkurrenzen zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit in Sachen Sozialwesen gekommen ist. Die Auswanderung der Armenpflege in die Verantwortung der weltlichen Obrigkeiten habe die Entwicklung einer kirchlichen Diakonie mit verhindert. Ob man in diesem Zusammenhang bereits von "Säkularisierung" sprechen kann, erscheint mir allerdings fraglich.

H. bietet viele Einzelheiten zur historischen Entwicklung kirchlichen diakonischen Handelns. Ohne Frage ist der Ansatz produktiv, die Diakoniegeschichte als Geschichte des Diakonenamtes zu schreiben. Und zwar deshalb, weil man sich auf terminologischer Ebene auf historische Kontinuität stützen kann. Trotz aller Brüche und Veränderungen bleibt das Diakonenamt durch die Jahrhunderte erhalten, gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit verändert und vergessen, dann aber wieder erneuerbar, wie es sich insbesondere im deutschen Protestantismus des 19. Jh.s gezeigt hat. Gerade hier ist ja die Rolle der Frau im Diakonat, die H. für die Zeitphasen, die er untersucht, ausführlich würdigt, bedeutsam geworden.

Keine historische Kontinuität der Terminologie besteht dagegen im Blick auf den Begriff der Diakonie. Er kommt im Neuen Testament zwar in gewichtigen Spuren vor. Er dient aber im Laufe der Kirchengeschichte keinesfalls zur Charakterisierung eines zentralen kirchlichen Handlungsfeldes christlicher "Liebestätigkeit" (Uhlhorn). Die Karriere des Begriffes Diakonie ist eine deutsche protestantische Spezialität, die erst mit der Gründung des Diakonischen Werkes ihren institutionellen Hintergrund gewinnt und damit auch faktisch einflussreich wird und die vor allem durch das Heidelberger Diakoniewissenschaftliche Institut theologisch gestützt und vorangebracht wurde. Gerhard Uhlhorn hat seine Diakoniegeschichte noch als "Geschichte der christlichen Liebestätigkeit" geschrieben (1895). Und die wichtigste Diakoniegeschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jh.s stammt von Martin Gerhardt. Sie ist unter dem Titel "Ein Jahrhundert Innere Mission" 1948 veröffentlicht worden.

Die großen deutschen theologischen Lexika seit dem 19. Jh. und vor der gegenwärtig noch erscheinenden Theologischen Realenzyklopädie, die einen geradezu voluminösen Diakonieartikel aufweist, behandeln "Diakonie allgemein" umso spärlicher, je älter sie sind, am ehesten geht es noch um "männliche Diakonie" und "weibliche Diakonie", also Diakonen- und Diakonissenhäuser.

In der gegenwärtigen internationalen Diskussion wird der Diakoniebegriff außer in Deutschland allenfalls in den Niederlanden und in Skandinavien verwendet, im französischen Protestantismus spärlich. Die institutionalisierte "Diakonie" der katholischen Kirche benutzt für ihre Selbstbenennung den Begriff "Caritas". In den angelsächsischen Ländern kommt der Begriff Diakonie kaum vor. In Nordamerika meint er dieses und jenes, was im Weitesten mit christlichem Dienst identifizierbar ist. Aus diesem Grunde firmiert denn auch das Diakonische Werk der EKD im angelsächsischen Sprachgebiet unter "Christian Social Services". Wenn ich dies so ausführlich referiere, hängt das damit zusammen, dass ich die deutsche Ausgabe von H.s "Diakonie"-Geschichte für ausgesprochen konstruktivistisch halte: Hier wird das christliche Engagement für den Nächsten theologisch unter einem Begriff der Diakonie subsumiert, der in der Kirchengeschichte so gut wie nicht handlungsleitend war. Das Problem ist außerdem, dass es keine ökumenisch und international einheitliche theologische Sprachregelung gibt, sondern dass das christliche Engagement für den Nächsten in vielfältigen Terminologien beschrieben wird oder man sich überhaupt nur auf Teilphänomene sozialen und karitativen Handelns beschränkt. Müsste über diesen Tatbestand nicht reflektiert werden? Hängt er damit zusammen, dass christliches soziales und karitatives Handeln und seine entsprechenden Institutionalisierungen so stark an gesellschaftliche und entsprechend kirchliche Kontexte gebunden sind, dass sich eine einheitliche theologische Terminologie verbietet? Bejaht man diese Frage, wird auch die Darstellung des christlichen Engagements für den Nächsten anders fundiert sein müssen als über ein gegenwärtiges, international gesehen höchst begrenztes, der neueren deutschen Tradition sich verdankendes Diakonieverständnis. Dass die Geschichte des Diakonenamtes in der Tat einen terminologisch einheitlichen Zugang zulässt, der international kommunizierbar ist, habe ich bereits erwähnt. Der Blick auf die Geschichte des Diakonats stellt den eigentlichen Erkenntnisgewinn von H.s Arbeit dar.