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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1353–1355

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lüthi, Kurt

Titel/Untertitel:

Christliche Sexualethik. Traditionen, Optionen, Alternativen.

Verlag:

Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2001. 401 S. gr.8. Lw. Euro 39,80. ISBN 3-205-99322-5.

Rezensent:

Herbert Schlögel

Monographien zur Sexualethik sind im Raum der evangelischen Ethik eher selten. Um so bemerkenswerter ist es, dass der emeritierte Wiener Systematiker Kurt Lüthi sich dieser Aufgabe gestellt hat. Sein umfangreiches Werk hat er in sieben Kapitel gegliedert, die wiederum detailliert unterteilt sind. Nach dem Vorwort tragen die einzelnen Abschnitte die Überschriften: 1. Annäherungen an das Thema (29-59); 2. Die Humanwissenschaftlichen Aspekte (61-132); 3. Zugänge zu einer Theologie und Ethik der Befreiung (Befreiung als kritisches Prinzip) (133-150); 4. Christentum und Sexualität: Zur negativen (antiemanzipatorischen) Wirkungsgeschichte (151-183); 5. Christentum und Sexualität: Zur positiven (emanzipatorischen) Wirkungsgeschichte (185- 224); 6. Interdisziplinäre Studien (225-328); 7. Christentum und Erotik (Sexualität) - Chancen einer Versöhnung (329-394); Namensverzeichnis (395-401).

L. sieht als Aufgabe seiner Sexualethik, "die heute aktuelle Kategorie des Erlebens grundlegend zu berücksichtigen. Es muss damit dargestellt werden, dass auch im Bereich der erotischen Begegnungen heutige Menschen etwas erleben wollen. Auch und gerade hier geht es um die Zielvorstellungen des glücklichen, interessanten, genussreichen und schönen Lebens" (10). Das Sexualverhalten muss in einen umfassenden, menschlichen Horizont gestellt werden, in dem es um die "Ich-Du-Begegnung" geht, "die zunächst von allen Zwängen der Fortpflanzung und damit von einer Wir-Struktur (Mutter-Vater-Kind) absieht" (31). Bei den humanwissenschaftlichen Überlegungen bezieht sich L. wohlwollend kritisch auf Freud, erweitert aber auch sein Spektrum durch die Auffassung anderer. Unter dem Abschnitt "Sexualität im Wandel der Zeit: Kennzeichen unserer Zeit" hält er fest: "Alternativen zu einer traditionell verstandenen Partnerschaft gibt es nur wenige. Allerdings müssen Partnerschaften - und auch Ehen - heute auf bestimmte Situationen elastischer und nicht in einem traditionellen Wertekanon reagieren; Individualisierung, Emotionalisierung, psychische Einfühlung, Aufwertung der Frauenemanzipation, allenfalls eine gewisse Rollenunsicherheit, das alles bedeutet oft Kritik an traditionellen Mustern, muss aber bewältigt werden" (102).

L. sucht die Sexualethik im Anschluss an die lateinamerikanische Befreiungstheologie im Sinne einer Theologie und Ethik der Befreiung zu entwerfen. Unter dem Gesichtspunkt "Befreiung - Autonomie - emanzipatorische Solidarität" charakterisiert er sein Verhältnis zur Tradition und Bibel als dialogisch. "Damit lehne ich es ab, in einem fundamentalistischen Sinn, Aussagen der Bibel oder einer christlichen Tradition ungeprüft zu übernehmen, ungeprüft auf Probleme der Gegenwart zu beziehen, ungeprüft als Problemlösung, Vorschrift oder Norm zu verstehen ... Das Verstehen eines Textes, die Frage nach seinem Sinn und seiner Bedeutung, ist immer auch ein Entwerfen einer bestimmten Sicht" (149).

Zur negativen (antiemanzipatorischen) Wirkungsgeschichte des Christentums zählt L. u. a. die Auffassung des Paulus, Ehe und Ehelosigkeit als gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. In diesem Zusammenhang wird die gesamte Entwicklung der Kirchengeschichte seit Augustinus bis zur Reformationszeit aufgeführt, wozu auch die Herausbildung des Zölibats für Priester gehört. Zur positiven (emanzipatorischen) Wirkungsgeschichte wird u. a. als "Feier der sinnlichen Liebe" das "Hohe Lied" der Bibel angeführt, und "dass in den Jesusgeschichten der jüdische Schöpfungsglaube wirksam ist". Ihm gegenüber "sind gesetzliche Anordnungen und Überlegungen sekundär" (202). Weiter werden in der positiven Reihe genannt: die mittelalterliche Mystik, Luther und Calvin, Schleiermacher als Verteidiger der Lucinde.

In den interdisziplinären Studien setzt L. sich mit den alternativen Partnerschaften auseinander. Ausgehend von der Überzeugung, dass "zeitlos gültige Ehe- und Familienformen ... dem Wandel zur Neuzeit nicht gerecht" (225) werden, charakterisiert er verschiedene Formen alternativer Partnerschaften wie "Ehe ohne Trauschein", "Partnerschaft auf Zeit" und "offene Ehe". Er fordert, die theologische Argumentation im Blick auf die Schwulen und Lesben nicht "fundamentalistisch-biblizistisch" zu führen (258). Das erkenntnisleitende Interesse, um Christentum und Erotik wieder zu versöhnen, ist die Suche nach biblischen Motiven und Motiven christlicher Traditionen, "die nicht sexualpessimistisch orientiert sind, sondern es geht ... um Beiträge von Bibel und Christentum zu einer positiv zu qualifizierenden erotischen Kultur" (329). Dabei ist zu berücksichtigen, dass "Aussagen zu den Lebensformen Jesu und zur Einstellung Jesu zu diesen Lebensformen ... nur indirekt zu finden (sind); das gilt auch für das Thema Sexualität und Erotik" (351). Für sein Ethikverständnis bezieht sich L. auf Schleiermacher, wenn er feststellt: Ethik soll "nicht fordern, sondern verstehen" (371). L. schließt sein Buch mit Abschnitten zur Ethik der Befreiung unter den Aspekten "Liebes- und Situationsethik als Beispiel", "Personenzentrierte Argumente" und "Gesellschaftliche Argumente" (das "Prinzip Solidarität").

Einige kritische Punkte müssen aus meiner Sicht - verständlicherweise nur kurz - angesprochen werden Der Erste bezieht sich auf den Umgang mit biblischen Texten. L. meint, nichts Sicheres über die Lebensform Jesu sagen zu können und von daher auch nichts über seine ethische Bewertung von Sexualität. Man muss aber biblisch sehr zentrale Teile wie den zweifach überlieferten Dekalog und die Bergpredigt mit ihrem eindeutigen Verbot des Ehebruchs ignorieren, um zu einem solchen Urteil zu kommen. Ebenso muss man die Auffassung des Paulus "Ehe und Eheverzicht stehen gleichberechtigt nebeneinander" (160) unter der negativen (antiemanzipatorischen) Wirkungsgeschichte subsumieren. Ähnliches ist zum Thema "Homosexualität" zu sagen. In der exegetischen Diskussion wird, soweit ich sehe, keineswegs "fundamentalistisch-biblizistisch" argumentiert. Nach wie vor gut begründet scheint mir das Urteil von F.-L. Hossfeld, der nach eingehender Untersuchung der Schriftstellen feststellt: "Das durchgehende - prinzipiell wandelbare - Verständnis von Geschlechterrollen und die intendierte Trennung der Geschlechterrollen zeigen ein Interesse an der psychophysischen Verschiedenheit der Geschlechter im Sinne einer normativen Normalität der Heterosexualität. Das gilt unbeschadet des Phänomens der unabänderlichen homosexuellen Orientierung oder Prägung, von der die gesamte Schrift noch keine Kenntnis besaß" (Welt und Umwelt der Bibel Nr. 21 [2001], 51).

Mir ist aus dem Duktus der Ausführungen nicht deutlich geworden, für welche Lebensformen aus Sicht der christlichen Sexualethik zu optieren sei. Allenfalls könnte die Schlussbemerkung unter dem Abschnitt "Jahwe als Liebhaber - Jahwe als Frau" einen Hinweis geben, in der von der Treue Jahwes zu seinem Volk gesprochen wird und von der Monogamie in Abgrenzung zu einer gesellschaftlich vorhandenen Polygamie (vgl. 350). Dieser Ansatz ist aber (leider) nicht näher systematisch entfaltet worden.

Im Text wird darauf hingewiesen, dass Normen aus der Vergangenheit nicht als "unmittelbare" Problemlösung für heute dienen können, und "abzulehnende ethische Haltungen nicht mehr auf Grund fremder Normen, sondern aus inneren Gründen (entstehen)" (371). Die Schwierigkeit scheint mir gerade an dieser Stelle zu beginnen: Ist das biblisch gut begründete Verbot des Ehebruchs eine fremde Norm, und kann nicht eine zuerst einmal den eigenen Gefühlen widerstreitende, aber dennoch wohl gut begründete Norm durch Einübung zu einem "inneren Grund" werden? Und sind dazu Haltungen - wie die Treue - nicht unerlässlich? Unter dieser Voraussetzung wäre es angebracht gewesen, das, was Treue ist, näher auszuführen und nicht nur die Neudefinition der Treue im Zusammenhang der "offenen Ehe" zu entfalten.

Mir ist bewusst, dass mit diesen wenigen Hinweisen nicht das gesamte, materialreiche und im Übrigen gut lesbare Buch gewürdigt worden ist. (Als leserunfreundlich habe ich die Anmerkungen am Ende eines jeden Unterabschnittes empfunden.) Informativ sind besonders die Passagen, die sich mit den Veränderungen in den 60er und 70er Jahren des letzten Jh.s beschäftigen. Andererseits konnte ich meine Bedenken gegen einige Optionen dieser "Christlichen Sexualethik" nicht unerwähnt lassen.