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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1351–1353

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Knauer, Peter

Titel/Untertitel:

Handlungsnetze. Über das Grundprinzip der Ethik.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Books on Demand 2002. 196 S. 8. Kart. Euro 12,00. ISBN 3-8311-0513-8.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Peter Knauer entfaltet in diesem Buch als "Grundprinzip der Ethik" einen universalisierten Entsprechungskalkül zwischen Handlungsweise und Handlungsziel: Handle nur mit entsprechendem Grund. Bei dieser Forderung "geht es letztlich darum, einen Wert (bonum) so anzustreben, dass man ihm tatsächlich gerecht wird (bene), anstatt ihn auf die Dauer und im Ganzen zu untergraben" (59). Ihre Erfüllung setzt also weder die Beurteilung fremder Intentionen voraus noch eine Güterabwägung, sondern lediglich die Beachtung eines auf die Handlung selbst bezogenen Kohärenzkriteriums. Es verpflichtet den Handelnden allerdings auf intersubjektive Vernunft und auf Wirklichkeit und impliziert "den Weitblick in der Sachdimension (was wird bewirkt?), den Weitblick in der Sozialdimension (wen trifft es?) und den Weitblick in der Zeitdimension (welche Inkubationszeit haben kontraproduktive Wirkungen?)" (54).

Hier kommen die im Titel genannten "Handlungsnetze" in den Blick. Den Umschlag schmückt das Bild unseres blauen Planeten. Man könnte auch von einem ökologischen Prinzip der Ethik sprechen. K. selbst erläutert das ethisch Verwerfliche durch eine "Struktur des Raubbaus" und verweist gelegentlich auf Rückkoppelungen und Kreisläufe von Handlungen. Häufiger geht es jedoch um einfache Handlungsverknüpfungen und um das traditionelle Prinzip der Doppelwirkung, aus der jenes neue Grundprinzip abgeleitet ist.

Das Buch wird mit einer konzentrierten Einführung in "Grundlagenprobleme traditioneller Ethik" eröffnet, die - wie auch die späteren Problemformulierungen - weitgehend besonders der moraltheologischen Schultradition verpflichtet bleiben. K. entfaltet auch sein Grundprinzip als "Neuinterpretation des (traditionellen) Prinzips der Doppelwirkung", indem er auf Thomas zurückgeht (Summa theologica II-II q64 a7 ad c; vgl. bei K. 34 ff.). Es geht dabei aber eben nicht um "Randprobleme" (ob in Extremsituationen das Leben der Mutter um den Preis eines Aborts gerettet werden darf), auch nicht um die Möglichkeit einer "indirekten" Wirkung (28 f.). "Die Fragestellung des Prinzips der Doppelwirkung lautet, unter welchen Bedingungen die Zulassung oder Verursachung eines Verlustes oder Schadens ethisch zulässig sein kann." (37) Da aber Handeln immer etwas kostet, bezeichnet das Prinzip des entsprechenden Grundes genau "die Grenze zwischen allen verantwortbaren und nicht verantwortbaren Handlungen." (38)

K. entfaltet dies "hermeneutisch" (und traditionskritisch) im traditionellen Kontext und dann in scharfsinnigen und knappen Vergleichen mit modernen Ethikauffassungen. Das Buch ist durchsetzt mit im Einzelnen immer lehrreichen Handlungsanalysen, die in einem eigenen Beispielteil thematisch werden. Di-daktisch hilfreich sind sprachanalytische Erläuterungen und Begriffsklärungen, Tabellen und schließlich eine zusammenfassende Thesenreihe.

K. charakterisiert seine Ethik ausdrücklich als "rein philosophisch" (141). Das impliziert, dass sie weder in ihrem Verpflichtungscharakter noch in ihren Inhalten auf Religion angewiesen ist und dass umgekehrt der Glaube keine zusätzlichen Verpflichtungen mit sich bringt, die von der Kirche bzw. dem Lehramt eingefordert werden könnten. Der Glaube befreit uns vielmehr von der Angst um uns selbst. Daher ist "Luthers Parole, dass nur der Glaube rechtfertigt, ... eine Kampfparole für gute Werke" (142). "Natur" hatte K. zuvor als das Objektive in Entsprechungsrelationen bestimmt, hier erscheint sie als sittlicher Anspruch, jenen - wohl gefangen in Handlungsnetzen - auch je selbst gerecht zu werden. Demgegenüber bringt die Gnade die sittliche Erfüllung mit sich; K. bestimmt sie reformatorisch als Botschaft des Evangeliums: "Wo ihre Einladung als wirkliche Einladung erkannt wird, wird ihr bereits Folge geleistet ... Es ist streng genommen gar nicht möglich, Gottes Gnade wissentlich abzulehnen." (145)

Dass in alt- und neutestamentlichen Geschichten "Lösungen nicht aus einer Offenbarung gewonnen werden, sondern aus menschlicher Erfahrung" (148 ff.), erläutert K. freilich in engführenden Interpretationen und unter der unglücklichen Überschrift "Nichtreligiöse Ethik in der Bibel". Und merkwürdigerweise begegnet erst im Zusammenhang dieser theologischen Zuordnung ein Kontingenzbewusstsein, das man sowohl in der gesamten ethischen Entfaltung zuvor als auch in der Explikation des Glaubensvollzuges vermisst. In beiden Anwendungsfällen wirkt das Rationalitätsprinzip ungebremst, als sei es durch die Neuzeitwende nicht in seinen Voraussetzungen in Frage gestellt worden. Glaubend aber kann es sich auch nach K. überhaupt erst betätigen, wenn ihm das Evangelium von außen zugesprochen wurde. Der Jesuitenpater hatte dies in seiner Dissertation (Verantwortung des Glaubens - Ein Gespräch mit Gerhard Ebeling aus katholischer Sicht, FThSt 3, Frankfurt 1969) und dann als akademischer Lehrer in seiner "ökumenischen Fundamentaltheologie" näher entfaltet (Der Glaube kommt vom Hören, Freiburg-Basel-Wien 1991). Nach seiner Pensionierung wirkte er am Office Catholique d'Information et d'Initiatives pour l'Europe (OCIPE) in Brüssel.

Im gegenwärtigen Kontext - in dem übrigens schon Schopenhauer das "neminem lade" zum Ethikprinzip machte - ist zu bedenken, dass erst der Einschnitt jener Kontingenz die mittelalterlichen Rationalitäts- wie Autoritätsnetze zerriss und den Freiheitsraum eröffnete, in dem sich eine geschichtliche und eine naturwissenschaftliche Vernunft je für sich entfalten konnten. Inzwischen wirkt sie in Kalkülen, die - einen neuen Epocheneinschnitt markierend - diese Abgrenzung überwinden und dennoch jener Kontingenz dauerhaft verpflichtet bleiben. Sie arbeitet sich ab am Wechsel von Gestalt und Struktur, Prozess und Beobachtung oder Bewertung. K. wird dem auf eine Weise gerecht, die "zwischen den Zeiten" oszilliert.