Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1349–1351

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Göllner, Manfred

Titel/Untertitel:

Die Bildungs- und Lehraufgaben des Ethikunterrichts in Europa im Vergleich.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. 305 S. 8 = Philosophie in der Schule, 2. Kart. Euro 25,90. ISBN 3-8258-5784-0.

Rezensent:

Gottfried Adam

Die Fragen des Ethikunterrichtes und der ethischen Erziehung in der Schule stehen seit geraumer Zeit auf der Tagesordnung. Es sind ganz unterschiedliche Motive, die einzelne Personen und Vertreter von Institutionen veranlassen, in dieser Sache aktiv zu werden. Die Arbeit untersucht anhand der offiziellen Lehrpläne, in welcher Weise in ganz Europa die hier anstehenden Fragen angegangen werden. Dokumentiert werden alle Lehrpläne, in denen Ethik als eigener Unterrichtsgegenstand konzipiert ist. Dabei richtet sich das Augenmerk des Vf.s in besonderem Maße auf die österreichische Situation, wo über Zukunftsperspektiven des Ethikunterrichtes gegenwärtig noch nichts entschieden ist. Auf Grund des gewählten Auswahlkriteriums fallen die Lehrpläne jener Länder, in denen Ethikunterricht Teil einer Fächergruppe ist (Frankreich, Italien und Spanien) heraus. Das ist gerechtfertigt, weil hierzu bereits eine Untersuchung von B. Brüning (Ethikunterricht in Europa, 1999) vorliegt.

In die vergleichende Analyse werden zehn österreichische, 16 deutsche und 40 weitere nationale Konzepte für das Fach Ethik einbezogen. Der Bogen spannt sich von Portugal bis Litauen und von Albanien bis Finnland. Hinzugenommen wurden auch Lehrpläne aus Tschechien und Slowenien, weil in diesen Staaten das Fach "Staatsbürgerliche Erziehung" bzw. "Staatsbürgerkunde und Ethik" ein selbständiger Unterrichtsgegenstand und die Breite der moralischen und ethischen Fragestellungen signifikant ist.

Ein einheitliches Raster bei der Durchführung der Analyse ermöglicht es dem Vf., aussagekräftige Vergleiche durchzuführen. Dabei werden die Begriffe Ziele, Aufgaben, Intentionen und Lehraufgaben synonym verwendet. Ebenso werden die unterschiedlichen Begrifflichkeiten von Lehrplan, Rahmenrichtlinie, Rahmenkonzept, Kerncurriculum u. a durchgängig als "Lehrplan" bezeichnet. Die jeweiligen Formulierungen für die Bildungs- und Lehraufgaben werden im vollen Wortlaut wiedergegeben. Zusätzlich werden die wesentlichen inhaltlichen Bestimmungen in der rechten Spalte der doppelspaltig gesetzten Seite in Fettdruck wiedergegeben. Dadurch ist eine leserfreundliche Darstellungsform zu Stande gekommen.

Gegenstand der Lehrplananalysen sind die gymnasialen Lehrpläne für die Sekundarstufen I und II. Die Berufsoberschulen werden exemplarisch am bayerischen Lehrplan behandelt. Die Berufsschulen werden durch den Lehrplan von Baden-Württemberg berücksichtigt. Die Beruflichen Schulen werden exemplarisch am Beispiel Hessens einbezogen.

Im Anschluss an die Wiedergabe der Bildungs- und Lehraufgaben werden diese selbst analysiert und die Rahmenbedingungen des Unterrichts (gesetzliche Grundlagen und Stellung im Fächerkanon: Ersatzgegenstand, Wahlpflichtfach etc.) herausgearbeitet. Der Vf. ordnet die große Zahl der Lehrpläne schwerpunktmäßig drei Grundkonzeptionen zu: (1) Lebenskundlich-hermeneutischer Typus, (2) ethisch-reflexiver Ansatz und (3) moralisch-handlungsorientierte Ausrichtung.

Weiterhin werden die Lehrpläne der postkommunistischen Länder einer eigenen Auswertung unterzogen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung gab es in neun postkommunistischen Ländern Lehrpläne für den Ethikunterricht. Diese Lehrpläne haben in der einen oder anderen Weise den Begriff "Ethik" in die Bezeichnung des Faches aufgenommen. Slowenien und Tschechien betonen dagegen mit "Staatsbürgerkunde" den gesellschaftspolitischen Aspekt. Die Bildungs- und Lehraufgaben sind in ihrer Konzeption mehrheitlich moralisch-handlungsorientiert ausgerichtet. Die durch den Wegfall der früheren sozialistischen Werterziehung entstandene Lücke und der Orientierungsmangel sollen offensichtlich mit den Werten der demokratisch- freiheitlichen Rechtsordnung gefüllt werden. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertsystemen und die Hinführung zu einem verantworteten moralischen Bewusstsein sind jeweils zentrale Inhalte des Unterrichts.

Dabei steht nicht der ethisch-reflexive Zugang im Mittelpunkt, sondern die Absicht, die Schülerinnen und Schüler zur Übernahme eines "richtigen" Wertedenkens und Tugendkatalogs anzuleiten. Dabei wird der Ethikunterricht mehrheitlich alternativ zum Religionsunterricht angeboten. Die Bildungs- und Lehraufgaben setzen einen besonderen Akzent in Richtung politische Bildung (Demokratieverständnis). Bemerkenswerterweise ist die Einbindung des Faches Ethik in wissenschaftliche Disziplinen hier nur in geringem Maße gegeben. Bezugswissenschaft kann die Philosophie (Polen), die Religionswissenschaft (Slowenien und Kroatien) oder die philosophische und religiöse Ethik (Slowakei) sein.

Es folgen vier Kapitel zur Frage der Lehrbarkeit von Ethik in der Institution Schule. Dabei geht es um Pluralismus und Wertverlust, um das Kriterium der reflektierenden Urteilskraft sowie um das Verhältnis von Ethikunterricht und Religionsunterricht.

Mit dieser Untersuchung liegt erstmals eine synoptische Zusammenstellung der europäischen Lehrpläne für den Ethikunterricht vor, die es in diesem Umfang und in dieser Vollständigkeit bisher nicht gegeben hat. Das ermöglicht, dass man ohne große Mühe eine Übersicht über den aktuellen Stand der ethischen Lehrplanung gewinnen kann. Weiterhin hat der Vf. nicht nur gesammelt, sondern auch analysiert. Die angewendeten Kriterien sind nachvollziehbar. Das entstehende Bild ist bunt und vielfältig. Darin spiegelt sich der europäische Pluralismus. Wer sich über die Tendenzen der Lehrplanentwicklung im Fach Ethik in Europa informieren will, kann guten Gewissens zu diesem Buch greifen.