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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1346 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Anselm, Reiner, u. Ulrich H. J. Körtner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung. M. e. Einführung v. T. Rendtorff.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 216 S. gr.8. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-525-58168-8.

Rezensent:

Luzius Müller

"Die Diskussion geht weiter." (23) Dieses Versprechen, welches einer Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung entstammt (197-208; eine leicht gekürzte Fassung wurde in der FAZ vom 23.01.2002, 8 veröffentlicht), soll mit dem vorliegenden Sammelband eingelöst werden. Resümierend erklären die Autoren diese Debatte zum Paradigma bioethischer Diskursfelder (5) und stützen ihre These durch sehr unterschiedlich angelegte Untersuchungen, welche erneut den Status von überzähligen Embryonen und auch den Diskurs um die Embryonenforschung selbst, seine Hintergründe und Nebeneffekte analysieren.

Trutz Rendtorff fasst in seinem einleitenden Artikel (11-24) die Grundfragen und Positionen der unter dem Stichwort "Stammzellendebatte" geführten Auseinandersetzungen zusammen und markiert die liberale Stoßrichtung der Beiträge des Bandes. Obwohl die Diversität der Standpunkte der Autoren unterstrichen wird (16), ist ihre kollektive Opposition gegenüber rigoros ablehnenden Haltungen im Dialog um die Forschung an embryonalen Stammzellen geschlossen.

Johannes Fischer (27-45) bestimmt in seiner erhellenden Unterscheidung zwischen theoretischen Erkenntnissen der medizinischen Forschung und der praktischen Erkenntnis, welche ethische Entscheidungen leitet, das Verhältnis zwischen menschlichem Leben und dem Menschen als Person. Auf der Basis eines intersubjektiv relational gehaltenen Personenbegriffs verortet er den Zielpunkt des christlichen Ethos im menschlichen Gegenüber als Person und folgert daraus eine Differenzierung von menschlichem Leben mit Aussicht auf Entwicklung zur Person und solchem ohne diese Aussicht, dem nicht derselbe moralische Status zukommen solle. Reiner Anselm (47-69) beschreibt die Eigenart, gegenseitige Bezogenheit und Aufgabe kirchlicher bzw. so genannt "akademisch-theologischer" Stellungnahmen im evangelischen Bereich. Er plädiert für eine klare Unterscheidung zwischen den klassisch evangelischen Polaritäten von Gesetz und Evangelium, Wohl und Heil, aber auch Recht und Ethik. Ulrich H. J. Körtner (71-96) problematisiert ökumenische Stellungnahmen zur Frage nach der verbrauchenden Embryonenforschung auf Grund der unterschiedlichen argumentativen Traditionen der Konfessionen und der unterschiedlichen Verbindlichkeit, welche Stellungnahmen in den jeweiligen Kirchen beanspruchen. Das Bestreben nach ökumenischer Verständigung unterstützend fordert er den Blick über die Landesgrenzen hinaus (und realisiert ihn in der Darstellung kirchlicher Stellungnahmen Österreichs), da bioethische und biopolitische Debatten unter dem Einfluss internationaler Entwicklungen stünden.

Christian Schwarke (99-109) orientiert über das Wesen naturwissenschaftlicher Forschung und ihre Aussagekraft für die ethische Urteilsbildung. Er kritisiert in der Stammzellendebatte den eklektizistisch willkürlichen Rückgriff auf die in sich selbst durchaus nicht eindeutigen Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung. Hartmut Kreß (111-134) skizziert unterschiedliche Entwicklungslinien katholischer Verlautbarungen zwischen Positionen, welche ausgehend vom naturrechtlichen Vernunftsgedanken für Abwägung plädieren, und solchen, welche von essentialistischen Traditionen des Naturrechts und tutioristischen Argumenten her zu rigoroser Eindeutigkeit gelangen. Dabei lässt Kreß einerseits die innerkatholische Kritik an substanzontologischen Anthropologien zu Wort kommen und weist andererseits auf die Grenzen rein relationaler (tendenziell evangelischer) Anthropologien hin. Die von ihm angemahnte Verknüpfung beider Anthropologien wird leider nicht expliziert. Klaus Tanner (135- 158) beschreibt die Stammzellendebatte als "Kampf um die Durchsetzung von Semantiken" (136) verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Er verweist auf die Auslegungsbedürftigkeit von Begriffen wie "Leben", "Menschenwürde", "Gottebenbildlichkeit" sowie des Art. 1 des Grundgesetzes und betont ihre Bindung an den jeweiligen diskursiven Kontext.

Christofer Frey (161-178) sucht in einer anspruchsvollen metaethischen Analyse nach - dem Pluralismus zu Grunde liegenden- anthropologischen Universalien und verifiziert ihre Bedeutung in der bioethischen Debatte. Dietrich Rössler (179- 193) rundet die Aufsatzsammlung mit Überlegungen zur Selbstverpflichtung gegenüber der Alternative ab, "einfach nur Egoist zu sein" (182). Der Pluralismus der Moral sei das Charakteristikum der Neuzeit und die Ermöglichungsbedingung des ethischen Diskurses innerhalb und außerhalb der evangelischen Tradition. Im Widerstreit verschiedener Positionen sei die Lösung im Kompromiss zu suchen, der die Selbstverpflichtung des Gegenübers impliziere.

Die Autoren haben ihr Versprechen mit diesem Sammelband eingelöst und die Diskussion auf hohem Niveau weitergeführt.