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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1344–1346

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Moustakas, Ulrich

Titel/Untertitel:

Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 308 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 114. Geb. Euro 88,00. ISBN 3-11-017018-3.

Rezensent:

Martin Seils

Diese Tübinger Habilitationsschrift aus dem Jahre 2000 stellt sich die Aufgabe, dem Werk Johann Georg Hamanns (1730-1788) eine Erkenntnistheorie abzugewinnen, die es erlaubt, Theologie und Naturwissenschaft diskursiv aufeinander zu beziehen. Moustakas ist sich darüber klar, dass es eine solche Erkenntnistheorie explizit bei Hamann nicht gibt und dass dessen "metakritisch" sich äußerndes Denken einer Systematisierung eher entzogen ist. Dennoch meint er, nach den "verborgenen impliziten Momenten" (V) der Auffassung Hamanns von Natur und Naturwissenschaft fragen und dieser Auffassung einen systematisierbaren Zusammenhang entnehmen zu können, der auch gegenwärtig für die Frage nach den Bezügen von Theologie und Naturwissenschaft relevant zu sein vermag.

Die Arbeit setzt - nach einem vorbereitenden Blick auf die "Galileische Mathematisierung der Natur" - ein mit der Analyse einer Passage aus dem Briefwechsel zwischen Hamann und Kant aus dem Jahre 1774, in dem beide sich über die Thematik von Herders "Ältester Urkunde des Menschengeschlechtes" klar zu werden suchen. Dieser Passage wird die Bezüglichkeit von "Urkunde" einerseits und "Experiment" andererseits entnommen, wobei "Urkunde" auf den biblischen Schöpfungsbericht und "Experiment" auf das bei Galilei vorgebildete neuzeitliche "Rationalitätskonzept" im "Sinne eines auf die Natur Anwendung findenden und dabei Induktion und Deduktion verbindenden beweisenden Verfahrens" (72 f.) bezogen werden. Nach Hamann erschlösse, so heißt es, die "Urkunde" die "Welt im Lichte einer hermeneutischen Ontologie" (61), wobei dem "Experiment" durch "die Hermeneutik der Schöpfung ein umfassender Horizont vorgebildet" (134) wird.

Hierauf werden die Hamannschen "Elemente einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung" näher ausgearbeitet, nach der in der Natur eine kommunikative "schöpferische Anrede" Gottes an den Menschen sich vollzieht, in der "Gottes vereinigendes Tun ... dem Menschen als Sinnbild-Wort offenbar" (83) ist. Dies alles habe immer schon einen christologischen Grundlagenbezug sowohl in der Schöpfungsmittlerschaft Christi als auch darin, dass die schöpferisch-naturhafte Anrede sich nach Analogie der christologischen Idiomenkommunikation vollzieht, sowie schließlich darin, dass der Letztbezug der schöpferischen Anrede in der Christuserlösung liegt. Erkenntnisvermittelnd wirke dabei eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Schöpfungs- und der Christuskommunikation, die von Hamann in geschichtstypologischen Verweisen zur Sprache gebracht wird.

Nach dieser Ausarbeitung von Hamanns "hermeneutischer Ontologie" (61 u. ö.) geht es um deren Beziehung zur neuzeitlichen naturwissenschaftlich-mathematischen Rationalität. Sie erscheint - von Hamann aus gesehen - als akzeptabel, wenn sie sich auf eine gleichsam "grammatische" Interpretation der Natur beschränkt, fordert jedoch zur Polemik heraus, wenn sie sich zu "semantischem" Vorgehen versteigt, es sich also um "die zur Deutung der jeweiligen Erfahrung herangezogenen Kategorien des Mathematischen" handelt, "sofern sie als apriorische Formen ausgegeben werden, welche zuletzt die Sprachlichkeit der Weltdeutung im Zusammenhang mit der Urkunde zu umgehen suchen" (132 f.). Auch die Mathematik hat "für die Etablierung der ihr eigenen besonderen Zuverlässigkeit eine bestimmte Sprache entwickelt" (192). Sie ist jedoch "keine Sprache sui generis", sondern hat "ihre eigentliche Quelle in der im Medium der Sinnlichkeit ergehenden und entsprechend auszulegenden kreatürlichen Anrede des Schöpfers" (195).

Ein nächster Abschnitt der Arbeit befasst sich umfassend mit der Hamann zu entnehmenden "Kritik des neuzeitlichen Rationalismus in theologischer Perspektive". Dabei geht es um die "neuzeitliche Vergöttlichung der Vernunft" als "Ausdruck der Ursünde der Selbstvergötzung" (200). Hamanns "theologisch reflektierte Kritik der rationalistischen Auffassung neuzeitlicher Naturwissenschaft" zielt darauf, "daß die Transzendenz mit Hilfe einer ... verfügbar gewordenen Rationalität von der Immanenz her bestimmt" (208) und der "Horizont des Unverfügbaren" (205) zum Verschwinden gebracht wird. Die "rationalistische Destruktion von Sprache" (213), die dabei geschieht, wird mit der Analyse einer Passage in Hamanns gegen Kants "Kritik der reinen Vernunft" gerichteter "Metakritik über den Purismum der Vernunft" belegt. Während nach Kant die Mathematik ein Paradigma für die Apriorizität des Vernunftvermögens ist, betont Hamann ihre Bindung an die empirische Anschauung und damit ihren Charakter als "ein sprachlich vermittelter Vollzug" (225).

Ein letzter Abschnitt der Arbeit widmet sich zusammenfassend dem Verhältnis von "Urkunde" und "Experiment", die sich "in einem differenzierten Verhältnis von Entsprechung und Konflikt" (242) befinden. Von Hamann wird "die Schöpfung christologisch ausgelegt" (252). Die "Unterdrückung der Erkenntnis Christi" verhindert "das Verständnis für die Natur als Buch, denn sie kommt einer Verweigerung des Schlüssels für dieses Buch gleich" (252). Vollzieht sich Naturerkenntnis jedoch in einem christologisch erschlossenen "verstehenden Auslegen" (260), so wird - in einem weitgefassten Rahmen - die Wissenschaft in den "hermeneutische[n] Prozeß der Verantwortung" einbezogen, was "für die Wissenschaften etwa bedeuten" würde, "daß die Relativität ihrer Entwürfe und zugleich ihrer Selbstinterpretation eingestanden und damit die Bedeutung anderer Zugangsweisen zur Wirklichkeit auch für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Sicht der Welt prinzipiell anerkannt wird" (271). Erwartet werden könne, dass die Aufstellung eines solchen "hermeneutischen Rahmenmodells ... als grundlegendes Interpretament für eine entsprechende Inbezugsetzung von Theologie und Naturwissenschaften von Interesse sein dürfte" (285).

M.s Arbeit zeugt von gründlicher Hamann-Kenntnis und wird immer wieder durch die interpretierende Heranziehung von Hamann-Texten geleitet. Es handelt sich außerdem um eine durch und durch reflektierte Abhandlung, die auch Einwürfen, die entstehen könnten, von vornherein zuvorzukommen sucht. Die Sprache der Arbeit wird dadurch allerdings häufig überladen. Überdies hat M. sich bemüht, den wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Horizont, in dem er sich bewegt, weitgehend heranzuziehen und zu berücksichtigen. Dass den Aussagen Hamanns erkenntnistheoretische Einsichten abgewonnen werden sollen, die von Hamann selbst nicht expliziert und systematisiert worden sind, wird in der Arbeit als Problem ständig mit bedacht.

Es mag eine Frage sein können, ob die neuzeitliche naturwissenschaftliche Rationalität so durchgehend von einem zugleich induktiv und auf autoritative Weise deduktiv vorgehenden Verfahren geleitet wird, wie M. es - von Galilei, Newton und auch Kant bestimmt - voraussetzt. Auch kann man sicherlich fragen, ob die Differenzierung von akzeptabler "grammatisch" vorgehender und zu kritisierender "semantisch" verfahrender Naturwissenschaft dem heutigen Diskussionsstand entspricht. Was die Hamann-Interpretation anbelangt, so ließe sich wohl über die Nuance nachdenken, die zwischen Hamanns Aussage von der Schöpfung als "Rede an die Kreatur durch die Kreatur" und deren Interpretation durch den Begriff "Anrede" im Bezugsrahmen einer "hermeneutischen Ontologie" - zumal umgeben von Begriffen wie "Verfügbarkeit" und "Unverfügbarkeit" - liegen könnte.

Die gewisse Bedeutung Hamanns auch für heute sich stellende Grundlagenfragen in Theologie und Philosophie dürfte unbestritten sein. Darum ist der Versuch wohl sinnvoll, nach den erkenntnistheoretischen Belangen zu fragen, die Hamanns Aussagen für das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft haben könnten. Man sollte hoffen, dass sich daraus die von M. gewünschte fruchtbare Diskussion ergibt.