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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1337–1339

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wendel, Saskia

Titel/Untertitel:

Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2002. 338 S. gr.8 = ratio fidei, 15. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7917-1824-X.

Rezensent:

Cornelia Richter

Der Titel ist Programm: Saskia Wendel, Professorin für Systematische Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität von Brabant (Tilburg), hat in ihrer Habilitationsschrift einen eigenständigen Entwurf einer Subjekttheorie vorgelegt, der durch die ungewöhnliche Kombination von alter Tradition und neuzeitlicher Fragestellung besticht. Es handelt sich um eine strikt egologische Subjekttheorie, die im Ausgang von der Deutschen Mystik und im Anschluss an Fichte konzipiert und in pointierter Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen breiten Diskussion um Subjektivität geführt wird.

Subjektivität, so lautet die These, "ist als präreflexives Mit-sich-vertraut-sein, als unmittelbares Erspüren und Erleben meiner selbst zu kennzeichnen. Dieses Verständnis von Subjektivität ist mit einer egologischen Bewusstseinstheorie verknüpft, da Subjektivität als unmittelbare Selbstgewissheit mit Selbstbewusstsein identisch ist: Der Subjektbegriff bezeichnet nichts anderes als die Perspektive der Singularität des einzelnen Ich. Daraus folgt eine Koinzidenz von Subjektivität und Freiheit." (282) Diese Bestimmung wird erweitert durch den - aus der Auseinandersetzung mit der mystischen Tradition gewonnenen - Versuch, ihr "die Dimension der Leiblichkeit einzuschreiben und das Subjekt als inkarniertes, leibliches Subjekt zu verstehen" (283), was letztlich zu einer Spezifizierung der Begriffe Subjekt und Person führt, zentriert um die Funktion der Leiblichkeit.

Die Begründung der These folgt einer klaren Durchführung: Im ersten Abschnitt (16-48) werden "Mystik und Subjektgedanke" einer begrifflichen Klärung unterzogen und der Rekurs auf die mystische Tradition philosophisch begründet. Die Deutsche Mystik, hier in ihrer affektiven (Gertrud von Helfta, Mechthild von Hackeborn, Mechthild von Magdeburg, David von Augsburg) und spekulativen (Meister Eckhart) Ausbildung, sei "philosophisch relevant" (25), müsse "universal bestimmt werden können" (26), sei nicht nur zentriert um "Erfahrung und Erkenntnis eines Absoluten, sondern auch [um] die Selbsterkenntnis" (ebd.) und sei von "der Spannung von Präsenz und Absenz, Sagbarkeit und Unsagbarkeit" (27) geprägt. Dem bekannten Einwand, "hier werde in unzulässiger Weise ein genuin neuzeitlicher Gedanke, der Subjektgedanke, auf das Mittelalter übertragen" (44), weiß W. klug zu begegnen. Sei doch eine strikte Epochentrennung in der Geschichtswissenschaft inzwischen zu Gunsten der Überzeugung von einer "spannungsvollen Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten" (ebd.) überwunden, was sich für den Gedanken der Subjektivität, ungeachtet seiner neuzeitlichen Verschärfung, vor allem anhand der vorlaufenden Entwicklung des Individualitätsgedankens zeigen lasse.

Nun ist aber nicht nur die Verbindung von Mittelalter und Neuzeit begründungsbedürftig, sondern gar das Thema selbst. Ist doch die Kritik am Subjektivitätsbegriff zu einem der Themen der Moderne geworden. Der zweite Abschnitt (49-89) stellt daher die Frage nach "Recht und Grenze der Kritik des Subjektbegriffs". W. konzentriert sich dabei auf die folgenden vier Einwände, diskutiert mit Nietzsche, Heidegger, Adorno, Levinas, Lyotard, Derrida, Lacan, Irigaray und Butler: Der Subjektgedanke basiere auf einem "Identitäts- und Ursprungsdenken" (49- 63), folge dem Modell "vorstellend-berechnenden Denkens" (64-67) sowie dem "Ideal totaler (Selbst-)Präsenz" (67-70) und sei zuletzt durch die "sexualisierende Identifikation" (49) von Subjekt = Mann (70-84) bestimmt. All diese Einwände seien freilich, so W., an einem veralteten Subjektverständnis orientiert, denn die Verbindung des Subjektgedankens mit Vorstellungen totaler Selbstpräsenz, einer Substanzontologie oder auch eines absoluten Ursprungs sei ebenso überholt wie die begriffliche Unschärfe zwischen "Subjekt", "Individuum" und "Person" weit verbreitet (85 f.). Ein Subjektverständnis, das diesen Verzerrungen folge, sei daher in der Tat kritikwürdig; "daraus den Tod des Subjekts überhaupt zu folgern bedeute allerdings eine unzulässige Verallgemeinerung" (89). Im Gegenzug gehe es nun darum, "ein anderes Verständnis von Subjektivität" (ebd.) zu erlangen, "das sich von einem auf Reflexion, Repräsentation und Substantialität reduzierten Subjekt" (ebd.) verabschiede.

Dem entsprechend ist der dritte und umfangreichste Abschnitt der "Spurensuche: Subjektivität in der Deutschen Mystik" (90-242) gewidmet, und zwar unter der Maßgabe einer systematisch-philosophischen und -theologischen Reflexion der Grundgedanken der mystischen Autoren und Autorinnen (92). W. führt die Leser nun durch eine klug ausgewählte und sorgfältig recherchierte Textauswahl, die die literarische Schönheit der mystischen Texte gekonnt zum Ausdruck bringt, ohne darüber die Strenge der Argumentation aus den Augen zu verlieren. Aus der Fülle des dargestellten Materials sollen hier nur die wichtigsten Linien genannt werden: Im Zentrum der affektiven Mystik steht die Frage nach der "Selbsterkenntnis als Möglichkeitsbedingung der Gotteserkenntnis" (93), worunter u. a. die Erkenntnis von Kontingenz, die Frage der Autonomie und die Ambivalenz der Leiblichkeit verhandelt werden und deren Zusammenhang schließlich in der Form der Minne bearbeitet und gestaltet wird. In der Kürze der Rezension lässt sich von hier der Bogen zur spekulativen Mystik Eckharts schlagen, dessen Thesen zum Seelengrund W. ins Gespräch mit Fichtes intellektueller Anschauung bringt. Dem geht voraus eine philosophiegeschichtliche Erläuterung der Tradition der Motive des Seelengrundes und der Gottesgeburt in der Seele, aus der ersichtlich wird, in welcher Weise der Subjektgedanke bereits vor der Neuzeit zumindest in Ansätzen aus einer substanzontologischen Seelenlehre heraus destilliert wurde; auch wenn umgekehrt von W. mehrfach darauf hingewiesen wird, dass gerade die Einbettung in die ontologische Seelenlehre die Schnittstelle gegenüber dem neuzeitlichen Subjektverständnis markiert (z. B. 93). Mit Eckhart und Fichte lasse sich jedoch zeigen, dass der Seelengrund nicht auf die diskursive Erkenntnis beschränkt bleiben müsse, sondern bereits die Möglichkeitsbedingung präreflexiver Erkenntnis darstelle, dem lediglich insofern eine ontologische Komponente eigne, als er als "Seinsgrund" zwar kein Seiendes, aber "Ereignis, dynamischer Vollzug" (190) sei. Damit habe Eckhart eine Entsprechung zum Gottesgedanken formuliert, der ebenfalls Sein und Intellekt umschließe - was W. wiederum mit Fichte, nun mit dessen Bildverständnis, expliziert. Die theologisch interessanteste Wendung ist dabei die Einsicht, dass Gott und Mensch in einem Entsprechungsverhältnis stehen, in dem u. a. "der Mensch zum Bild werden [müsse], damit sich Gott ins Bild setzen, zur Erscheinung kommen" (202) könne.

Leider werden spekulative Linien wie diese von W. nicht weiter ausgezogen, so wie überhaupt mehrfach die "harten" theologischen Fragen wie z. B. jene nach der Offenbarung (241) leider, wenn auch arbeitstechnisch verständlich, ausgeklammert werden. Die Conclusio aus dem materialen Teil besteht darin, "dass in der Mystik ein Subjektgedanke vorgedacht worden ist, der allerdings seinerseits als solcher unbenannt und unexpliziert geblieben ist und erst später, in der Subjektphilosophie der Neuzeit und der Moderne, detailliert entfaltet und losgelöst von der Tradition der Seelenmetaphysik weiter entwickelt wurde." (237 f.)

Der vierte und letzte Teil enthält die Entwicklung der eigenen subjekttheoretischen Konzeption (243-313), womit der Gang der Rezension an deren Anfang zurückführt. Im Ausgang von der "ethisch-praktische[n] Relevanz" (244) der Mystik wird die leibliche Verfasstheit des Menschen und die darin implizierte ethische Dimension der Begegnung von Ich und Anderem in wechselseitiger Abhängigkeit und Freiheit nun zum Kern der Argumentation. W. verbindet damit ihre transzendentalphilosophische Argumentation mit einer an Merleau-Ponty orientierten phänomenologischen Betrachtungsweise (243.283.286) und schließt mit den zu Anfang der Rezension genannten Bestimmungen von Subjektivität, die in dieser Form allererst für die Relevanz und Bedeutung von "Personalität und Andersheit" bürge.

W.s Argumentation überzeugt; dennoch wird sie sich in der aktuellen Diskussion fragen lassen müssen, inwiefern sie damit die Minimalbestimmung von Subjektivität als "Perspektive der Singularität des einzelnen Ich" (282) nicht theoretisch inflationär erweitert und damit gerade die geforderten Grenzen, z. B. zum Personbegriff (von W. selbst angeschnitten, 297), unscharf werden lässt. Ein möglicher Grund dafür mag jedoch im Blick auf das weitere Ziel dieser Arbeit vermutet werden: Bisher ist in dem Gedanken der Leiblichkeit gleichsam der Status dieser Subjekttheorie zentriert. Denn in ihm "vereinen sich [...] eine theoretisch-epistemologische, eine ontologisch-anthropologische und eine ethisch-praktische Dimension" (291). Die Leiblichkeit sei folglich "nicht nur eine anthropologische Größe [...], sondern ein die philosophischen Disziplinen durchquerendes Thema" (ebd.). Dass von dieser Voraussetzung her die Grenzen einer bloßen Subjekttheorie bis an ihr Äußerstes getrieben werden, erstaunt nicht. Ihre Erweiterung in eine "Philosophie des Leibes" (ebd.) ist aber zu fordern. Auf ihr Erscheinen dürfen die Leser und Leserinnen gespannt sein.