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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1327–1330

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jonas, Hans

Titel/Untertitel:

Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Vorwort. v. R. Salamander. Geleitwort v. L. Jonas. Hrsg. u. m. e. Nachwort versehen v. Ch. Wiese.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Leipzig: Insel 2003. 503 S. m. 35 Abb. 8. Geb. Euro 24,90. ISBN 3-458-17156-8.

Rezensent:

Rainer Kattel

Hans Jonas hat nie eine Autobiographie geschrieben, wohl aber erzählte er Rachel Salamander im September 1989 in mehreren Gesprächen seine Erinnerungen. Diese Erzählung ist jetzt als Buch zum 100. Geburtstag von J. erschienen. J. spricht über seine Kindheit in Mönchengladbach, über sein frühes Engagement in der Zionistischen Bewegung, sein Studium in Berlin und Marburg, über die Philosophie Heideggers und Bultmanns, von seinen eigenen ersten wissenschaftlichen Versuchen, aber auch von Emigration und Krieg, von Auschwitz und Gottes Ohnmacht. Denjenigen Lesern, die mit dem J.schen Werk und Wirken schon näher bekannt sind, werden fast alle Erinnerungs-Episoden schon etwas bekannt vorkommen, denn von vielem hat J. selbst in Vorträgen und Aufsätzen erzählt.

Dieser Text, nur wenige Jahre vor J.s Tod aufgezeichnet, wirkt wie eine Art positive Zusammenfassung, denn J. erinnert sich rückblickend fast immer nur an die schönen Aspekte, gerade bei persönlichen Beziehungen. Seine Freundschaft zu Gerschom Scholem, die in diesem Buch als bedeutend und tief gezeigt wird, findet sich im Briefwechsel - J.s Korrespondenz ist jetzt an der Universität Konstanz im Jonas-Archiv zugänglich -, der mehrere Briefe von Scholem nach dem Kriege enthält, die von tiefen wissenschaftlichen (die Gnosis betreffend) wie persönlichen Rissen zeugen, anders widergespiegelt. Dies mögen zwar nur Missverständnisse gewesen sein, und wichtig für die Autobiographie ist gerade das Schweigen darüber, aber solches Schweigen ist eher, und wohl zu sehr, die Regel in diesen Erinnerungen. J. ist sich seiner philosophischen Bedeutung sehr bewusst, und so erzählt er über sein Leben und Wirken wie über ein Denkmal. Es kann natürlich sein, dass an diesem Eindruck primär die editorische Arbeit Schuld ist.

Problematischer ist vielleicht noch, dass auch die wissenschaftliche Tätigkeit, die in der Erinnerungen beschrieben wird, stark durch die Brille eines korrigierenden Beobachters geschildert wird. Es ist schon sehr verblüffend, wenn J. seine Arbeiten zur Gnosis (und damit auch andere frühe religionswissenschaftliche Studien zu Paulus und Augustinus) mehrfach als Gesellenstück bezeichnet (z. B. 117). Hier irrt Jonas. Es ist nicht nur so, dass die moderne Gnosisforschung mit ihm beginnt, sondern der J.sche Begriff der Gnosis ist auch heute noch eine bedeutende Säule der Gnosisforschung (s. z. B. Karen L. King, What is Gnosticism?, Cambridge, MA, 2003, 115-137). Die jetzt im Archiv zugänglichen Augustinus-Vorlesungen, die J. an der New School in New York gelesen hat (z. B. im Jahre 1970, im Archiv HJ 1-3-1), sind eine der besten Darstellungen zu Wille und Willensfreiheit bei der Stoa und Augustinus überhaupt. Vor allem aber seine Interpretation des Konzeptes der Freiheit bei Paulus zeugt nicht nur von einem sehr bedeutenden Religionswissenschaftler, sondern zugleich von einer roten Linie, die sich durch J.s wissenschaftliche Tätigkeit zieht, die aber hier in der Erinnerung fast verschwiegen wird.

J. schrieb seine Interpretation von Paulus' Römerbrief 7,7-25 erst in einem Brief an Rudolf Bultmann nieder (13.7.1929, im Archiv HJ 7-12-27), den er dann mehr als drei Jahrzehnte später in fast unveränderter Form in einer Bultmann-Festschrift (Erich Dinkler, [Hrsg.], Zeit und Geschichte, 1964) als "Philosophische Meditation über Paulus, Römerbrief, Kapitel 7" veröffentlichte.

Seine eigene tiefe Betroffenheit durch die Anthropologie des Paulus, die J. im Brief beschreibt, lässt er jedoch in der Veröffentlichung weg: "Schließlich noch ein ganz persönliches Argument, für mich selber das Entscheidende: als Jude fühle ich mich dennoch durch die Kritik Jesu nicht prinzipiell sondern nur in einer bestimmten Ausprägung der jüdischen Frömmigkeit getroffen. Von Paulus aber fühle ich mich prinzipiell und schlechthin getroffen, so daß ich dann weder als Jude noch als Mensch etwas entgegenzustellen hätte ...".

Die J.sche Paulus-Interpretation zeigt die sonderbare Dialektik der Freiheit, dass unsere notwendige Selbstentfremdung von unserer Tat und unserem Werk - dieses Schicksal, immer zugleich Täter und Zuschauer zu sein - aber auch gleichsam die Möglichkeit erschließt, dass der Andere sich darin wiedererkennen kann. Das aber heißt, dass wir uns auch in unseren Werken und Taten wiedererkennen können und damit die Möglichkeit haben, zu uns selbst kommen zu können - durch den Anderen. Der Mensch ist nicht nur notwendig auf das menschliche Zusammenleben angewiesen, sondern auch auf das Wie des Zusammenlebens - auf das Gute des Miteinanders. Sein Selbstverständnis hängt vom Wie des Zusammenlebens ab. Das aber heißt, dass das Ethische - was soll ich tun? - gerade durch das Angewiesensein auf den Anderen entsteht. Das Ethos des Menschen spiegelt seine Mitmenschen, und so ist das Ethos zugleich Schicksal, wie Heraklit meinte. Dies zu leugnen gleicht dem Glauben an den Besitz einer Sicherheit, die uns gar nicht gegeben ist. Ethos bedeutet tagtägliche Arbeit, alles andere zu glauben, (ver)führt uns auf den Weg zum Bösen.

Dieser Begriff des Ethischen, durch die Interpretation des Paulus gewonnen, ist der eigentliche Anfang und zugleich Zusammenhang der philosophischen Tätigkeit von J., da eben dieser Begriff im J.schen Gnosis-Begriff, der nicht nur historisch, sondern gleichfalls systematisch auszulegen ist, aufgenommen wird (s. weiter Kattel in ThLZ, 125 [2000], 148-151). Zudem ist dieser Begriff grundlegend für das Verständnis der späteren Arbeiten von J. zu Biologie, Technologie und Ethik. Die moderne Technologie, insbesondere die Biotechnologie, arbeitet daran, das Schicksalhafte aus dem menschlichen Leben zu eliminieren, um das Leben vorhersehbar und damit auch beherrschbar zu machen. Mit dem Schicksal verschwindet aber auch zugleich das Ethische. J. war einer der ersten, die diesen Zusammenhang erkannt haben. Seine philosophische Biologie hat er schon während des Krieges als Briefe an seine Frau zu schreiben angefangen, die in diesem Buch zum ersten Male abgedruckt werden.

Diese Briefe erlauben tiefe Einblicke in die spätere philosophische Biologie von J. und daher auch in seine Ethik für das technologische Zeitalter. Gerade in den Briefen ist unverkennbar deutlich, wie stark J.s philosophische Biologie auf der Heideggerschen Prämisse der Existenz als Vorlaufen zum Tode beruht. Für J. definiert sich der Organismus durch sein Gegenüber zu einer feindlichen Welt, in der er sich behaupten muss. Die moderne Biologie, und vor allem Biosemiotik und Systembiologie beteuern das Gegenteil: Organismen sind nur als Teile der jeweiligen Lebenswelt zu verstehen. Leon Kass, der Vorsitzende der Kommission für Bioethik des Präsidenten der USA, schreibt denn auch, dass J. ihm einmal gestanden hat, in seiner philosophischen Biologie zu sehr von Heidegger beeinflusst gewesen zu sein ("Appreciating The Phenomenon of Life", Hastings Center Report, 1995 Supplement, 25, 7, 3-13).

J.s Briefe an seine Frau zeugen aber auch von der anderen Seite seiner philosophischen Biologie, die nicht in Prinzipien, nicht in philosophischen Beweisen, dass ein Sollen aus dem Sein entsteht, münden, wie J. bis zum und noch mit dem Prinzip Verantwortung (1979) beteuert, da dieses Sollen aus der Heideggerschen Geworfenheit als Einsamkeit in der Welt entsteht - also als ein Gegenüber zur Welt. Dagegen schreibt J. 1944 in einem Brief an seiner Frau: "Zuerst also das Sein erfühlen und anschauen; dann es ergründen und lieben; zuletzt es widerspiegeln und bezeugen: das ist die ganze Weisheit, alles übrige ist Kommentar ... Es ist ein Ideal - der anthropologische Imperativ." (370) Offensichtlich spricht J. vom Ethos des Menschen. Durch seine Paulus-Analyse wissen wir aber, dass man hier nicht bei einem Prinzip angelangt ist, sondern dass das Ethos des Menschen im Miteinander entsteht. Eine Ethik, die die Welt vor der technologischen Zerstörung retten will, muss bei den Menschen anfangen sowie bei ihnen enden. Hier liegt auch die eigentliche Bedeutung der J.schen Theologie von Gottes Ohnmacht: Gott hat den Menschen freigegeben und dadurch auch die Verantwortung für Gottes Sache, d. h. für die Welt und Menschen, an Menschen gegeben.

Dass seine Ethik und philosophische Biologie sich am Ende auch in ein politisch-ökonomisches Denken entwickeln müssen, war für J. so deutlich, dass er öffentlich darüber nachdachte, ob demokratische Politik angesichts der technologischen Bedrohungen der Menschheit wirklich noch weiterhelfen könne. Auf der anderen Seite hat J. in Briefwechseln mit Leo Strauss und Hans-Georg Gadamer die Aufforderung, eine politische Philosophie zu schreiben, immer wieder zurückgewiesen. Jedoch liegt die einzig wirkliche Chance, Biotechnologie sozial wie politisch verantwortlich zu entwickeln, im politischen Gespräch, das die verschiedenen Positionen erkennbar werden lässt und gleichzeitig alle Beteiligten bildet. Solch ein Gespräch setzt aber das Verständnis der Wirtschaft als eines in Gesellschaft und Staat eingebetteten Bereichs voraus, da sonst die wirtschaftlichen Faktoren, die ja vermutlich doch die wichtigsten in diesem Zusammenhang sind, in ihrem eigenen Bereich mit eigenen Gesetzen und daher auch vom menschlichen Ethos ausgegrenzt bleiben. J.s philosophische Biologie sowie Das Prinzip Verantwortung bleiben insofern auf halbem Wege stehen.

In J.s Erinnerungen bilden die Schilderungen seiner Jugend sowie sein lebenslanges Bekenntnis zum Zionismus wahrscheinlich die interessantesten Stellen, da hier J.s Zeugnis von sich selbst als von einem zutiefst politischen Menschen, der der Politik jedoch misstraut, vorlegt. Es sind jedoch J.s eigene frühe Arbeiten und sein Leben, die das Gegenteil beweisen und es uns als Aufgabe stellen.