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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

393–396

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ilan, Tal

Titel/Untertitel:

Mine and Yours are Hers. Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. XIII, 346 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 41. Lw. hfl 180.-. ISBN 90-04-10860-2.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Das Buch ist der zweite Teil einer Trilogie, deren erster Teil Jewish Women in Greco-Roman Palestine. An Inquiry into Image and Status (Tübingen: Mohr 1995) bereits erschienen ist. Die nun vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die rabbinische Literatur. Sie möchte das große, aber bisher weitgehend vernachlässigte Korpus rabbinischer Quellen der historischen Frauenforschung zugänglich machen.

I.s Hauptthese lautet, die rabbinische Literatur enthält historische Daten über Frauen, die mit entsprechender Reflexion und Methodik aufgedeckt werden können. Im Vordergrund des einleitenden Forschungsüberblicks zur historischen und feministischen Forschung an rabbinischen Quellen steht eine kritische Würdigung des Werks von Jacob Neusner und seiner Schülerin Judith Romney Wegner sowie eine Diskussion der radikalen Bestreitung eines historischen Quellenwertes rabbinischer Texte. Frauenforschung außerhalb der Neusnerschule wird an dieser Stelle lediglich in einer längeren Anmerkung zusammenfassend aufgeführt (23 f. Anm. 91).

In den folgenden drei Teilen und sieben fortlaufend gezählten Kapiteln stellt I. die historische Methodologie dar, mit deren Hilfe es möglich sei, den historischen Ort von Frauen aus rabbinischen Q uellen zu erheben. Die Methodik wird jeweils an konkreten Textbeispielen entwickelt und demonstriert.

Der erste Teil untersucht die historische Zuverlässigkeit der Textüberlieferung. In den vier Unterabschnitten des 1. Kapitels (51-84) werden Muster der "Zensur" (Veränderungen, die I. weniger auf einen institutionellen Akt als auf einen anhaltenden und teilweise unbewußten Prozeß der Eliminierung von Frauen im Text zurückführt) aufgedeckt. Dieser Prozeß läßt sich zwischen Tosefta und Mischna, bei der Aufnahme tannaitischer Literatur im babylonischen Talmud, als Selbstzensur innerhalb des babylonischen Talmuds (die sich im Vergleich mit mittelalterlichen Kommentaren aufdecken läßt) und innerhalb der Handschriftenüberlieferung nachweisen. Als Grundregel hält I. fest, daß die Erwähnung von Frauen grundsätzlich als lectio difficilior betrachtet werden müsse, sofern sie sich nicht als spätere Hinzufügung plausibel machen ließe. Die chronologische und geographische Analyse der Geschichten von Beruriah, Martha bat Boethus, der Magd von Rabbi, Imma Shalom u. a. im 2. Kapitel ermögliche eine Trennung der historischen Informationen von ihrer legendarischen Ausmalung (85-130). An dieser Stelle deckt I. eine Tendenz der babylonischen Bearbeitung auf, bekannte Frauen als positive oder negative Rollenmodelle zu etablieren.

Der zweite Teil arbeitet mit "universellen Kriterien" der historischen Methodik an rabbinischen Texten. Daß sich einige beiläufige Notizen über die historische Wirklichkeit von Frauen durch äußere Quellen stützen lassen, wird im 3. Kapitel gezeigt (133-158), u. a. am Beispiel der zum Tempelpersonal gehörenden Weberinnen der Tempelvorhänge. Diese historischen Nachrichten seien jedoch streng zu unterscheiden von der Übernahme literarischer Motive, die den historischen Wert einer Überlieferung destruierten. Kapitel 4 (159-217) stellt Regeln für die Erforschung der historischen Wirklichkeit hinter halachischen Texten auf. Eine Tatsache, die nicht als Gegenstand einer halachischen Regel, sondern lediglich zufällig genannt wird, dabei aber einer (anderen) halachischen Regel widerspricht, spiegele vermutlich reales Leben wider. Beispiel ist hier u. a. die Frage nach dem Torastudium von Frauen, das sich- dem Ideal widersprechend - breit belegen läßt. Es ließe sich zweitens zeigen, daß sich die Quellen selbst der Spannungen und Widersprüche bewußt sind. Die dritte Regel basiert auf der höheren Autorität der tannaitischen und der palästinischen Tradition gegenüber der babylonischen. I. demonstriert, wie die babylonischen Schulen pseudepigraphische Traditionen zur Unterstützung ihrer Korrektur älterer halachischer Entscheidungen erfanden. An dieser Stelle deckt I. eine askesekritische Tendenz im babylonischen Talmud auf, die zugleich größere Freiheiten der Väter und Ehemänner gegenüber ihren Frauen und Töchtern intendiere.

Im dritten Teil entwickelt I. schließlich "spezifische Kriterien für die Frauenforschung". Kapitel 5 (221-236) diskutiert die Frage, ob die generisch männliche Sprache der rabbinischen Literatur Frauen mitmeine. In Abgrenzung zur These, daß androzentrische Sprache bis zum Beweis des Gegenteils als generische Sprache verstanden werden müsse (Elisabeth Schüssler Fiorenza), lautet I.s Grundsatz: Rabbinische Texte, die in geschlechtsneutraler Sprache verfaßt sind, beziehen sich nur auf Männer. Dies spiegele, so I., das Selbstverständnis der Rabbinen. Allerdings zeugen die von I. zitierten diesbezüglichen Belege (223) vom Bedürfnis nach Klärung und nicht von einer zudem historisch widerlegbaren Selbstverständlichkeit. Der Gebrauch weiblicher Sprache in rabbinischer Literatur weist, so I., auf die Lebensrealität der Frauen hin. Diese Lebenswelt bliebe jedoch auf Aufgaben im Haus und in der Familie beschränkt.

Im 6. Kapitel (237-277) untersucht I. haggadisches Material, dessen historischer Wert grundsätzlich in Frage steht. Zuverlässige Informationen über Frauen ließen sich jedoch dann erheben, wenn der Frauencharakter kein literarischer Prototyp sei, d.h. wenn die weibliche Protagonistin ohne inhaltliche Veränderung durch einen männlichen Protagonisten ersetzt werden könnte. Mit diesem Kriterium lassen sich Frauen entdecken, die sich im Lehrhaus aufhielten, die gerichtliche Eingaben machten oder Gefangene freikauften.

Hinter den sieben im Midrasch Genesis Rabba überlieferten Diskussionen zwischen Matrona und Rabbi Jose vermutet I. einen historischen Kern, nämlich die Beziehung zwischen einem Lehrer und einer Schülerin, die das Buch Genesis studiert und allgemeine Fragen zum Textverständnis stellt. Die Tatsache, daß Matrona den hebräischen Text lese, lasse darauf schließen, daß es sich um eine historische Jüdin mit dem Eigennamen Matrona handele. Der Redaktor des Midraschs verfügte vermutlich über eine Quelle, die die Diskussionen zwischen Rabbi Jose und Matrona zum ganzen Text von Genesis sammelte. (Die Texte sind in Appendix 1 zusammengestellt und nach ihrem historischen Quellenwert eingeordnet.)

Das 7. Kapitel (278-291) belegt die These, daß die Erinnerung an Namen auf historische Frauen verweist, soweit diese Namen nicht interpretierend gebraucht werden. (Eine Auflistung von 52 Frauennamen in der rabbinischen Literatur und den jeweiligen Belegstellen findet sich in Appendix 2.) - Der Titel des Buches ist ein Zitat aus einer Geschichte um die Frau des Rabbi Aqiba (bKet 62b-63a). "Meines und eures ist ihres" antwortet Rabbi Aqiba, als seine Schüler seine Frau abweisen wollen. Die Frau-des-Rabbi-Aqiba-Geschichten sind ein Testfall, an denen I. alle entwickelten Methoden durchführt und überprüft. Als historischen Kern arbeitet I. heraus, daß Rabbi Aqiba seinen Aufstieg, anders als seine Kollegen, seiner Frau verdankte und daß er ihr den "Jerusalem aus Gold" genannten Kopfschmuck schenkte. Alle übrigen Informationen erwiesen sich mit den oben aufgeführten Kriterien als historisch unzuverlässig.

Die Untersuchung leistet m. E. zweierlei. Sie stellt eine beträchliche Sammlung relevanter Texte, die für die Erforschung der Frauen und Frauenbilder in der rabbinischen Bewegung von Bedeutung sind, in englischer Übersetzung zur Verfügung. Sie führt zugleich übersichtlich in die Methodik historischer Erforschung rabbinischer Texte ein. Die Engführung auf die Frage nach den historischen Tatsachen ist dabei beabsichtigt (XI). Allerdings gerät damit die Frage nach den Trägergruppen der Überlieferungen oftmals aus dem Blick. An einigen Stellen weist I. darüber hinaus auf Redaktionsprinzipien der Mischna oder Tendenzen in der Darstellung von Frauen und Frauenfiguren im palästinischen und babylonischen Talmud hin. Hier wünscht man sich noch weitergehende Überlegungen, auch in Bezug auf die Midraschim. Wenn in der rabbinischen Literatur nur 52 Frauen gegenüber ca. 1000 Männern namentlich erwähnt werden (279), zeugt dies von einem Mißverhältnis, das kaum gesellschaftliche Realität widerspiegelt. I. hat bereits einen dritten Band versprochen, der die erhobenen Daten in ihren historischen Zusammenhang des griechisch-römischen Judentums einordnen wird. Wir können darauf gespannt sein.