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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1316–1318

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kempe, Michael

Titel/Untertitel:

Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie.

Verlag:

Erpfendorf: bibliotheca academia 2003. 477 S. m. Abb. gr.8 = Frühneuzeit-Forschungen, 10. Lw. Euro 49,00. ISBN 3-928471-33-3.

Rezensent:

Detlef Döring

Seit dem 19. Jh. ist die Vorstellung verbreitet, die modernen Wissenschaften (vor allem die Naturwissenschaften) hätten sich im steten Ringen mit der Theologie durchsetzen müssen. Mag diese Auffassung auch in der Fachwissenschaft längst an Geltung verloren haben, so bildet sie im populären Bereich durchaus noch eine feste Größe. Persönlichkeiten wie Galileo Galilei scheinen in ihren Auseinandersetzungen mit klerikalen Mächten den Gegensatz von Wissen und Glauben geradezu zu symbolisieren. Dass dieses Thema jedoch weitaus differenzierter zu sehen ist, zeigt schon der flüchtige Blick auf die Väter der neuzeitlichen Wissenschaften, z. B. Johannes Kepler, Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaak Newton, Richard Boyle. Mögen sie sich auch in Auseinandersetzungen mit diesen oder jenen Theologen der Zeit befunden haben, so verstanden sie sich doch alle als erklärte Christen und konnten keineswegs einen Gegensatz zwischen ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und der christlichen Theologie ausmachen. Im Gegenteil, dass Glaube und Wissen einander stützen, dass sich Gott in der Bibel und in der Natur gleichermaßen offenbart hat, ist eine Grundannahme. In der Ausbildung der im frühen 18. Jh. sehr verbreiteten Physikotheologie fand sie u. a. ihren Ausdruck.

Ein Hauptvertreter dieser Denkrichtung war der Schweizer Arzt Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733), dessen Hauptwerk "Physica sacra" (4 Bände, 1731-1735) schon im Titel das behauptete Ineinander von Wissen und Glauben zum Ausdruck bringt. Von Scheuchzer, neben Albrecht von Haller der bedeutendste Schweizer Naturforscher des 18. Jh.s, ist der handschriftliche Nachlass in einer für diese Zeit sehr seltenen Vollständigkeit überliefert (Zentralbibliothek Zürich), die zu einer eingehenden wissenschaftlichen Erschließung der Bestände geradezu auffordert. Das ist bisher jedoch nur ansatzweise geschehen, wie überhaupt Scheuchzer in der Historiographie nicht die Beachtung findet, die ihm zukommt. Das gilt auch für die Theologen, fehlt doch beispielsweise sein Name in Emanuel Hirschs klassischer Untersuchung "Geschichte der neuern evangelischen Theologie", die auch ausführlich über die Physikotheologie handelt. Die anzuzeigende Publikation, eine an der Universität Konstanz angefertigte Dissertation, stützt sich in einem breiten Umfang auf die Zürcher Quellen, besonders auf die Korrespondenz, die in ihrer Ausdehnung und in ihrer Aussagekraft den bedeutendsten Briefwechseln der Respublica litteraria der Zeit um 1700 gleichkommt. Daneben konnte K. auch den Archivbestand einer Zürcher Gelehrtengesellschaft (Collegium der Wohlgesinnten), der Scheuchzer angehörte, in seine Untersuchung einbeziehen. Der Gelehrte hat dort zahlreiche Vorträge gehalten, deren Inhalte in unterschiedlicher Breite schriftlich überliefert sind und so manche Darlegungen K.s mit zusätzlichem Material unterbauen können.

K. geht es darum, die eben angedeutete enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Religion, konkret zwischen Erdgeschichte und Heilsgeschichte, wie sie bis tief in das 18. Jh. sozusagen eine opinio communis bildete, an Scheuchzers Vorstellung von der Naturgeschichte, vor allem aber an seiner Sintfluttheorie zu verdeutlichen. Die mehrfach formulierte Hauptthese der Arbeit, die in der intensiven Rekonstruktion von Scheuchzers Bild der Naturgeschichte überzeugend begründet wird, bildet die Aussage, die moderne Wissenschaft nehme nicht erst mit der Trennung von Theologie und Wissenschaft ihren Anfang, sie habe vielmehr ihre ersten Schritte in enger Verknüpfung mit der Religion vollzogen. Gott hat sich, so Scheuchzer, in der Schrift wie in der Natur gleichermaßen offenbart, sie können sich einander nicht widersprechen. So wird in der Genesis über die Sintflut berichtet, zugleich aber bezeugt die Natur dieses Ereignis. Bahnbrechend war hier Thomas Burnet mit seinem Buch "Telluris Theoria Sacra" (1681), auf das sich auch Scheuchzer stützte. Von den Zeitgenossen wurde dessen Bedeutung sofort erkannt: Die Leipziger "Acta Eruditorum", die das Buch alsbald nach seinem Erscheinen rezensierten, weisen sogleich am Anfang der Besprechung auf Burnets zentralen und für die weitere Entwicklung entscheidenden Ansatz hin: Bei der Untersuchung der Natur sind wohl die allgemeinen Sätze der Schrift zu berücksichtigen, jedoch ist keine Auslegung der Schrift zuzulassen, die der Vernunft und der Beobachtung der natürlichen Dinge widerspricht (Jg. 1682, 70f.). Folgerichtig kann die herkömmliche Erklärung der Sintflut als ein göttliches Wunder nicht akzeptiert werden; sie war ein durchaus natürliches Ereignis.

In diesem Zusammenhang gewinnen in der weiteren Diskussion die "Figurensteine" (nach der heutigen Begrifflichkeit Fossilien) zentrale Bedeutung: Sie sind für Scheuchzer (nach Vorbild des Engländers John Woodward) keine Zufallsprodukte der blind spielenden Natur, so die bisher geltende Auffassung, sondern Zeugnisse des Lebens der vordiluvialen Welt, die damit zugleich die Konstanz der Arten über alle Zeiten hinweg belegen; deshalb die hohe Bedeutung, die Scheuchzer dem vermeintlichen Fund der Überreste zweier menschlicher Opfer (in Wirklichkeit Riesensalamander) der Sintflut beimaß (der berühmte Homo Scheuchzeri). Wir stehen hier an den Anfängen neuer wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Geologie und der Paläontologie. K. geht es allerdings noch um mehr: Er will zeigen, wie in einer neuen, am Ende des 17. Jh.s einsetzenden Deutung des Ereignisses der Sintflut Sichtweisen deutlich werden, die fortan das europäische Denken bestimmten. Am folgereichsten ist die optimistische Sicht auf die bestehende postdiluviale Welt, die sich jetzt entfaltet. Diese erscheint nicht mehr als zerstört (natura lapsa) im Vergleich zur vorangegangenen paradiesischen Welt, sondern als eine durchaus gleichwertige Neuschöpfung, als schön und nützlich eingerichtet. Dass der gegenwärtigen Welt gleichwohl noch manche Übel anhaften, wird von Scheuchzer eingeräumt, aber im Rückgriff auf Leibniz' Theodizee werden diese Übel als nur scheinbar erkannt: Sie sind von Gott eingerichtet worden, um letztendlich Gutes zu bewirken. Vor allem aber bieten die Mängel des Postdiluviums den Menschen den Ansporn zur Umgestaltung der Welt zu einem Mundus optimus; der Fortschrittsglaube des Aufklärungsjahrhunderts sei hier mit Händen zu greifen. Kritisch ist allerdings zu vermerken, dass sich K. kaum mit der Position der Sintfluterzählung innerhalb der zeitgenössischen Theologie befasst, beim Leser vielmehr den Eindruck erweckt (vor allem unter Hinweis auf Luther-Zitate), sie werde dort allein als Fortsetzung des mit dem Sündenfall einsetzenden Verfalls der Welt betrachtet. Die Sintflut findet jedoch ihren Abschluss mit dem neuen Bund zwischen Gott und Noah, der die Garantie der fortan ungefährdeten Bewahrung der Welt enthält. So ist auch die Vorstellung, die Verwendung der Wissenschaft zum Zwecke des menschlichen Nutzens sei legitim, der Theologie der Zeit durchaus nicht fremd. Es wäre auch sonst sicher günstig gewesen, den Blick über den naturwissenschaftlichen Raum hinaus auszuweiten. Vorstellungen von einer Verbesserung der Welt im Hier und Heute waren im ausgehenden 17. Jh. allenthalben verbreitet, beispielsweise im Pietismus, aber nicht nur dort. Diese kritischen Bemerkungen sollen die Ergebnisse der Arbeit keineswegs in Frage stellen, sondern nur auf den größeren Kontext verweisen, in dessen Bereich sich K.s Untersuchung bewegt. Die Entstehung des Fortschrittsglaubens ist ein Thema, das noch lange nicht hinreichend behandelt worden ist und nur durch verstärkte interdisziplinäre Forschungen bewältigt werden kann.

K.s im Übrigen auch gut lesbar geschriebener Studie kann man nur wünschen, dass sie von möglichst verschiedenen Fachkreisen entsprechend zur Kenntnis genommen wird. Ihre mit reichem Quellenmaterial abgesicherten Thesen, die in vorliegender Rezension nur andeutungsweise referiert werden konnten, bereichern deutlich die Diskussion um die Ursprünge der modernen Wissenschaft und bieten Orientierungspunkte für die weitere Forschung. Für die Beschäftigung mit der Theologie- und Kirchengeschichte des Aufklärungszeitalters bedeutet K.s Buch eine überzeugende Aufforderung, dem Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft stärkere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Das Buch enthält 40 Abbildungen (meistens des 17./18. Jh.s), die manche Darstellungen K.s hervorragend zu illustrieren vermögen. Als positiv anzumerken ist auch die gediegene und geschmackvolle Ausstattung des Bandes durch den noch wenig bekannten "bibliotheca academia Verlag", die die Lektüre der Untersuchung auch zu einem optischen Erlebnis werden lässt.