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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1314–1316

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jakubowski-Tiessen, Manfred, u. Hartmut Lehmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 358 S. m. Abb. u. 1 Kt. 8. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-525-36271-4.

Rezensent:

Harm Klueting

"Krise" ist eine Kategorie kirchengeschichtlicher Forschung, seit Winfried Zeller 1952 von der "Frömmigkeitskrise" sprach, die er in der Bewusstwerdung des Widerspruches zwischen Rechtfertigungsglauben und Lebenspraxis in der dritten nachreformatorischen Generation des Luthertums sah. "Krise" ist auch eine Kategorie der Allgemeinhistoriker, die Eric J. Hobsbawm 1954 in "The General Crisis of the European Economy in the 17th Century" und Hugh Redward Trevor-Roper 1956 in "The Crisis of the Seventeenth Century" auf die Themenliste setzten. Seitdem deklinierten Historiker viele Krisen durch, von den politischen Krisen bis zur Klimakrise des "Little Ice Age[s]". H. Lehmann (Zeitalter des Absolutismus, 1980, Kap. III) und M. Jakubowski-Tiessen (Krisen des 17. Jahrhunderts, 1999) haben Zellers Frömmigkeitskrise mit der allgemeinen Krise des 17. Jh.s in Beziehung gesetzt und damit auch für die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte Anregungen geliefert. Das gilt auch für die vorliegende Aufsatzsammlung.

Wolfgang Behringer behandelt auf mehr als 100 Seiten "Die Krise um 1570": "Die erste wirklich große Krise der frühneuzeitlichen Phase der Kleinen Eiszeit war die Krise von 1570 [...]. Als komplex wird diese Krise bezeichnet, weil mancherorts die ungünstigen 1560er Jahre fast nahtlos in diese Krise einmündeten, und anderenorts die Krise sich weit in die 1570er Jahre hinein fortsetzte. Das Krisensyndrom im engeren Sinn wurde zudem von regionalen Sonderentwicklungen verschärft, etwa den Epidemien der Beulenpest in den Ostalpen und einer verheerenden Sturmflut an der Nordseeküste. Die Krise im engeren Sinn setzte mit verheerenden Missernten in Osteuropa ein, die 1569 von Russland über die Ukraine und Polen bis nach Böhmen, Österreich und Norditalien reichten, wo die Wein- und Getreideernte komplett missriet und schwere Seuchen ausbrachen. Sie erreichte im Winter 1570/71 in Zentraleuropa ihren Höhepunkt, als Menschen auf offener Straße verhungerten und erfroren, und selbst Wölfe aus den Wäldern kamen und Reisende anfielen" (54f.). Das sind keine Fabulierereien zeitgenössischer Chronisten. Die von der klimageschichtlichen Forschung gesicherten Indikatoren bestätigen extrem kalte Winter, kurze Wachstumsperioden in den Frühjahren und kühle und regenreiche Ernteperioden im Sommer und Herbst, wobei Vulkanismus als Hauptursache (Beeinträchtigung der Sonneneinstrahlung durch Konzentration vulkanischer Aerosole in der Atmosphäre) wahrscheinlich ist. Die dadurch ausgelösten Ernteausfälle, die durch sie verursachte Hungerkrise, die mit Mangelernährung verbundene Anfälligkeit für Epidemien, darunter die Pest, der Anstieg der Sterblichkeit ("Mortalitätskrise") und soziale Folgen wie Kindsmord, Selbstmord oder Eigentumsdelikte wurden von den Zeitgenossen im Zeichen von Sünde und Buße wahrgenommen, von den Theologen konfessionsübergreifend als Strafe Gottes verstanden und von den Obrigkeiten mit Disziplinierungsmaßnahmen beantwortet. Das ist das, was Historiker "Sozialdisziplinierung" nennen. B. bringt auch die Zunahme der Hexenverfolgungen mit der Hungerkrise von 1570 in Verbindung. Neben der religiös-theologischen beleuchtet er auch die zeitgenössische medizinisch-naturwissenschaftliche Wahrnehmung der Krise, die zu materialistischen Positionen und zu praktischen Lösungsversuchen wie der Vorsorge durch Anlage von Getreidespeichern oder Hygienemaßnahmen führte.

Heinrich Dormeier fragt nach "Pestepidemien und Frömmigkeitsformen in Italien und Deutschland", knüpft an das Pestbanner von 1464 in S. Francesco al Prato in Perugia interessante Beobachtungen an und stellt die Tatsache heraus, dass in Italien nicht nur die schriftlichen Quellen viel reicher fließen als nördlich der Alpen, sondern auch materielle Zeugnisse wie Pestaltäre oder Pestbilder früher und in größerer Zahl anzutreffen sind. Man erfährt vieles über Heiligenverehrung in Pestzeiten des Spätmittelalters - die Mutter Gottes als Schutzmantelmadonna, die Rolle der Stadtpatrone und spezielle Pestheilige wie Bernardin von Siena, Sebastian, der - nie kanonisierte - heilige Rochus (ital. S. Rocco), dem in Italien rund 3000 Kirchen und Kapellen geweiht sind

Fussnoten:

eine kleine Korrektur: Trient/Trento liegt im Etsch-/ Adige-Tal, nicht im Inntal