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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1310–1313

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Fleisch, Paul

Titel/Untertitel:

Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur Oxford-Gruppen-Bewegung Frank Buchmans. Hrsg. v. J. Ohlemacher.

Verlag:

Gießen-Basel: Brunnen Verlag 2003. XXXIV, 446 S. m. 1 Porträt. 8 = Kirchengeschichtliche Monographien, 10. Geb. Euro 39,95. ISBN 3-7655-9479-2.

Rezensent:

Martin Ohst

Paul Fleisch (1878-1962), von 1932-48 mit politisch bedingter Unterbrechung (1933-37) Geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamts in Hannover, hat schon vor dem I. Weltkrieg eine Reihe profunder Untersuchungen zu unterschiedlichen Erweckungsphänomenen des späten 19./frühen 20. Jh.s vorgelegt. Damals bat ihn Theodor Jellinghaus, ein Protagonist der Heiligungsbewegung, der an dieser irre geworden war, auch über sie eine kritische Untersuchung zu publizieren. An der Erfüllung dieses Wunsches hat F. gearbeitet, soweit es seine Lebensumstände zuließen, auch unter erheblich erschwerten Bedingungen: 1943 wurde seine Bibliothek, eine wohl einmalige Sammlung der einschlägigen Literatur, bei einem Bombenangriff auf Hannover zum Raub der Flammen. Kurz vor seinem Tode konnte er die Arbeit noch abschließen, fand jedoch keinen Verleger. - Jörg Ohlemacher, der gegenwärtig führende Spezialist für dieses Arbeitsgebiet in Deutschland (vgl. ders., Evangelikalismus und Heiligungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: U. Gäbler u. a. [Hrsg.], Geschichte des Pietismus Bd. 3, Göttingen 2000, 371-391), hat nun das Typoskript kritisch geprüft, insbesondere die Riesenzahl von Zitaten aus ganz abseitigen Quellen kontrolliert, den Text mit einer Einleitung zum Verfasser und seinem Werk versehen und publiziert - ergänzt durch eine umfängliche internationale Bibliographie weiterführender Literatur.

Die Episode deutscher Kirchengeschichte, die F. untersucht, beginnt 1874 mit dem Auftreten des amerikanischen Ehepaars George Pearsall Smith und Helen Withall Smith: Sie vertraten die besonders im Methodismus George Wesleys vorbereitete und in unterschiedlichen Denominationen in den USA schon länger virulente These, dass es dem glaubenden, gerechtfertigten Christen möglich sei, eine Stufe der Heiligung zu erreichen, auf der er dauerhaft bewusste Sünde vermeiden könne. Es sei also möglich, den Christenstand auf eine höhere, freudige Ebene der Vollendung zu heben, auf der er nicht mehr durch das Widerspiel von Sünde und Buße bestimmt sei. Das Ehepaar Smith propagierte diese Ansicht auf einer Europa-Reise vor allem in England. An einer großen Versammlung in Oxford, die das Ehepaar Smith und ihre Anhänger vom 29. August bis zum 7. September 1874 veranstalteten ("Oxforder Segenstage"), nahmen auch deutsche Geistliche aus pietistischen und erweckten Milieus teil. Sie waren tief beeindruckt und verbreiteten diese Lehre in den folgenden Jahren in ihren Wirkungskreisen und Vereinigungen sowie durch Zeitschriften, Pamphlete und Bücher. F. verfolgt die von hier ausgehende deutsche Heiligungsbewegung, die einen wichtigen Faktor beim Zustandekommen der Gemeinschaftsbewegung (1. Gnadauer Pfingstkonferenz 1888) bildete, bis zum Aufkommen der Pfingstbewegung in Deutschland (seit 1907), was die Heiligungsbewegung wichtiger Protagonisten beraubte und die Gemeinschaftsbewegung insgesamt in eine schwere Krise stürzte.

Die gesamte personen- und ereignisgeschichtliche Seite der Zusammenhänge ist in F.s Darstellung weitestgehend ausgeblendet - so spricht F. zweimal vom "Fall" des George Pearsall Smith, aber der Leser erfährt nirgends, was damit konkret gemeint ist (63 f.365). Solche Informationen finden sich allerdings konzentriert und zuverlässig in den entsprechenden Artikeln der 2. Aufl. der RGG, die von F. stammen. Es hätte den Gebrauchswert des Buches sicher noch weiter gesteigert, wenn die wichtigsten von ihnen anhangsweise beigefügt worden wären. Auch die frömmigkeitsgeschichtliche Perspektive bleibt stark unterbelichtet: Der eigentliche "Geist" der Bewegung ließe sich wohl am besten aus ihren Liedern erheben, die F. nicht berücksichtigt. Erst recht sozial- und mentalitätsgeschichtliche Zugänge sucht man in seiner Arbeit vergeblich. F.s Interesse gilt ausschließlich der Ebene der theologischen Reflexion. Er will in eingehender, vor aller Kritik um unvoreingenommenes Verstehen bemühter Analyse zeigen, wie akademisch geschulte deutsche Theologen die von amerikanischen Laien ausgehenden Impulse sichteten und systematisierten und sich dabei bemühten, bestimmte mögliche Irrtümer zu vermeiden und auszuscheiden. So stellt er zunächst die Ursprünge der "Oxford- Lehre" dar (17-50) und macht hier auf das theologische Grundproblem aufmerksam: Das "Höhere Leben", das "Bleiben in Christo" wird einerseits als mystisches Verhältnis geschildert, in dem der Mensch rein rezeptiv ist; zum andern wird es als Resultat der Willensanstrengung verstanden, mit der sich der Gläubige Christus immer neu "übereignet" (grundlegend 41- 47). Diese beiden Gedankenreihen stehen bei den amerikanischen Protagonisten der Bewegung letztlich unvermittelt nebeneinander.

Das Kapitel über "Die Anfänge einer deutschen Heiligungsbewegung" (51-100) geht zunächst den Gründen dafür nach, warum diese amerikanischen Impulse bei einigen Deutschen auf positiven Widerhall trafen: Sie sahen hier eine fröhliche Alternative zu einer (pietistischen) Frömmigkeit, die immer wieder das Scheitern des Frommen beim Fortschreiten in der Heiligung erleben und bewältigen muss und deswegen aus einer depressiven Grundstimmung nicht herausfindet. In ersten Aneignungen wurde deutlich, dass die deutsche Rezeption zwar solche Erscheinungsweisen der Frömmigkeitsbewegung ablehnte, welche den Perfektionismus, also eine dauerhaft sieghafte Stimmung des wahren Christen über alle Versuchungen, propagierte. Übernommen wurde jedoch allgemein die Anschauung, dass es zwei Stufen des Christseins gebe, eine untere allein des rechtfertigenden Glaubens und eine höhere, auf der das neue Leben in der Heiligung bereits einen Vorgeschmack der Vollendung gewährt. Unter dem Obertitel "Die Blütezeit der deutschen Heiligungsbewegung" (101-356) führt F. dann deren drei wichtigste literarische Vertreter vor: den Missionar und brandenburgischen Pfarrer Theodor Jellinghaus (1841-1913), den eigentlichen theologischen Kopf der Bewegung, sodann den württembergischen Pfarrer Otto Stockmayer (1838-1917), endlich den Pommern Jonathan Paul (1853-1931), der seit 1904 an sich den völligen Sieg des Glaubens über die Sünde diagnostizierte und sich später in der Pfingstbewegung hervortat. Nur Jellinghaus hat eine Gesamtdarstellung seiner Auffassung des "heilistischen" Denkens gegeben ("Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum", fünf Auflagen bis 1903, 1911 widerrufen).

Bei den anderen Autoren hat F. eine große Menge von verstreutem Kleinschrifttum verarbeitet. Was er so präsentiert, ist, in durchaus deutlichen individuellen Schattierungen, antitheologische Theologie aus den Federn von akademisch gebildeten Theologen. Sie lavieren unverdrossen zwischen der Scylla des Quietismus und der Charybdis des platten Synergismus; sie versuchen, die Möglichkeiten des konstatierbaren Wachstums in der Heiligung herauszustellen, ohne doch den "einfachen" Christen das Christsein abzusprechen. All das betreiben sie ohne eigentlich systematische Reflexion, ohne jede Mühe um eine geschichtliche Standortbestimmung für das eigene Tun. Scheinbar lassen sie sich allein von der Schrift leiten; die Willkür ihrer Exegesen ist dabei streckenweise schlicht abenteuerlich; die Grenze der unfreiwilligen Selbstparodie ist definitiv dort erreicht, wo Stockmayer aus dem textkritischen Apparat seines Griechischen Neuen Testamentes eine abweichende Lesart zu Apc 1,5 heranzieht, um daraus wichtige Folgerungen zu ziehen (234). In dieser Atmosphäre der scheinbar geschichtslosen Unmittelbarkeit zum Neuen Testament können unkontrolliert allerlei heterogene Sedimente aus der Frömmigkeits- und Theologiegeschichte wirksam werden: F. macht mehrfach darauf aufmerksam, dass die Lehre von einer substanzhaft gedachten Gnade bzw. "Kraft" Jesu Christi bzw. seines Blutes deutlich an die Theorie der gratia infusa erinnert (vgl. z. B. 142-148. 206.231); ihr entspricht die Vorstellung vom Sündenzunder, der auch beim Christen auf der höheren Stufe noch vorhanden ist (150.193). Die kasuistische Klassifikation der Sünden (149- 157) erinnert an mittelalterliche Seelsorger wie Johannes Gerson, wenngleich sie, bedingt durch die Prüderie der Zeit, nie dessen realistische Anschaulichkeit zeigt (vgl. jedoch die ebenfalls symptomatische Konzentration auf das Gebiet des Erotischen und Sexuellen: 194.238). Allein schon die ganze Vorstellung von klar voneinander abgrenzbaren "Stufen" christlicher Existenz mitsamt den anderen genannten Indizien lässt beim Lesen immer wieder die Erinnerung an die Abstammungsurkunde aufkommen, die Albrecht Ritschl dem Pietismus ausgestellt hat - der Rückbezug J. Pauls auf Bernhard von Clairvaux, Thomas von Kempen u. a. (356) verstärkt diesen Eindruck nur noch zusätzlich.

Dennoch: Die Heiligungsbewegung, wie F. sie anhand ihrer wichtigsten literarischen Vorkämpfer charakterisiert, weist einen spezifisch modernen Zug auf: Das Bestreben, die Vollendung christlicher Existenz soweit wie irgend möglich als Gegenstand möglicher Erfahrung in der gegenwärtigen Welt zu erweisen, deutet darauf hin, dass auch hier der Ewigkeitshorizont christlicher Hoffnung eigentümlich blass geworden ist. Der Gedanke, dass der Christ in aller Anfechtung doch froh sein darf, weil er "das Allerbest in jener Welt zu hoffen" hat (EG 399,10), bietet offenbar für diese nach ihrer eigenen Einschätzung Frommen und Rechtgläubigen keine wirklich durchgreifende Orientierung. Dieser Eindruck verstärkt sich nochmals bei F.s anhangsweiser Schilderung der "Oxford-Gruppenbewegung" und ihres allmählichen, fließenden Übergangs in deutlich chiliastisch grundierte fromme Weltverbesserungsphantasien (395 f.).

Das Bild, das F. von der Heiligungsbewegung zeichnet, ist einseitig theologiegeschichtlich orientiert und somit unvollständig. Dennoch - es erhellt gerade in seiner Konzentration auf diese Facette wichtige Charakterzüge einer Frömmigkeitsbewegung, deren Motive, wie Ohlemacher betont, auch in der Gegenwart weithin wirksam sind (XVII). Darum ist abschließend dem Herausgeber dafür zu danken, dass er durch mühevolle, zeitraubende Arbeit das Erscheinen dieses Werks mehr als 40 Jahre nach dem Tode des Verfassers ermöglicht hat.