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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1305–1309

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

1) Wilckens, Ulrich 2) Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

1) Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Geschichte der urchristlichen Theologie. Teilbd. 1: Geschichte des Wirkens Jesu in Galiläa.

2) Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Geschichte der urchristlichen Theologie. Teilbd. 2: Jesu Tod und Auferstehung und die Entstehung der Kirche aus Juden und Heiden.

Verlag:

1) Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2002. XVI, 343 S. 8. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-7887-1894-3.

2) Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. XII, 289 S. 8. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-7887-1895-1.

Rezensent:

Ferdinand Hahn

Ulrich Wilckens, der früher Neutestamentler in Berlin und Hamburg, zuletzt Bischof in der Nordelbischen Kirche war, hat ein umfangreiches Werk in Angriff genommen, das insgesamt drei Bände in fünf Teilbänden umfassen wird. Der umfangreichste erste Band behandelt in drei Teilen die Geschichte Jesu und der Urchristenheit bis zur Kanonbildung, der zweite Band erörtert anhand von Themen die Einheit des neutestamentlichen Zeugnisses und der dritte Band ist einer methodenkritischen Neuorientierung vorbehalten. Die beiden bisher erschienenen Teilbände ergeben noch kein vollständiges Bild, lassen jedoch die Konturen des Werkes bereits deutlich erkennen. Insofern ist eine Besprechung der bereits vorliegenden Darstellung durchaus sinnvoll.

1. Was das Werk insgesamt auszeichnet, ist die konsequent theologische Ausrichtung. Angesichts der gegenwärtig verbreiteten Tendenz, eine wertfreie Religionsgeschichte des Urchristentums abzufassen - so Heikki Räisänen oder Gerd Theißen - geht es W. um die verbindliche Glaubensgrundlage des Christentums, die er anhand der neutestamentlichen Texte aufzeigt. Er beschränkt sich daher in seinem Gesamtentwurf auch nicht auf eine theologiegeschichtliche Darstellung, sondern beabsichtigt, deren Ergebnisse thematisch zusammenzufassen. In dieser doppelten Zielsetzung ist das Werk uneingeschränkt zu begrüßen. Wie bei jedem beachtenswerten Werk werden allerdings auch Probleme aufgeworfen, die eine weitere Diskussion veranlassen. Das betrifft sowohl die methodologische Grundlegung als auch zahlreiche exegetische Einzelentscheidungen.

2. In dem einführenden Kapitel (I/1, 1-66) behandelt W. neben der Relevanz und der christlichen Deutung des Alten Testaments (1-14) die "Problematik einer Theologie des Neuen Testaments auf der durch die Aufklärung gelegten Basis historischer Bibelkritik", wobei ihm an "kritischer Revision der historischen Bibelkritik" liegt (14-40). Er geht eingangs bereits grundsätzlich darauf ein, will aber später im abschließenden dritten Band noch einen ausführlichen Beitrag zur methodenkritischen Neuorientierung vorlegen. Wegen ihrer geistesgeschichtlichen Prämissen sei die historisch-kritische Methode unangemessen, müsse daher durch eine andere Art der Geschichtsbetrachtung ersetzt werden. Nun ist allerdings zu fragen, ob die zweifellos problematischen aufklärerischen Prämissen nicht längst so weit abgebaut worden sind, dass eine differenzierte Methodik entstanden ist, die bei aller Ergänzungs- und Korrekturfähigkeit durchaus als textadäquat angesehen werden kann. Natürlich spielt bei jedem Vorgehen eine methodische Vorentscheidung eine Rolle, ausschlaggebend ist dabei jedoch, wieweit die Eigenart und Intention eines Textes zur Geltung kommt. Von zentraler Bedeutung ist für W. der Grundsatz, den er in I/1, 24 formuliert hat, dass das den Glauben begründende Geschehen Vorrang vor dem Wort und Zeugnis hat, so unlösbar beides zusammengehört: "So kann in der Exegese biblischer Texte die Rede von Gottes Geschichtshandeln, dem Selbstverständnis aller biblischen Schriften entsprechend, als die primäre Ebene der Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden, zu der Gottes Handeln durch sein Wort zwar wesenhaft hinzugehört, von der dieses aber nicht gelöst und verselbständigt werden darf". Mit dieser These verbinden sich zwei Probleme:

2.1 Das betrifft zunächst die Verhältnisbestimmung von Geschehen und Wort. Kann dabei wirklich der einen oder anderen Komponente der Vorzug gegeben werden? Ist nicht gerade die wechselseitige Korrelation beider ausschlaggebend? Das Geschehen erhält nur durch das Wort seine klare Bestimmung, und das Wort erweist sich erst im Zusammenhang mit einem Geschehen in seiner Geschichtsmächtigkeit.

2.2 Geschehen und Wort von einst sind uns nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur durch das Medium der Vermittlung, im Falle des Neuen Testaments durch das Medium überlieferter Texte. Insofern kann ich nicht unreflektiert vom Geschehen und/oder vom Wort ausgehen, sondern bin auf das Zeugnis angewiesen, das Menschen abgelegt haben. In jedem Fall ist dabei der Rezeptionsprozess zu berücksichtigen, der zu den uns überlieferten schriftlichen Traditionen geführt hat. Das bedeutet, dass ich bei der Geschichte Jesu wie bei seinem Wort auf die Weitergabe in Gestalt eines Bekenntnisses angewiesen bin. Das schließt keineswegs aus, dass das für die Weitergabe wesentliche Geschehen und Wort erkennbar wird, aber eben durch die worthafte Vermittlung. Zweifellos ist der überlieferte Text Ausdruck der Betroffenheit durch ein vorausgegangenes Geschehen, aber dieses Geschehen ist aufbewahrt in dem uns erhalten gebliebenen Wort der Zeugen. Es ist daher methodisch zu berücksichtigen, dass wir den Zugang zum Offenbarungsgeschehen nur über das Wort der Zeugen haben. Deswegen ist es m. E. unerlässlich, bei dem Textzeugnis einzusetzen. Hinzu kommt, dass das urchristliche Zeugnis schon mit einem ersten Nachdenken über die Bedeutung für den Glauben, also mit theologischer Reflexion, verbunden ist.

3. Der von W. vertretene Grundsatz hat Konsequenzen für die Darstellung. Es geht in den beiden ersten Teilbänden primär um die Geschichte Jesu und der Urchristenheit, dergegenüber die variierenden Elemente in den neutestamentlichen Texten, in denen sich unterschiedliche theologische Reflexion spiegelt, eine untergeordnete Bedeutung besitzen. Unter dieser Voraussetzung gewinnt die Schilderung einen ausgesprochen narrativen Charakter, was der Lesbarkeit zugute kommt. Das wirkt sich aber in der Weise aus, dass es im ersten Band trotz des gewählten Untertitels letztlich nicht um eine "Geschichte der urchristlichen Theologie" geht, sondern um eine Geschichte Jesu und der Urchristenheit in theologischer Perspektive (anders möglicherweise in I/3). Im Einzelnen ergeben sich daraus charakteristische Folgerungen:

3.1 Überlieferungsvarianten bei Erzählstücken oder Jesusworten treten spürbar zurück, da es für W. um das erkennbare Geschehen selbst oder den entscheidenden Inhalt einer Aussage geht. Es wird deshalb vielfach eine Grundgestalt postuliert, ohne dass dies im Einzelnen begründet wird. Die Vielfalt der Aspekte, die im Überlieferungsprozess hervorgehoben wurden, werden zwar nicht übersehen, aber in der Regel doch nur beiläufig berücksichtigt. Es soll ja ein eindeutiger Befund sichtbar gemacht werden. Demgegenüber ist aber zu fragen, ob nicht doch das in vorösterlicher Zeit Geschehene oder Gesagte nur im Facettenreichtum der überlieferten Texte erkennbar wird.

3.2 Darüber hinaus werden von W. mehrfach Rückschlüsse gezogen auf Erfahrungen oder Beweggründe, die nicht ohne weiteres historisch greifbar sind. So geht er davon aus, dass etwa bei dem Bericht über die Taufe von einer Vision und einem Berufungserlebnis Jesu gesprochen werden könne (I/1, 97-110). Hier ist uns jedoch eine Grenze gesetzt. Dabei sei nicht bestritten, dass die Taufe Jesu durch Johannes eine entscheidende Bedeutung für Jesus gehabt hat, zu überlegen ist nur, wieweit man auf sein eigenes Erlebnis zurückschließen darf; denn der Text ist doch, wie die Varianten zeigen, zunächst einmal Ausdruck des christologischen Bekenntnisses der Jünger. Für die synoptische Überlieferung fallen Jesu Taufe und Beauftragung zusammen. Aber was bedeutet es, dass sich auf Grund der johanneischen Darstellung die Frage stellt, ob Jesus nicht im Anschluss an die Taufe durch Johannes zunächst für eine gewisse Zeit dessen Jünger gewesen ist und möglicherweise erst etwas später einen Auftrag zu eigener Wirksamkeit empfangen hat? Insgesamt ist m. E. festzuhalten, dass wir bei einer historischen Rückfrage zwar methodisch zuverlässig den von Jesus erhobenen Anspruch erkennen, aber darüber hinaus nicht auf sein Selbstbewusstsein rekurrieren können.

Das bedeutet, dass im Zusammenhang mit Jesu Wirken zwar seine Vollmacht sichtbar wird, diese ist jedoch nicht auf Grund von eindeutigen Selbstaussagen bestimmbar, sondern auf Grund seiner Botschaft und seines Wirkens. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil wir wissen, wie stark in nachösterlicher Zeit die Tendenz bestand, Jesu Heilsmittlerstellung durch Bekenntnisformulierungen in Gestalt von Selbstaussagen zu artikulieren. An dieser Stelle stehen wir allerdings methodisch vor einem Dilemma: Mag im einen Fall eine exegetische Feststellung den tatsächlichen Sachverhalt verkürzen, so im anderen diesen historisch überinterpretieren. Zumindest ist darin ein Anlass gegeben, bei der Interpretation behutsam vorzugehen.

3.3 Auf die Behandlung der Taufe und Versuchung Jesu folgen ausführliche Darlegungen über Jesu Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft, über das Verhalten gegenüber Sündern und Gerechten, über Nachfolge und Gesetzesverständnis. Brisant wird die Darstellung wieder in dem Schlussabschnitt des ersten Teilbandes, wo die Aussendung der Jünger und eine weitgehende Ablehnung der Verkündigung Jesu mit der These einer galiläischen Krise verbunden werden, die zu einer Hinwendung nach Jerusalem geführt habe (I/1, 304-327). Dafür mag es in den Synoptikern einige Anhaltspunkte geben, unbestreitbare Gründe dafür liegen allerdings nicht vor. Vor allem ist an dieser Stelle wieder zu berücksichtigen, dass diese Kehre im Johannesevangelium keinerlei Entsprechung hat, zumal dort, historisch wohl nicht unzutreffend, von mehreren Jerusalemaufenthalten Jesu berichtet wird.

3.4 Auf Grund dieser These ist bei W. der zweite Teilband unter ein neues Vorzeichen gestellt: Es geht um die bewusst gesuchte Auseinandersetzung in Jerusalem und vor allem um die mit der Verklärung einsetzende Offenbarung, wer Jesus ist (I/2, 1-23). Die Botschaft von der Gottesherrschaft wird verlagert auf die Bedeutung der Person Jesu als Sohn Gottes, Messias und Menschensohn und dessen stellvertretende Lebenshingabe (24-53). Dabei wird mit der Authentizität einer ganzen Anzahl von Selbstaussagen Jesu über seinen Auftrag und seine Funktion gerechnet. Entsprechend wird auch die erhaltene Abendmahlsüberlieferung - auf Grund einer aus Paulus und Markus erkennbaren Urfassung - als relevant für Jesu vorösterliches Verhalten angesehen, und zwar im Sinn einer "als Sühne wirkenden Umstiftung des Päsachmahls" (65-85). Auf diese Weise werden christologische Zentralaussagen direkt auf Jesus zurückgeführt, was in der exegetischen Forschung zumindest nicht unumstritten ist.

3.5 Die erste Hälfte dieses Teilbandes I/2 mündet ein in einen Abschnitt über die "Grablegung und die Auferstehungsverkündigung im leeren Grab" (107-123), dann folgt ein eigenes Kapitel über "Die Erscheinungen des Auferstandenen als kirchengründende Akte" (124-160). Was hier im Blick auf Ostern auffällt, ist die ausdrückliche Trennung von Grabesgeschichten und Erscheinungsberichten. Das leere Grab mit der Auferstehungsverkündigung gehört für W. zur Offenbarung der Person Jesu, die Erscheinungen besitzen ihre Bedeutung als kirchengründende Akte für die nachösterliche Zeit. Deshalb werden dann in der zweiten Hälfte dieses Teilbandes die Gründung und das Leben der Urgemeinde, die Tradierung der Jesusüberlieferung sowie die Entstehung der Kirche aus Juden und Heiden dargestellt (161-271).

So sehr W. mit Recht daran liegt, den Widerfahrnischarakter des Ostergeschehens hervorzuheben, bei der vorgenommenen Trennung von Osterereignis und Auferstehungserscheinungen drängen sich mehrere Anfragen auf: Ist das Osterereignis denn anders als durch die Erscheinungen des Auferstandenen erfahrbar geworden? Ist die Botschaft des Engels im Grab nicht Reflex der Osterbotschaft der Jünger? Ist das leere Grab, das seinerseits doch nur Zeichenfunktion hat, Zugang zur Erkenntnis des Ostergeschehens? Dafür bleibt doch wohl nur das Zeugnis der Erscheinungen, wie das für Paulus in 1Kor 15,1-11 gilt.

3.6 Im Anschluss an die Ostertradition werden Entstehung und Leben der Urgemeinde in Jerusalem (161-195), dann die Geschichte der Jesusüberlieferung bis zu den Anfängen der Evangelienliteratur (196-229) behandelt; das Schlusskapitel ist dem Problem der Hellenisten, der beginnenden Heidenmission und dem Apostelkonzil gewidmet (230-272). Einmal abgesehen davon, wie man das Verhältnis von Aramäisch sprechender und Griechisch sprechender Urgemeinde bestimmt, stellt sich die Frage, ob man an dieser Stelle nicht neben der Kritik am Tempelkult und der Öffnung zur Heidenwelt auch die Ausbildung der ganzen vorpaulinischen theologischen Konzeption hätte berücksichtigen sollen, auf der Paulus ja aufbaut; aber darauf wird vermutlich der Paulusabschnitt in I/3 noch eingehen.

4. Es kann nicht meine Aufgabe sein, alle Einzelabschnitte bei W. im Detail zu besprechen. Es geht um den Gesamtcharakter des Werkes, daher die Beschränkung auf entscheidende Aspekte und Probleme.

4.1 Wichtig ist für W. die Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Voraussetzungen der historisch-kritischen Methode. Das ist ein berechtigtes Anliegen. Jede Methode bedarf einer immer wieder erfolgenden Überprüfung und Weiterbildung. Es bleibt allerdings die Frage, ob die inzwischen in der Exegese ausgebildete Methode einer so grundlegenden Revision bedarf, wie das hier behauptet wird. Da es um ein geschichtliches Geschehen und um einen geschichtlich überlieferten Text geht, müssen in jedem Fall geschichtsrelevante Zugangsweisen angewandt werden. So klar bei W. der Ansatz und im Einzelnen seine Ergebnisse sind, wie das methodische Gesamtgefüge definitiv aussieht, ist noch nicht eindeutig zu erkennen.

4.2 Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk zweifellos um einen eindrucksvollen, in sich geschlossenen Entwurf, der an der Offenbarungsgeschichte orientiert ist. Dabei muss man sich vor allem die Grundkonzeption vor Augen halten, die durch den Dreischritt der in Jesu Taufe begründeten Verkündigung der Gottesherrschaft, der Offenbarung der Person Jesu in Leiden, Selbsthingabe und Auferweckung und der mit den Auferstehungserscheinungen einsetzenden Kirchengründung gekennzeichnet ist. Angesichts der Rückbindung an dieses heilstiftende Geschehen tritt die theologische Reflexion über die Ereignisse in den Hintergrund bzw. sie wird in einem auf Jesus selbst zurückgehenden Grundmodell verankert. Entscheidend ist das geschichtliche Fundament des Offenbarungsgeschehens. Nun soll die Notwendigkeit der Rückbindung an Jesu Person und Geschichte keinesfalls in Frage gestellt werden. Das offene Problem bleibt jedoch, ob die christologische Verkündigung der nachösterlichen Zeit so weitgehend auf explizite Selbstaussagen Jesu zurückgeführt werden kann. In jedem Fall ist doch Jesu Verkündigung und Geschick im Lichte des Osterereignisses gesehen und gedeutet worden. Dabei handelt es sich um eine veränderte, wenn auch in engem Zusammenhang mit vorgegebener Tradition stehende Antwort auf die bereits zu seinen Lebzeiten gestellte Frage "Wer ist dieser?" Nun muss die Bestimmung der Bedeutung Jesu sicher aus beiden Richtungen eruiert werden, sowohl von seinem Wirken als auch von seiner Auferstehung her. Für die exegetische Forschung ist es deshalb notwendig, die überlieferten Texte in doppelter Perspektive zu untersuchen, wobei es zu stärkerer Betonung des einen oder anderen Aspektes kommen mag. Da ich selbst eine neutestamentliche Theologie veröffentlicht habe, die vor allem am Zeugnischarakter der urchristlichen Texte orientiert ist, mögen sich unsere Darstellungen ergänzen und wechselseitig zu kritischer Prüfung Anlass geben. Die Auslegung der biblischen Texte ist, solange wir auf Erden leben, nie abgeschlossen, sondern muss immer neu durchgeführt werden. Entscheidend ist dabei für eine neutestamentliche Theologie das im Neuen Testament bezeugte Heilsgeschehen, das unseren Glauben begründet. Darin stimme ich mit W. überein.