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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1301–1303

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mineshige, Kiyoshi

Titel/Untertitel:

Besitzverzicht und Almosen bei Lukas. Wesen und Forderung des lukanischen Vermögensethos.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVI, 297 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 163. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-16-148078-3.

Rezensent:

Christoph Stenschke

Dass das lukanische Doppelwerk ein besonderes Interesse an Armut und Reichtum hat und am richtigen Umgang mit beidem, ist bekannt. Mehrere Aufsätze und Monographien greifen dieses Interesse auf (z. B. H.-J. Degenhardt, W. Schmithals, W. Stegemann, D. P. Seccombe, F. W. Horn), das nicht nur in der neutestamentlichen Wissenschaft von Bedeutung ist. Während andere Studien versuchen, die verschiedenen, teils gegenläufigen lukanischen Tendenzen, nämlich Besitzverzicht und Almosengeben, zu harmonisieren, will M. untersuchen, "ob Almosengeben und Besitzverzicht bei Lukas nicht eher eine voneinander verschiedene Bedeutung und Funktion haben" (9). Ferner möchte er klären, wie Lukas Besitzverzicht und Almosengeben schildert und welches Verhalten er mit diesen Aussagen von den Christen seiner Zeit fordern will (9 f.).

Nach einem knappen Forschungsüberblick (2-9) geht es im ersten Kapitel um Arme und Reiche im LkEv (13-38). Wer sind sie und was hält Lukas von ihnen? M. beginnt mit den Seligpreisungen der Armen und den Weherufen über die Reichen (beide sind an Jünger gerichtet, 21 f.), wendet sich auf dieser Grundlage dem lukanischen Bild der Armen und Reichen zu, der Umkehrung der Verhältnisse von Armen und Reichen (1,51-53; 6,20-26; 16,19-26) und schließt auf die soziale Zusammensetzung der lukanischen Gemeinde ("... vorwiegend an Wohlhabende, obwohl sie in der Gemeinde gegenüber den Bedürftigen sicherlich in der Minderzahl waren", 38). Die Bezeichnung "Arme" wird nicht im ethischen oder religiösen Sinn gebraucht, "sondern bedeutet wirklich Arme, ... die überhaupt nichts haben. ... Dabei geht es weder um ihr eigentliches Verhalten, noch um ihre religiöse Haltung. Lukas bezeichnet die Armen nicht als fromm und er idealisiert sie auch nicht" (39). Dass auch Reiche gerettet werden können, wird nicht ausgeschlossen. Ob die Reichen allerdings durch das Almosengeben gerettet werden (39), zeigen die Texte nicht. Ist die Gabe des Zachäus (19,1-10), auf den M. verweist, tatsächlich nur ein "Almosen"? Ist sie Grundlage oder Folge der Rettung, die im Kontext deutlich dem Wirken des Menschensohns zugeschrieben wird? Neben dem geforderten Besitzverzicht steht bei Lukas der Ruf in die Nachfolge (vgl. 18,18-22)!

Das zweite Kapitel (40-107) gilt dem Besitzverzicht der ersten Jünger in den Berufungsgeschichten (5,1-11.27-32; Besitzverzicht als notwendiger Ausdruck der Nachfolge und der Umkehr), in 9,57-62;14,25-35 (Vom Ernst der Nachfolge), 18,18-30 (Reicher Jüngling) und dem Zusammenhang zwischen Nachfolge und Selbstverleugnung (9,23-27). In diesen Texten handelt es sich um Besitzverzicht im wörtlichen Sinne, nicht etwa um innerlichen Besitzverzicht. Gleichzeitig geht es Lukas aber nicht um ein Armutsideal: "Vielmehr ist Lkj23

wichtig, dass die ersten Jünger mit ihrer Nachfolge auf ihren ganzen Besitz verzichtet haben. Für Lk hat der Besitzverzicht, ebenso wie der Verzicht auf Familie und Heimat, nur im Zusammenhang mit der Nachfolge Jesu einen Sinn. Dabei ist Besitzverzicht eher eine notwendige Folge der Nachfolge als eine Vorbedingung dafür. In diesem Sinne ist der Besitzverzicht bei Lk ein Ausdruck der Wende in der Lebensweise" (87). Seine Leser fordert Lukas jedoch nicht zum vollständigen Besitzverzicht oder zur Ehelosigkeit auf, denn "Lk betont zwar den Besitzverzicht der Jünger, aber er begrenzt zugleich diesen Akt auf die Lebenszeit Jesu und versteht ihn im Zusammenhang mit der Nachfolge des irdischen Jesus" (89). In den Aussendungsreden (9,1-6; 10,1-12) geht es weder um bloßen Besitzverzicht, noch um ein Armutsideal, "die strengen Ausrüstungsregeln sind vielmehr im Kontext der Aussendung der Boten durch Jesus zu verstehen" (107) und gelten daher nur für die Zeit Jesu.

Im dritten Kapitel untersucht M. das Almosengeben im LkEv (120-209) unter der Fragestellung, wie und von wem diese Freigebigkeit gefordert wird und worin sich Almosen vom Besitzverzicht unterscheiden. Dazu gehören die rechte Einstellung zum Besitz (12,13-34), die rechte Verwendung von Besitz (16,1-31), die ethischen Forderungen der Standespredigt (3, 10-14), die Aufforderung zur Feindesliebe, das Wort von der inneren und äußeren Reinheit (11,39-41), die Aufforderung zum Einladen der Armen (14,12-14), die Umkehr des Zachäus (19,1-10) und das Opfer der Witwe (21,1-4). Lukas hat seine Auffassung über das Almosengeben aus dem Judentum übernommen, entwickelt und zugespitzt. Almosengeben ist der Gegensatz von Habsucht: Überschüssiges Vermögen soll nicht für sich selbst, sondern für Bedürftige verwendet werden. Das Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen Menschen wird auf die Beziehung zwischen Gott und Menschen verschoben. Die Aufforderungen zum Almosengeben sind im Zusammenhang mit dem Gesetz zu verstehen, sie gelten nicht nur den Reichen, sondern alle Christen sind aufgefordert, nach ihren Möglichkeiten ein Almosen zu geben. Dass denjenigen, die den Armen ein Almosen geben, das Heil verheißen wird (209), kann ich - wie bei M. vertreten - weder in 16,9; 19,8; 12,33 noch in Apg 10,1 ff. sehen. Abschließend stellt M. folgende Unterschiede zwischen Besitzverzicht und Almosengeben zusammen (210): Besitzverzicht ist vollständig (auch Familie, Heimat, Beruf) - Almosengeben betrifft das überschüssige Vermögen; Besitzverzicht hängt mit der Nachfolge Jesu oder der Aussendung durch ihn zusammen - Almosengeben nicht; Besitzverzicht ist auf die Lebenszeit Jesu begrenzt - zum Almosengeben wird auch später direkt aufgefordert; Besitzverzicht erscheint in Erzähltexten - Almosengeben in den Paränesen ("Besitzverzicht gehört zur Geschichte Jesu, Almosengeben zu den an die Gegenwart gerichteten Mahnungen", 210, wobei M. auch auf die Probleme dieser Gegenüberstellungen eingeht, 211-215).

Das letzte Kapitel erhebt das "Vermögensethos der Apg" (216-261) vor allem aus der Beschreibung der spontanen Gütergemeinschaft (sie ist ein Ideal der Anfangszeit, kein erzwungener Besitzverzicht, Privatbesitz besteht weiter, "Lukas will also die Gemeindemitglieder dazu auffordern, die armen Mitglieder durch freiwillige Spenden zu unterstützen", 261; mit einem Exkurs zur Gütergemeinschaft in der Antike). Die Aufforderung zur Freigebigkeit bleibt jedoch bestehen, es geht Lukas vor allem um das Almosengeben innerhalb der Gemeinde. Ferner werden 6,1-6 (Einsetzung der Armenpfleger), Tabita und Cornelius als Vorbilder, 11,27-30 (vgl. dazu B. W. Winter, "Acts and Food Shortages", in D. W. J. Gill, C. Gempf [Hrsg.], The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting, AFCS II; Grand Rapids: Eerdmans; Carlisle: Paternoster, 1994, 59-78), 24,17 und ausführlicher die Wohltätigkeitsparänese der Miletrede (20,33-35) herangezogen. Abschließend fasst M. die Darstellung des Besitzverzichts und Almosengebens bei Lukas sowie die sich daraus ergebenden Aufforderungen an seine Leser zusammen (262-264). Obwohl Besitzverzicht und Almosengeben nicht immer genau zu unterscheiden sind und sich in gewissen Punkten überschneiden, haben sie bei Lukas unterschiedliche Merkmale. Die Beziehung zwischen beiden wird nicht betont. "Es ist unmöglich, die beiden Begriffe bei Lukas auf derselben Ebene zu deuten. Besitzverzicht und Almosengeben haben bei ihm offensichtlich voneinander verschiedene Bedeutung und Funktion" (264).

Methodisch wendet M. die redaktionsgeschichtliche Analyse an. Zu fragen wäre, ob ein stärker narrativ orientierter Ansatz dem Charakter des Doppelwerkes besser entsprechen würde und ob man von einer eigenen narrativen Charakterisierung von Besitzverzicht und Almosengeben sprechen kann. M. gelingt - bei manchen Anfragen im Detail (s. o.) - insgesamt eine überzeugende und weiterführende Analyse und Interpretation, die dem lukanischen Befund gerechter wird als die bisherigen Versuche, die Aussagenreihen von Besitzverzicht und Almosengeben zu harmonisieren. Eine wichtige und anregende Studie für die lukanische Exegese und Theologie sowie für die neutestamentliche und theologische Ethik.