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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1293–1296

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sweeney, Marvin A., and Ehud Ben Zvi [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Changing Face of Form Criticism for the Twenty-First Century.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2003. VIII, 350 S. gr.8. Kart. US$ 54,00. ISBN 0-8028-6067-2.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Das Sammelwerk bietet einen umfassenden, gut orientierenden Einblick in den gegenwärtigen Stand der formgeschichtlichen Debatte, die, wie der Titel andeutet, sich inzwischen von dem traditionellen Ansatz der Gattungskritik erheblich entfernt hat. Nach einer Einführung der Herausgeber (1-11) ist es in vier Hauptteile gegliedert: "I. Theoretical Reflection", "II. The Bible and Ancient Near Eastern Literature", "III. Narrative Literature" und "IV. Prophetic Literature".

Teil I (13-104), der mit seinen methodischen Erwägungen am gründlichsten über die aktuelle Situation biblischer Hermeneutik informiert, umfasst fünf Beiträge. Sie unterstreichen besonders die gegenwärtige Tendenz der amerikanischen Forschung, den Schwerpunkt auf die synchrone Exegese biblischer Texte zu legen und sich reserviert gegenüber der diachronen historisch-kritischen Auslegung zu verhalten, sowie der Erforschbarkeit mündlicher Überlieferung.

Da H. Gunkel in seiner formgeschichtlichen Analyse gerade bei den kleinen, oft mündlichen Einheiten ansetzte, ist die Frage nach "Form Criticism's Future", die A. F. Campbell, S. J., stellt (15-31), nur zu berechtigt. Unter dem Motto: Ein Zurück gibt es nicht, wir müssen weiter (16), schildert C. die Entwicklung seit Gunkel unter der Überschrift "The Rise and Fall of Form Criticism" (16-23). Dass die Formgeschichte Gunkels aus der Mode kam, sieht er in der Hinwendung zum gegenwärtigen Text. Eine bleibende Einsicht der Formkritik sei jedoch die Unterscheidung zwischen dem Typischen und dem Individuellen. Gattungen ließen sich auch für Texte wie Erzählungen, Prophetie, Psalmen, Recht feststellen (27). Neben der Struktur von Texten sei aber auf ihre jeweilige Einzel-Individualität zu achten.

E. Blum, "Formgeschichte - A Misleading Category? Some Critical Remarks" (32-45), empfiehlt, den Begriff "Form", weil für die Struktur eines Textes als missverständlich (mit W. Richter und Ch. Hardmeier), durch "Genre" zu ersetzen. Man könne von einem "genre style" sprechen, der auch eine "uneigentliche" (metaphorische u. a.) Anwendung eines Genres zulasse (34). "Sitz im Leben" gelte dann als "Sprachhandlungsmuster" für typische Kommunikationssituationen in spezifischen Texten (35). Die Konzentration früherer Gattungsforschung auf kleine Einheiten und mündliche Traditionen sei eine Einengung (37). Anregungen W. Richters aufgreifend empfiehlt er, Gunkels "Sitz im Leben" auf die typische Kommunikationssituation, seine Kriterien auf "content structure" in Texten und den "Zweck der Kommunikation" anzuwenden (43). Genre-Forschung bleibt ein wichtiger Aspekt der Exegese.

Auch R. F. Melugin, "Recent Form Criticism Revisited in an Age of Reader Response" (46-64) betont: "form criticism remains an invaluable tool in the study of biblical literature" (46). Wichtig sei jedoch eine Neubesinnung im Hinblick auf "the relationships between what is typical and what is unique in the use of language" [dazu R. Knierim, Int 27, 1973, 435-468] und "the problem of highly speculative reconstruction of settings" (47). M. illustriert den Neugebrauch konventioneller Wendungen an Jes 1,2-20. Für die Probleme historischer Ansetzung eines Textes (52- 58) beruft er sich auf E. Ben Zvis Micha-Kommentar (FOTL 21B, 2000) und zeigt an Mi 2,1-5, dass eine Datierung unmöglich sei. Texte beschrieben oft eine "fiktive" Situation (55). Für die Exegese seien "textually portrayed settings" (58) wichtig. Außerdem macht M. auf die postmoderne "reader response"-Situation aufmerksam, die unterschiedliche Deutungen als berechtigt erscheinen lasse: "historians ... do not simply describe the past but ... play roles as creators of particular portrayels of the past" (62).

R. C. van Leeuwen, "Form Criticism, Wisdom, and Psalm 111-112" (65-84), zeigt am Beispiel der "Zwillingspsalmen", die bei unterschiedlicher Gattung (Ps 111: Danklied, Ps 112: Segen) eine gemeinsame akrostichische Struktur aufweisen, die Problematik traditioneller Formkritik. Nur Ps 112 wird als "Weisheitspsalm" gewertet! Die hier auftauchende Frage nach dem "Sitz im Leben" (79) lässt sich nicht gattungskritisch beantworten. Wohl bilden die eigentlichen Weisheitsbücher Prov, Koh, Hi einen eigenen Bereich im Hinblick auf edukative Ziele, aber eine "weisheitliche" Weltauffassung ist dem ganzen Alten Testament - und alten Orient - gemeinsam.

H. C. P. Kim, "Form Criticism in Dialogue with Other Criticisms: Building the Multidimensional Structures of Texts and Concepts" (85- 104), plädiert für ein Zusammenwirken verschiedenster Methoden bei der Exegese: "redaction criticism, canonical criticism, literary criticism, textual criticism, sociological criticism, archeology, intertextuality, comparative studies ... and reader-response criticism" (103). Die Komponenten "structures, genres, settings, and concepts" bilden "a multidimensional building for a multilayered text" (104). Dabei sei das strukturbestimmende Konzept die Hauptsache (100). Eine Rückkehr zu Gunkel sei unmöglich, weil der Versuch historischer Ansetzung von Texten diese atomisiere (96). Immerhin kann man von der synchronen Ansetzung eines Textes auch zur diachronen weiterschreiten (97). K. macht das an Joel 2 deutlich.

Teil II (105-195) verbindet die Analyse altorientalischer mit biblischen Texten.

M. Rösel, "Inscriptional Evidence and the Question of Genre" (107-121): Die Untersuchung von hebräischen und verwandten Texten in Israel und seiner Umgebung beschäftigt sich mit Segensformulierungen auf Pithoi aus Kuntillet Ajrud, in hebräischen und aramäischen Briefen, außerdem mit königlichen Inschriften und punischen Votivinschriften, schließlich der Balaam-Inschrift vom Tell Deir Alla. Ergebnis: Obwohl die Bestimmung des Sitzes im Leben dieser Inschriften kaum möglich ist, zeigen sie die Entwicklung von älteren, außerbiblischen Texten zu den biblischen und schließen aus, diese als rein literarisch ohne Bezug zu einer historischen Realität zu werten.

M. Nissinen, "Fear Not: A Study on an Ancient Near Eastern Phrase" (122-161), untersucht zahlreiche altorientalische Texte, mit Schwerpunkt auf der neuassyrischen Periode und insbesondere bei Orakel/Prophetie, auf das Vorkommen der Formel. J. Begrichs These über den Sitz im "priesterlichen Heilsorakel" bestätigt sich nicht. Statt dessen zeigt sich eine Herkunft im prophetischen und königlichen Bereich. Der Ursprung der Form liegt im privaten Diskurs, Verwendung auch in Gottesrede, aber kein klar definierbarer Sitz im Leben.

M. S. Odell, "Ezekiel Saw What He Said He Saw: Genres, Forms, and the Vision of Ezekiel 1" (162-176), weist nach, dass die Vision in Ez 1 nach dem Vorbild assyrischer Palastinschriften und Reliefs gestaltet ist.

T. Longman III, "Israelite Genres in their Ancient Near Eastern Context" (177-195), zeigt am Beispiel der "fiktiven Autobiographie" Koh 1,12-12,7 im Vergleich mit akkadischer didaktischer fiktiver Autobiographie, dass der Rahmenerzähler in 1,2-11; 12,8-14 Kohelets ("Salomos") Worte als Folie zur Instruktion seines Sohnes benutzt. Er formuliert Regeln für Entsprechungen und Unterschiede beim Vergleich biblischer und altorientalischer Texte.

In Teil III "Narrative Literature" (197-265) versucht S. Borer, "Kaleidoscopic Patterns and the Shaping of Experience" (199- 216), Formkritik auf die reader-response-Theorie (Iser) zu beziehen. Die Bedeutung des Textes entsteht aus dem Dialog zwischen Leser und Text. Z. B. die Flutgeschichte (Gen 6-8) spiegelt eine transkulturelle und transchronische Lebenssituation, die der Leser auf seine eigene beziehen kann (202).

Beispiel: Der Fehlschlag Moses und seiner Generation, ins gelobte Land zu gelangen (Num 13-14; 32,7-15; Dtn 1,22-2,1). Die Schichten "Vor-P [J]", "P", Endform von Num 13-14 sehen die Schuld bei Mose, Num 32,7-15 bei einer kleinen Gruppe, Dtn 1 beim Volk. Ein Leser mag die endliche Entlastung des Mose begrüßen, ein anderer Num 32,7-15 mit Dtn 1 kombinieren und ein (ihre eigene Schuld entlastendes) Kaleidoskop herauslesen (212). - W. Lee, "The Exclusion of Moses from the Promised Land: A Conceptual Approach" (217-239), behandelt den gleichen Stoff mit der konzeptanalytischen Methode und unterscheidet zwei Traditionen: P, die Mose als Repräsentant Gottes vor dem Volk verantwortlich sieht, Dtn, wo er als Führer als hilflos vor dem Unheil des Volkes erscheint.

T. Römer, "The Form-Critical Problem of the So-Called Deuteronomistic History" (240-252), wendet die formgeschichtliche Methode auf ein literarisches Gesamtwerk an. Mit strikter Ablehnung mündlicher Tradition (sie "does not correspond to any historical reality, but is mostly an invention of OT scholars", 242) fällt die frühere Anwendung dahin. Gibt es überhaupt ein deuteronomistisches Geschichtswerk? Ja, denn 2Kön 17,7-23 ist dessen Summarium. Es beginnt (gegen Versuche, es bis Ex 2 auszudehnen) mit Dtn 1. Viele seiner Einzelformen sind Nachahmung assyro-babylonischer literarischer Konventionen. Das ganze Werk ist jedoch eine "Bibliothek", zu charakterisieren als narrative Geschichte.

B. Becking, "Nehemia 9 and the Problematic Concept of Context (Sitz im Leben)" (253-265), betrachtet Neh 9,6-37 als "Bußgebet", leugnet aber eine spezielle Bußzeremonie als Hintergrund. "Sitz im Leben" sei ein problematischer Begriff, weil eine Form auch sekundär angewendet werden kann.

Teil IV "Prophetic Literature" (267-350) beginnt mit einem Beitrag, der auf die Pluralität prophetischer Literatur verweist.

D. L. Petersen, "The Basic Forms of Prophetic Literature" (269-275), unterscheidet gegen C. Westermann (Unheilsankündigung als Grundform) fünf Rollen von Prophetie: rah "Seher" (Wahrsager), chsh "Visionär", nbja "Wortempfänger, Sprecher", ajs halhjm "Gottesmann" (Elia und Elisa als Repräsentanten des Heiligen) und Personen ohne Titel (Mari-Prophetie).

E. Ben Zvi, "The Prophetic Book: A Key Form of Prophetic Literature" (276-297), untersucht die Gesamtform prophetischer Bücher. Das "Buch" ist "a self-contained written text that was produced within ancient Israel", mit Anfang und Schluss und klarer Unterscheidung von anderen Büchern (279), ein autoritatives Buch, ein solches mit speziellem sozialem oder theologischem Anspruch (280). Es hat unterschiedliche Genres (Ps, Prov usw.), und verschiedene Leserkreise lesen es unterschiedlich. Das Repertoire prophetischer Bücher setzt eine kontrollierte Auswahl anerkannter Propheten der Vergangenheit voraus. Sie können verschieden lang und unterschiedlich strukturiert sein. "Prophetic readings" (Leseabschnitte) sind ein Grundelement. Durch wiederholtes Lesen werden sie "dehistorisiert" und können gegen verschiedene Hintergründe gelesen werden. Auch innerhalb der Bücher werden Genres "defamiliarisiert", übertragen gebraucht. Kompositionszeit der prophetischen Bücher ist s. E. die Achaemenidenperiode.

M. H. Floyd, "Basic Trends in the Form-Critical Study of Prophetic Texts" (298-311), hält historische, auf Prophet oder Redaktor gerichtete Formkritik wegen des narrativen Charakters der Bücher für gescheitert. Neu sei die Frage nach Genre und Sitz der Endform. Anknüpfend an Ben Zvis Micha-Kommentar (s. o.) fordert F. die Ausweitung z. B. auf die "vorderen Propheten" und weitere Differenzierung. Die nachexilischen Literaten als Verfasser der Prophetenliteratur, eine schmale Schicht in Jerusalem, verstanden sich möglicherweise selbst als Vertreter des Gottesworts und Deuter der aktuellen politischen Situation (positiv der persischen Religionspolitik!). Dies sei aber noch zu klären. Diese Art von Gattungsforschung stehe noch am Anfang.

M. J. Buss, "Toward Form Criticism as an Explication of Human Life: Divine Speech as a Form of Self-Transcendence" (312-325), will als mögliche Alternative "historische Kritik" vom Partikularen zum Allgemeinen führen: als (soziale und psychologische) "Deutung menschlichen Lebens" (312). Erfahrung ist relevant für den Glauben. Speziell die linguistische Form der Gottesrede steht im Mittelpunkt des Beitrags. Die Selbst-Transzendenz der Gottesrede lässt sich mit der buddhistischen Nirvana-Transzendenz vergleichen, diese aber kommt ohne persönlichen Gott aus.

P. C. Tull, "Rhetorical Criticism and Beyond in Second Isaiah" (326-334), zeigt an ausgewählten Abschnitten den rhetorischen Gebrauch bekannter Gattungsformen durch den Propheten.

M. A. Sweeney, "Zechariah's Debate with Isaiah" (335-350), betrachtet sowohl das Jes-Buch wie Sach als einen einheitlichen "rhetorically coherent text" (337 f.). Obwohl Sach 9-11/12-14 "are formally distinct and may well have been composed at different times and for different purposes" (339), beschreiben sie doch im jetzigen Text das Szenario des Kommens der Völker nach Jerusalem und ihrer Vereinigung mit Israel. - Zur Identität des Propheten Sacharja ben Berechja ben Iddo verweist S. auf das Vorkommen des fast gleichen Namens in Jes 8,1-4 als Zeuge Jesajas. Obwohl es sich eindeutig um verschiedene Personen (mit großem zeitlichem Abstand!) handelt (341), zitiert S. ausführlich Targum, Talmud, Rashi, Ibn Ezra und Radak, die beide gleichsetzen. Dies entspricht den reichlichen Bezügen auf das Jes-Buch bei Sach (Sach 7-8; 9-14). Der Autor des Sach-Buches will "Jesajas" Vision für JHWHs Weltherrschaft durch Kooperation der Völker und die Funktion des Kyros als Messias und Tempelbauer durch eine eigene von der Überwindung der Fremdherrschaft, Wiederherstellung eines gereinigten Judas und des Davidshauses durch die Wiedererrichtung des Tempels ersetzen.

Im Ganzen liegt ein reichhaltiges Werk vor, das weitere Diskussion anregt. Schmerzlich vermisst wird ein Verzeichnis der zahlreichen, nicht selten unbekannten Abkürzungen.