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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1289–1291

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sicre, José Luis

Titel/Untertitel:

Historia Josué.

Verlag:

Estella: Editorial Verbo Divino 2002. 520 S. gr.8 = Nueva Biblia Española. Lw. Euro 28,94. ISBN 84-8169-488-6.

Rezensent:

Erhard S. Gerstenberger

Der bedeutende spanische Exeget hat u. a. in Granada, Rom, Buenos Aires, El Salvador und Brasilien gelehrt und seit den 70er Jahren zahlreiche Studien, besonders zu den Prophetenbüchern veröffentlicht. Der vorliegende Kommentar zeichnet sich wieder durch seine ausgewogene, sorgfältig recherchierte und klare Darstellung der relevanten historischen, literarischen und theologischen Sachverhalte aus. Gleich zu Anfang gibt J. L. Sicre eine kleine Liebeserklärung an das so "seltsame und bewundernswerte Buch" Josua ab (21 f.): Wie müssen wir "Modernen" doch unsere Stirne runzeln über Handlungsfolge, Aktionsart, Protagonisten der blutigen Eroberungsgeschichte, die dann mit einer übergenauen Landverteilung abschließt. Aber Logik und Nüchternheit der Erzählung - im Vergleich zu Mythen und Epen - sind auch für uns beeindruckend.

Auf diesem Grundton von Verfremdung und Aneignung des Bibel(Gottes!)wortes entfaltet S. seine gediegenen Grundlinien (23-76) zu dessen Kommentierung (77-498). Sach- und Autorenregister (499-520) schließen das Werk ab.

Zwei Fragen sind zentral bei der Auslegung: Was ist der geschichtliche Wahrheitsgehalt der Erzählung? Und: Wie verstehen wir ihre theologischen Aussagen? Dass bei Josua keine Geschichtsschreibung in unserem Sinne vorliegt, ist S. klar. Entgegen allen traditionalistischen Deutungen erklärt er das Buch zum "typischen Exempel einer theologischen oder prophetischen Historiographie" (70), nachdem er vorher geduldig und gewissenhaft viele andere Meinungen hat Revue passieren lassen (32-43). Tradenten der Josiazeit und des Exilsjahrhunderts haben an den Texten gearbeitet (46-52). Die Erkenntnis theologischer Konstruktion im fiktiven Geschichtsverlauf lässt aber die Probleme nicht verschwinden, welche der Text aufgibt: Z. B. bleiben das Verhältnis zu den Fremden und die Durchführung des Bannes anstößig (56-60).

S. führt sein Programm mit langem Atem und großer Übersicht an den 19 ausgewiesenen thematischen Einheiten(29 f.) durch, von denen viele weiter untergliedert sind. Jede Kommentierungseinheit beginnt mit einer speziellen Bibliographie, ihr folgen Übersetzung und detaillierte Textkritik, verbunden mit philologischen Erklärungen und Verweisen auf Parallelstellen. Sodann tritt S. in die historische, literarische und theologische Einzeldiskussion ein. Die führt er mit einem Heer von Fachleuten aller Epochen, quer durch manche Sprachzonen, inklusive der rabbinisch-hebräischen. Die Auseinandersetzung schließt unzählige Kurzreferate anderer Positionen ein. Sonderfragen werden in Exkursen behandelt. So ergibt sich ein buntes Bild der Josua-Interpretation; S.s Kommentar ist eine Spezialbibliothek zu Josua. Er bezieht aber auch immer selbst Stellung.

Um einen kleinen Eindruck von der akribischen und anregenden Auslegungsarbeit zu vermitteln, greife ich ein paar Beispiele heraus. Die Gottesrede (Jos 1,1-9: 79-91) ist die programmatische Einführung zum Josuabuch. Sie ist nicht historisch authentisch, sondern aus deuteronomistischen Bearbeitungen hervorgegangen. Ihr Ziel: die Kontinuität mit Mose aufzuweisen, die Transformation Josuas vom Knecht des Mose zum Knecht Jahwes (Jos 24,29) einzuleiten, den Landbesitz zu garantieren, den Gemeinden Mut zum Glauben und zum Torastudium einzuflößen (84-91). - Die Landnahme (Jos 1-12) wird in der folgenden literarischen Einheit (Jos 1,10-2,24) vorbereitet. S. lässt drei Abschnitten separat die volle exegetische Behandlung angedeihen: Jos 1,10 f. mit den (anachronistischen) "Amtsleuten" und der dreitägigen Wartezeit, die den Kalender der Ereignisse zwischen Dtn 34,7 f. und Jos 3,14-17 stört (92-97). Folglich muss der Passus eine spätere Ergänzung sein (97). - Der "Dialog zwischen Josua und den transjordanischen Stämmen" (Jos 1,12-18: 97-102) erhält die gleiche Aufmerksamkeit. Die folgende Einheit (Kundschafter in Jericho, Jos 2: 102-119) hat textlich und traditionsgeschichtlich ungleich größeres Gewicht. Den Worterklärungen lässt S. eine Struktur-, Szenen- und Aktantenanalyse folgen. Das theologische Problem liegt in der Schonung der Rahab entgegen den klaren Vernichtungsbefehlen von Dtn 7,1 f.; 20,16-18 (113). Ein Exkurs zur literarischen Genese zitiert acht Kommentatoren zwischen 1900 und 1995; feministische Positionen wie die von T. Frymer-Kensky kommen allerdings nur in der vorgeschalteten Bibliographie vor (102). Das ist angesichts der Protagonistin Rahab sicher bemerkenswert.

Der Übergang über den Jordan mit Feier von Passa und Beschneidung (Jos 3,1-5,15) ist wegen seiner Ursprungslegenden ein für die judäische Gemeinde konstitutiver Block (119- 171). Der Eintritt in das Gelobte Land wird darum wunderhaft, symbolträchtig, gedächtnisstiftend inszeniert (Jos 3 f.); am Schluss der Perikope erscheint sogar der "Chef des Heeres Jahwes" (Jos 5,13-15: 170). Die Einzelerklärung geht an den Versen und Versclustern entlang (132-144.157-163); S. gibt den Abschnitten in der Regel eigene, thematische Überschriften. In vier (von sieben!) Exkursen behandelt er Sachfragen um die Bundeslade, die besiegten Völker, die Literarkritik von Jos 3 f. Allein beim letzten Exkurs referiert er 15 Fachleute (144-154).

Unter den Erzählungen des Buches Josua (Jos 1-12) sind wegen der Nachwirkung vor allem noch die Kapitel 6 f. und 9-12 wichtig. Der erste Komplex handelt von der Eroberung fester Städte: Jericho fällt nach archaischem Zeremoniell (171- 194; magisches Ritual: 180 f.). S. referiert zustimmend die Thesen von A. Alt und M. Noth; zitiert G. E. Wright und erklärt die Erzählung als "historisch-theologische Rekonstruktion des Autors" (178). Sie soll das Wunder der Landgabe Jahwes an sein Volk veranschaulichen (177). Bann und Fluch über die erste kanaanäische Stadt am Wege zeigen deren Bedeutung und bereiten das Folgende vor. Denn vor Ai scheitern die Israeliten wegen der Sünde Achans. Ein extensives Bußritual bringt Erfolg (Jos 7 f.: 194-226). Ein theologisches Problem ist für S. die erbarmungslose Strenge des Gesetzes, die erst im Neuen Testament überwunden ist (212-214).

Die Eroberungskampagnen im Süden (Jos 10) und im Norden (Jos 11) mit der Liste Jos 12 sind weitere, Jahwe glorifizierende Geschichtskonstrukte (233-296). Im zweiten Hauptteil des Buches (Jos 13-21) geht es dann um die Landverteilung an die Stämme. Listen und Grenzlinien sind vielschichtige Zeugnisse für spätere Besitzverhältnisse und -ansprüche. S. gesteht im Vorwort ein, dass geographische Namen und Daten nicht sein Lieblingsstoff sind. Trotzdem hat er unendlich viel Material zusammengebracht und übersichtlich ausgebreitet (297-438). Das Josuabuch mündet a) in einen Konflikt, bei dem es um den legitimen Ort der Jahweanbetung geht (Jos 22: 439-459) - für S. bleibt im Text alles offen (458) -, und b) in zwei Abschiedsszenen, in denen Josua die Hauptrolle spielt (Jos 23 f.). Beide Texte haben nach S. keinen geschichtlichen Wert, sondern zeugen von der religiösen Wirklichkeit Judäas frühestens unter Josia und spätestens in der nachexilischen Periode (462; zu Jos 24 vgl. 478: "Ich persönlich halte das Kapitel für nachexilisch ..." - nach kurzer Darstellung von 24 Fachmeinungen zur Sache). Der Bundesschluss geschieht zwischen Josua und dem Volk und zielt auf die alleinige Anbetung Jahwes (492-494).

Alles in allem liegt mit dem Band über Josua ein weiteres Werk in der wichtigen Kommentarreihe Nueva Biblia Española vor, der man Verbreitung auch in anderen Sprachgebieten wünschte. Die eigentümliche spanische Spiritualität und Wissenschaftlichkeit, hervorragend präsentiert durch S., verdient es, über Sprachgrenzen hinweg wahrgenommen zu werden.