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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

619–622

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schlösser-Kost, Kordula

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirche und soziale Fragen 1918-1933. Die Wahrnehmung sozialer Verantwortung durch die rheinische Provinzialkirche.

Verlag:

Köln: Rheinland-Verlag i. Komm. bei Habelt Bonn 1996. IX, 555 S., 1 Taf. 8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 120. Geb. DM 48,-. ISBN 3-7927-1596-1.

Rezensent:

Norbert Friedrich

Der Titel des Buches spannt einen weiten Bogen und benennt ein komplexes und äußerst differenziertes, umstrittenes kirchliches Arbeitsgebiet. Um die Fragestellung nicht ausufern zu lassen, hat die Autorin einige zentrale Schwerpunktsetzungen vorgenommen, die teilweise im Untertitel genannt werden. Ihre Darstellung gilt der rheinischen Provinzialkirche und ihres ersten Sozialpfarrers Wilhelm Menn.

Da jedoch gerade für die Zeit der Weimarer Republik das historisch und sozialethisch äußerst relevante Feld "Evangelische Kirche und soziale Fragen" (die Autorin benutzt zu Recht den Plural, um die Vielschichtigkeit des Themas anzuzeigen) bisher nur unzureichend aufgearbeitet ist, ist die Vfn. gleichzeitig um eine Skizzierung der übergeordneten Fragestellungen und um eine Kontextuierung des Themas bemüht. So besteht die Darstellung praktisch aus zwei großen Teilen. Hierin ist, das sei bereits hier festgestellt, die Stärke und gleichzeitig die Schwäche der Arbeit zu sehen.

Zunächst begründet die Vfn. ihren umfassenden Zugriff auf regionaler und überregionaler Ebene. Sie möchte sich, indem sie sich insbesondere auf die Zeit nach 1918 konzentriert, "dem Neuen in der sozialen Verantwortung des Protestantismus ... der Wahrnehmung einer sozialen Verantwortung durch die amtlichen Kirchen" (3) zuwenden. Dieser Zweig der "sozialkirchlichen" Arbeit in Abgrenzung gegenüber der älteren freien Arbeit von Vereinen und Verbänden und der sozialkaritativen Arbeit der Inneren Mission, hat, so ihre These, von der rheinischen Provinzialkirche ihren Ausgang genommen. Die Gründe dafür liegen einmal in der Person des ersten Sozialpfarrers überhaupt, Wilhelm Menn (1888-1956), zum anderen aber auch in der besonderen politischen, geographischen und wirtschaftlichen Lage der rheinischen Kirche. Hier war nicht nur der von der Schwerindustrie geprägte westliche Teil des Ruhrgebiets vereinigt, sondern auch die ökonomisch bedeutsame Rheinschiene und das Wuppertal etc.

Der erste Teil der Arbeit (nach einer ausführlichen, den aktuellen Forschungsstand wiedergebenden Skizzierung der Geschichte der Evangelischen Kirche in der Weimarer Republik) beschäftigt sich mit dem Problemkreis "Evangelische Kirche vor sozialen Fragen 1918-1933" (43-272). Ein breites Panorama wird dem Leser vorgestellt: Von der Arbeit der Inneren Mission und der Tätigkeit der verschiedenen sozialen Arbeitsorganisationen über die komplizierten Kirchenverfassungsfragen bis hin zur Darstellung der ökumenischen Dimension der sozialen Arbeit liefert die Vfn. eine überzeugende Überblicksdarstellung. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der lückenhaften Forschungssituation. Durch die gesamte Darstellung zieht sich die Beschreibung des Gegensatzes von sozialkonservativen (bzw. christlich-sozialen) und sozialliberalen Protestanten. Die Konfliktlinien des Kaiserreichs, wie sie klassisch in den Personen Adolf Stoecker und Friedrich Naumann repräsentiert sind, wirken in der Weimarer Zeit fort. Obwohl beide Richtungen in der Notwendigkeit einer stärkeren Verankerung der sozialen Frage in der verfaßten Kirche übereinstimmten, waren praktisch alle Diskussionen von Konflikten geprägt. Trotz des inhaltlichen Dissenses kam es zu einer breiten verfassungsrechtlichen Absicherung der Behandlung sozialer Fragen in der Kirche sowie einer weitgehenden über die Lager hinausreichende Anerkennung der Notwendigkeit der Zuwendung zur sozialen Frage durch die Kirche und der Unterstützung praktischer sozialer Arbeit. Besonderes Gewicht in ihrer Darstellung finden, neben den Stellungnahmen zu verschiedenen sozialen Themen wie beispielsweise Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot oder Sonntagsarbeit, so die "sozialen Grunddokumente der Weimarer Zeit", also die Soziale Botschaft des Kirchentages von Bethel 1924 und die sog. "Eisenacher Richtlinien" der ,Konferenz kirchlicher sozialer Facharbeiter’ von 1925. Gerade die Eisenacher Richtlinien, in ihren Grundlagen von Wilhelm Menn formuliert, können über die Weimarer Republik hinaus als sozialethische Leitlinie angesehen werden. Die Vfn. läßt ihre Sympathie für die Ideen Menns, die sie als die "innovativeren" (239) kennzeichnet, erkennen, bieten sie doch eher die Möglichkeiten, auf die moderne demokratische Gesellschaft, die Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates einzugehen. Dennoch muß sie konstatieren, daß die konservativen Christlich-Sozialen, deren Position sie häufig an dem westfälischen Sozialpfarrer und deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Reinhard Mumm festmacht, in der Zeit gesiegt haben. Deren Forderung nach einer engen Anbindung der Kirche an die christlich-nationale Arbeiterbewegung, die politisch insbesondere gegen die Sozialdemokraten gerichtet war, war erfolgreich. Ein besonderes Augenmerk richtet die Vfn. noch auf die ökumenische Bewegung, die eines "ihrer Schwergewichte in sozialen Fragestellungen" (239) gehabt hat. Wenn auch einige Angaben, beispielsweise zum Arbeitnehmerflügel der Deutschnationalen Volkspartei, ungenau, verkürzend oder auch fehlerhaft erscheinen, liegt doch insgesamt in diesem Teil ein wertvoller Überblick über das Spektrum kirchlicher sozialer Arbeit vor.

Das gleiche gilt für den kürzeren Mittelteil des Buches (241-273), der eine Darstellung der verschiedenen theologischen und sozialethischen Positionen bringt. Hier erweist sich auch der interdisziplinäre Ansatz, der historische und theologische Fragen zu verbinden sucht, als fruchtbar. Die Vielfalt und die Menge des rezipierten Materials verdeutlichen, auf welchem Niveau in der Weimarer Zeit die soziale Frage diskutiert worden ist. Als Zielpunkt der Diskussion bezeichnet die Vfn. die "Gemeinschaft".

Das umfangreichste Kapitel (274-485) ist schließlich dem Thema "Rheinische Provinzialkirche vor sozialen Fragen 1918-1933" gewidmet. Hier ist eine Zweiteilung vorgenommen worden. Zunächst werden, in einer gewissen Parallelität zum ersten Teil, allgemein die rheinische Provinzialkirche und die in ihr wahrgenommenen sozialen Arbeiten skizziert, wobei neben der Inneren Mission (Otto Ohl) auch die regionalen Gruppen der verschiedenen sozialen Arbeitsorganisationen gewürdigt werden. Besondere Aufmerksamkeit richtet die Vfn. auf den rheinischen Präses Walther Wolff (1870-1931), der "soziale Arbeit als Arbeit der verfaßten Kirche" verstand. Unter dem theologisch konservativen Wolff konnte dann der erste rheinische Sozialpfarrer Wilhelm Menn in großer Freiheit und mit deutlicher Rückendeckung seine Arbeit tun. Diesem gilt dann der Hauptteil des Kapitels 4.

Die Vfn. liefert keine komplette Biographie Menns, sowohl seine Entwicklung bis zur Berufung in das (zunächst nebenamtlich ausgeübte) Sozialpfarramt 1921 als auch seine weitere Entwicklung nach dem Ende des Amtes 1934 werden nur ansatzweise behandelt. Gleichzeitig verschränkt sie in ihrer Darstellung biographische und persönliche Entwicklung, organisatorische Ausgestaltung der Arbeit und (hierauf wird der besondere Akzent gelegt) inhaltliche Bestimmung der sozialen Aufgabe der Kirche. Gerade diese Verschränkung läßt die beachtliche Arbeitsleistung dieses Mannes plastisch werden. Menn wird zu Recht als der entscheidende Motor einer Verkirchlichung der sozialen Arbeit beschrieben. Das im ersten Teil allgemein und übergeordnet Behandelte wird nun noch einmal am Beispiel Menn vertieft. Menn wollte seine Arbeit unabhängig und frei von den kirchlichen Vereinen und Verbänden und ihren kirchenpolitischen Forderungen und Vorstellungen ausüben, er verstand seine Arbeit als autonom, inbesondere gegenüber parteipolitischen Instrumentalisierungen. So bot Menn Arbeiterfreizeiten an, er suchte das Gespräch mit Gewerkschaftern aller Richtungen, er organisierte vielfältige Kontakte mit Unternehmern. In dieser Offenheit der Arbeit, gegründet auf einem festen theologischen Fundament, liegt die Modernität dieses Ansatzes, seine über die Weimarer Republik hinausweisende innovative Kraft.

Diese positive Beurteilung der Arbeit Menns gilt besonders, wenn man sich die Entwicklung nach 1945 ansieht. Für die Weimarer Republik waren dagegen christlich-soziale Protestanten in ihrer praktischen Arbeit erheblich einflußreicher. So fundiert und begründet Menns Konzept einer sozialkirchlichen Arbeit war und so intensiv auch die Unterstützung durch den rheinischen Präses Wolff war, die Entwicklung in der Weimarer Zeit war dennoch offen. Der liberale Wilhelm Menn vertrat keine mehrheitsprotestantische Position. Hier liegen auch die Probleme der vorliegenden Arbeit. Die Vfn. kann den Anspruch, den der Titel nahelegt, nur teilweise, nämlich für den sozialliberalen Protestantismus, wie ihn hier insbesondere Wilhelm Menn verkörpert, nachzeichnen. Die Vielschichtigkeit des sozialen Protestantismus, wie er sich in der Weimarer Republik artikulierte, wird dagegen eher plakativ als differenziert beschrieben. Dies gilt insbesondere für den sozialkonservativen Protestantismus. Dazu tritt eine Konzeptionsschwäche des Buches. Indem erst die gesamtkirchliche und dann die theologische Entwicklung dargestellt werden, um auf dieser Basis sich dann dem Rheinland und Wilhelm Menn zuzuwenden, kommt es zu vielen Doppelungen; zahlreiche Querverweise durchziehen so die Arbeit. Dies macht die Lektüre manchmal mühsam und auch unübersichtlich. - Insgesamt handelt es sich jedoch um eine wichtige Studie zur Geschichte des sozialen Protestantismus und der Weimarer Republik, der man eine breite Rezeption wünscht. Eine Forschungslücke ist überzeugend geschlossen worden.