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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1281–1284

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Betz, Hans Dieter

Titel/Untertitel:

The "Mithras Liturgy". Text, Translation, and Commentary.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVIII, 274 S. m. Abb. gr.8 = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 18. Lw. Euro 69,00. ISBN 3-16-148128-3.

Rezensent:

Frances Back

Seit vielen Jahren ist H. D. Betz dem Fachpublikum als Kenner der griechischen Zauberpapyri bekannt. Seine ersten Publikationen auf diesem Gebiet stammen aus den 80er Jahren und sind in zahlreichen Aufsätzen zugänglich. Sie finden sich unter anderem in seinen Sammelbänden "Hellenismus und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze I", Tübingen 1990 und "Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze IV", Tübingen 1998. 1986 erschien als wichtiges Hilfsmittel für die Forschung zu den Papyri Magicae die Textausgabe von B. mit englischer Übersetzung (H. D. Betz [Hrsg.]: The Greek Magical Papyri in Translation, Including the Demotic Spells, Chicago 1986, 2. Aufl. 1992). Nach einer Vorstudie (H. D. Betz: Gottesbegegnung und Menschwerdung. Zur religionsgeschichtlichen und theologischen Bedeutung der Mithrasliturgie [PGM IV.475-820], Hans-Lietzmann-Vorlesungen 6, Berlin 2001) hat B. nun mit dem vorliegenden Band, der den Text von PGM IV.475-820 sowie eine Übersetzung mit Kommentar enthält, eines der berühmtesten Zeugnisse der Zauberpapyri neu erschlossen und der englischsprachigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Der Titel des Kommentars ist programmatisch. B. knüpft damit an das Werk des klassischen Philologen A. Dieterich an, der genau 100 Jahre zuvor als Erster nach der Edition des Pariser Zauberpapyrus durch C. Wessely (1888) einen Text der Mithrasliturgie erstellte und mit Übersetzung und Kommentar versah (A. Dieterich: Eine Mithrasliturgie, Leipzig 1903). Bis in die Gegenwart hinein blieb Dieterichs bahnbrechende Untersuchung der grundlegende Kommentar zu diesem religionsgeschichtlich bedeutenden Text und damit auch der wichtigste Bezugspunkt für B. Auf Dieterichs Anregung hin entstand auch die bis heute maßgebliche Textausgabe der Zauberpapyri von K. Preisendanz (Papyri Graecae Magicae. Die griechischen Zauberpapyri, 2 Bde. Stuttgart 1973-74), die sowohl den neueren Textausgaben und Übersetzungen von M. W. Meyer (The "Mithras Liturgy", 1976) und R. Merkelbach (Abrasax, Bd. 3, Opladen 1992) als auch dem Werk von B. (unter Berücksichtigung der Fotografien von Jordan und Martinez) zu Grunde liegt.

B. würdigt die Pionierleistung Dieterichs in einem eigenen ausführlichen Abschnitt der Einleitung seines Kommentars. Dieterich erkannte nicht nur, dass der bis dahin oft als obskur empfundene Papyrustext eines der wichtigsten Zeugnisse der griechisch-ägyptischen Religion in später hellenistischer Zeit darstellt. Er zeigte auch auf, dass sich der von ihm als "Mithrasliturgie" bezeichnete Textabschnitt in signifikanter Weise von anderen Segmenten des Pariser Zauberpapyrus unterscheidet, dass er von stoischem Gedankengut beeinflusst und im synkretistischen Kontext der Mysterienkulte des hellenistischen und römischen Ägypten zu interpretieren ist. Nach Dieterichs Auffassung enthielten die Zauberpapyri Zeugnisse einer früheren Religion, die man aus dem literarischen Kontext, in dem sie überliefert wurden, isolieren kann. So rekonstruierte er aus PGM IV.475 ff. den Text einer älteren Mithrasliturgie, welche ca. zwischen 100 und 150 n. Chr. entstanden und zwischen 200 und 300 n. Chr. von ägyptischen Magiern in ihre Riten übernommen und weiterentwickelt worden sei. Die These, dass PGM IV.475 ff. eine Liturgie des Mithraskultes enthalte, geriet jedoch bald nach dem Erscheinen des Buches in das Kreuzfeuer der Kritik und ist bis heute umstritten. Einer der wichtigsten Einwände, die unter anderen von F. Cumont, R. Reitzenstein und M. P. Nilsson sowie in jüngerer Zeit z. B. von R. Merkelbach und G. Fowden vorgebracht wurden, war die fehlende Übereinstimmung von PGM IV.475 ff. mit dem, was aus anderen Texten und archäologischen Zeugnissen über den Mithraskult bekannt war, auch wäre - so die wiederholt geäußerte Meinung - eine Liturgie des Mithraskultes streng geheim gehalten worden.

Demgegenüber hebt B. mit anderen Wissenschaftlern hervor, dass Dieterichs umstrittene Bezeichnung des Papyrussegments als "Mithrasliturgie" berechtigt sei. Dies zeigten sowohl neue Einsichten der Forschung zum hellenistischen Synkretismus des griechisch-römischen Ägypten und zum Mithraskult als auch der Text selbst, da er deutliche Signale enthalte, dass er als esoterischer liturgischer Text verstanden werden will (Z. 475-485). Fraglich sei jedoch Dieterichs literarkritisch begründete Trennung einer alten Mithrasliturgie, deren Zweck die Vergöttlichung des Mysten gewesen sei (Z. 475-723), von einer vermeintlich sekundären Anwendung im magischen Milieu (Z. 723-834). Diese Trennung basiere auf der Annahme einer älteren Quelle in Z. 475-723 und erweise sich bei einer genauen Abgrenzung des Textes vom Kontext und der Analyse seiner Komposition, seiner Gattung und seines religionsgeschichtlichen Kontextes als nicht haltbar.

Nach B. wurde die Mithrasliturgie zwischen eine Reihe homerischer Verse (Z. 468-474. 821-834) eingefügt; sie umfasst also Z. 475-820. Auf das Exordium in Z. 475-485 folgt der Hauptteil des Textes mit dem Bericht über das Ritual (Z. 485- 732), an den sich in Z. 732-819 ergänzende Rituale und in Z.819 f. ein Epilog anschließen. Der möglicherweise aus der Bibliothek eines graeco-ägyptischen Magiers stammende Text hat eine etwa 200-jährige Geschichte durchlaufen und besteht aus älteren Quellen und Traditionen. Sie lassen sich, wie B. überzeugend demonstriert, nur durch eine detaillierte Kompositionsanalyse aufspüren. Dass der Text aus Quellen zusammengesetzt ist, wird nach B. in der Mithrasliturgie selbst zum Ausdruck gebracht, indem der Autor oder der Redaktor den ganzen Text als "Syntagma" bezeichnet (Z. 481 f.). Dabei handelt es sich nach B. um einen Terminus technicus. Er bezieht sich laut B. sowohl auf den literarischen Charakter des Textes als "Komposition" aus verschiedenen Quellen als auch auf seine Funktion als Vorschrift, wie das Ritual durchzuführen sei (28.95.97).

Die Mithrasliturgie schildert ein magisches Ritual eines Anhängers des Gottes Helios-Mithras-Aion, welches in Form einer imaginär erlebten, ekstatischen Himmelsreise eine Begegnung mit dem höchsten Gott und den Empfang eines Orakels herbeiführen soll. Aus der Innenperspektive des Mysten geschrieben enthält sie eine geheime Belehrung über die Möglichkeit des ekstatischen Aufstiegs und einer Audienz bei Helios-Mithras-Aion. Sie ist frei von christlichen, christlich-gnostischen und neuplatonischen Einflüssen, aber deutlich geprägt durch die Philosophie der mittleren Stoa und eine große Verwandtschaft mit der Hermetik. Sie repräsentiert eine synkretistische Form spätantiker ägyptischer Religion. B. vermutet, dass sich in ihr ein beginnender Hermetismus des ersten oder zweiten Jh.s spiegelt, auch wenn eine explizite Bezugnahme auf Hermes in diesem Text fehlt (in PGM IV.850-929; VII.540-578; PGM XIII.15 beispielsweise wird Hermes aber ausdrücklich genannt).

Der an religionsgeschichtlichen Bezügen und exegetischen Einsichten reiche Kommentar zu Z. 475-820 bildet den Hauptteil des Buches von B. Neben zahlreichen Anregungen für die Arbeit an spezielleren Themen erhalten die Leser hier vor allem auch eine deutlichere Vorstellung davon, wie sich der Text in den Rahmen der späthellenistischen ägyptischen Religionsgeschichte einordnen lässt. Auf der Grundlage der Forschungen von B. gewinnen wir, wie zu hoffen ist, in Zukunft vielleicht einen genaueren Einblick in die Tradentenkreise der Mithrasliturgie und damit auch in die synkretistische Entwicklung der Mithrasmysterien im hellenistisch-römischen Ägypten, in der in bestimmten Phasen auch Frauen eine Rolle gespielt zu haben scheinen (Z. 478 f.). Lohnend wäre es auch, die von B. an vielen Stellen herausgearbeitete Beziehung des Textes zur Hermetik, besonders zu Corp Herm XIII, detaillierter zu untersuchen und tiefer zu reflektieren. Ob sich die Unterschiede zwischen der Mithrasliturgie und den Hermetica mit B. auf den Gegensatz zwischen einerseits ritueller und andererseits spiritualisierter, internalisierter Religiosität bringen lassen (36 f.), ist jedoch ungewiss, zumal in der neueren Hermetikforschung häufig von der Existenz hermetischer Gemeinschaften ausgegangen wird, in denen kultische Handlungen vollzogen wurden (J.-P. Mahé, G. Löhr, G. Fowden).

Mit seiner Untersuchung zur Mithrasliturgie schließt B. eine erhebliche Lücke in der Forschung. Er holt eines der bedeutendsten Dokumente der späteren ägyptischen Religionsgeschichte an das Licht der Öffentlichkeit und weist ihm in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion den Platz zu, der ihm zukommt. Mit der neuen Erschließung der Mithrasliturgie trägt der Band nicht nur ganz wesentlich zur Erforschung eines der zentralsten Texte der griechischen Zauberpapyri bei, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis ritueller Religiosität im späthellenistischen Ägypten.