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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1247–1250

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Ziebertz, Hans-Georg, Heil, Stefan, u. Andreas Prokopf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Abduktive Korrelation. Religionspädagogische Konzeption, Methodologie und Professionalität im interdisziplinären Dialog.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2003. 278 S. gr.8 = Empirische Theologie,12. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-8258-6264-X.

Rezensent:

Christhard Lück

Vor allem im Bereich der katholischen Religionspädagogik findet gegenwärtig mit der so genannten abduktiven Korrelationsdidaktik ein Spross korrelationsdidaktischer Theoriebildung vermehrt Beachtung, der als "dritter Weg" (33) bzw. Königsweg einen Ausweg aus der theoretisch wie empirisch oftmals konstatierten Sackgasse deduktiver und induktiver Konzepte zu weisen verheißt. Maßgeblich entwickelt wurde das Modell einer abduktiven Weiterführung des Korrelationsgedankens, das religionssoziologische, theologisch-hermeneutische und professionstheoretische Gesichtspunkte miteinander verwebt, von dem Würzburger Religionspädagogen Hans-Georg Ziebertz und seinen Schülern Stefan Heil und Andreas Prokopf. Im Unterschied zur herkömmlichen Korrelationsdidaktik geht das Abduktionskonzept - gestützt auf die Ergebnisse eines von den Herausgebern durchgeführten qualitativ-empirischen Forschungsprojekts zur "Korrelation von christlich-religiöser Tradition und individueller religiöser Semantik" (93) - davon aus, dass Beziehungen zwischen individuellen religiösen Erfahrungen und der jüdisch-christlichen Tradition nicht erst (mühsam) künstlich hergestellt werden müssen, sondern immer schon latent vorhanden sind, da in den pluralen Erfahrungswelten von Jugendlichen und ihrer individuellen religiösen Semantik substanzielle und/oder funktionale Elemente tradierter Religion je schon in transformierter Form korrelativ eingeschmolzen seien. Diese Zusammenhänge gelte es in der empirischen Forschungspraxis wie im Religionsunterricht abduktiv durch die "Produktion gewagter Hypothesen" (25) aufzudecken, um die traditionellen Strukturen in der subjektiven Religiosität heutiger Kinder und Jugendlicher offen zu legen - mit dem Ziel "Neues" aus "Altem" zu verstehen respektive zu deuten et vice versa (27 f.67 f.). Der "abduktive Schluss" stellt einer gegebenen Erfahrung dabei "nicht die Deutung zur Verfügung, sondern bereitet den Boden, dass gedeutet werden kann" (27). Sein Inhalt ist zugleich ein Interpretationsangebot, das induktiv und deduktiv zu überprüfen und in einem kommunikativen Prozess von allen am Lerngeschehen Beteiligten auf seine Plausibilität und seinen Wert hin abzuklopfen ist. Es ist evident, dass dieser dezidiert subjekt- und erfahrungsbezogene sowie dialogisch-prozessorientierte Zugang weit reichende Folgen für die religionsdidaktische Aus- und Fortbildung hat: Abduktives Schließen, verstanden als Hypothesenfindung und kommunikative Überprüfung, wird als zentraler Bestandteil einer zeitgemäßen religionspädagogischen Professions- bzw. Handlungstheorie herausgestellt (187 f.).

Der Sammelband, der die - später z. T. noch überarbeiteten - Vorträge einer interdisziplinären Tagung an der Universität Würzburg zur Thematik im Dezember 2001 dokumentiert, stellt so etwas wie eine erste kritische Bilanzierung dieses neuen religionspädagogischen Konzepts dar. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei auf die drei Würzburger Impulsreferate zu den Themenkreisen "Abduktion in der Religionspädagogik" (Teil 1, 9-86), "Abduktion und empirische Methodologie" (Teil 2, 87-184) und "Abduktion im professionellen Handeln" (Teil 3, 185-258) je vier bis fünf Diskussionsbeiträge von auf dem jeweiligen Forschungsfeld versierten Fachleuten folgen. Hierbei erweist es sich als förderlich, dass der religionspädagogische Binnendiskurs immer wieder überschritten wird. Gemeinsames Ziel der Referate ist es, die Chancen und Grenzen abduktiven Denkens in der Religionspädagogik auszuloten und zugleich die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den einzelnen Ansätzen sichtbar zu machen.

In Teil 1 wird von den Herausgebern angesichts des "Deduktions-Induktions-Dilemmas" (25) in der Korrelationsdidaktik der aus dem amerikanischen Pragmatismus (Ch. S. Peirce) stammende Begriff Abduktion in die religionspädagogische Konzeptionsdebatte akzentuiert eingeführt und der abduktive Ansatz auf mehreren Ebenen gegenüber anderen Konzepten innerhalb der (Praktischen) Theologie profiliert.

Hieran schließt sich der Beitrag des niederländischen empirischen Theologen Chris A. M. Hermans unmittelbar an, der die Merkmale einer deduktiven, induktiven und abduktiven Vorgehensweise innerhalb der Religionspädagogik (idealtypisch) skizziert und vergleichend interpretiert.

Interessanterweise wird das Abduktionskonzept als "grundsätzlich andere Perspektive" (42) hier (noch) deutlicher als in anderen Abhandlungen "mit einer kulturell-institutionellen Sicht auf Religion durch religiöse Praktiken" (34) verbunden. Durch religiöse Praktiken, die als Prozesse der Sinnstiftung zwischen einer (Erfahrungs-)Tradition und gegenwärtigen menschlichen Erfahrungen vermitteln, "können Lernende Zugang zur Religion erlangen" (ebd.). In systematisch-theologischer Sicht plädiert der Salzburger Theologe H.-J. Sander für eine differentiell-semiotische Konsolidierung und Weiterentwicklung des Würzburger Ansatzes: "Von der abduktiven Korrelation zur Abduktion semiotischer Präsenz" (63). Kritische Rückfragen an das Konzept von Ziebertz u. a. stehen dagegen in den beiden nächsten Beiträgen im Vordergrund. Der Essener Religionspädagoge R. Englert konzentriert sich dabei auf die Frage, inwieweit die abduktive Korrelationsdidaktik eine zukunftsweisende und -fähige Weiterentwicklung bisheriger korrelationsdidaktischer Ansätze darstellt. Obwohl er dem Abduktionskonzept "große Sympathien" (76) entgegenbringt und in ihm einen "wertvollen Beitrag zur Klärung des religionsdidaktisch heute Möglichen und Nötigen" (78) entdeckt, formuliert er zahlreiche Anfragen an dieses Modell religionsdidaktischer Vermittlungsarbeit, die vor allem seine religionssoziologischen und theologischen Implikationen und die unterrichtspraktische Methodisierbarkeit sowie Realisierbarkeit abduktiven Schließens betreffen. Im Blick auf die religiöse Situation in den ostdeutschen Bundesländern problematisiert der Mainzer Religionspädagoge W. Simon das vorliegende Konzept. Sind dessen Grundannahmen (z. B. dass Menschen auch heute religiöse Fragen stellen und substanzielle Elemente tradierter Religion in den semantischen Lebenswelten von Jugendlichen vorkommen) auch in einer Situation "kulturell vermittelte(r) Areligiosität" (79) in toto aufrecht zu erhalten? Nachdrücklich setzt sich der Autor für eine "Präzisierung und Weiterentwicklung" (85) der abduktiven Korrelationsdidaktik ein, um sie auch in andere sozial-kulturelle Kontexte übertragen zu können.

In Teil 2 wird vom Herausgeberteam das Design eines religionspädagogisch-empirischen Modells zum abduktiven Schließen in qualitativen Auswertungsverfahren präsentiert (89-108). Dieses sieht zwei voneinander getrennte Analyse- bzw. Interpretationsphasen (Methode der "Grounded Theory" und abduktives Schlussverfahren respektive Segmentanalyse) vor, die von Ziebertz u. a. in neuartiger und produktiver Weise miteinander verbunden wurden. Ein Interviewausschnitt aus dem oben genannten qualitativ-empirischen Forschungsprojekt wird dann eindrucksvoll auf der Basis dieser beiden Verfahren themenzentriert analysiert. Die nachfolgenden Beiträge des zweiten Teils (Kelle, Hoffmann, Reichertz, Schöll, Popp-Baier) disputieren von diesen Impulsen ausgehend umfassend Fragen einer empirisch-abduktiv orientierten Forschungsmethodologie.

Der Essener Kommunikationswissenschaftler J. Reichertz erörtert das vorliegende Modell aus wissenssoziologischer und hermeneutischer Sicht und weist auf begriffliche Unschärfen des Ansatzes (vgl. 150) hin. Deutlich positiver wird dieser vom Münsteraner Religions- und Jugendsoziologen A. Schöll beurteilt, der zugleich eine Ergänzung der Segmentanalyse durch eine "Sequenzanalyse" (167) anregt. Die Amsterdamer Dozentin für Soziologie U. Popp-Baier plädiert dafür, den Ansatz der abduktiven Korrelation durch eine "biographische Perspektive" (184) zu komplettieren, da sonst "religiöse Erfahrung" auf "religiöse Semantik" reduziert werden würde (vgl. 169). Wird der Religionsunterricht als Ort abduktiv-korrelativer Professionalität konturiert, verlangt dieser Ansatz neue Kompetenzen auf Seiten der Unterrichtenden, die neben einer fachwissenschaftlich-enzyklopädischen zusätzlich einer abduktiven Qualifikation bedürf(t)en.

Im Impulsbeitrag zu Teil 3 beschreiben Ziebertz/Heil/Prokopf dementsprechend, wie "abduktives Schließen im professionellen Religionslehrerhandeln" (187) konkret aussehen kann.

Dass dieser Ansatz zur religionspädagogischen Professionstheorie auch für andere Fächer von großer Wichtigkeit sein und "zugleich als Anstoß zur Unterrichtsentwicklung betrachtet" werden kann, der "neue Anforderungen an das Rollenverständnis und an die Handlungskompetenzen von Lehrkräften stellt" (215), verdeutlicht der Beitrag des Dortmunder Schulentwicklungsforschers K.-O. Bauer. Dem Regensburger Religionspädagogen G. Hilger zufolge zeigt sich das abduktive Schließen dabei aber allenfalls als "ein Spezialfall des Professionswissens von Religionslehrerinnen und -lehrern" (239), dem weitere fundamentale - didaktische, kommunikative, diagnostische und fachlich-reflektierte - Kompetenzen an die Seite zu stellen sind. Weiterführend erscheint sein Vorschlag, durch umfangreiche Forschungen zu individueller religiöser Semantik typische Grundmuster christlich-religiöser Transformationen heutiger Heranwachsender zu eruieren, so dass "vielleicht ein Spektrum von möglichen theologischen Anschlüssen so eingegrenzt werden (kann), dass es zu einem theologischen Kerncurriculum deklariert werden könnte" (240).

Das in sich sehr vielschichtige Konzept der abduktiven Korrelation stellt ohne Zweifel einen bemerkenswerten Ansatz zur Neuorientierung korrelationsdidaktischer Theoriebildung dar. Angesichts der faktischen Realisierung der Korrelationsdidaktik, die oftmals kaum zu der ursprünglich intendierten kritisch-produktiven Wechselbeziehung von Tradition und Erfahrung, wohl aber zur Prädomination theologischer über anthropologische Aspekte (oder umgekehrt) geführt hat, ist dieser innovative religionspädagogische Ansatz, der die individuelle Religiosität der Schülerinnen und Schüler in seinen Mittelpunkt stellt und Erfahrung und Tradition nicht künstlich auseinander reißt, nur zu begrüßen. Gleichwohl weist dieses Modell neben eindeutigen Stärken auch zahlreiche Schwachpunkte bzw. ungeklärte Fragen (vgl. vor allem Englert, Simon, Hilger) auf. Deutlich wird: Abduktive Korrelation ist kein Allheilmittel, "kein Zauberwort, das allein durch seinen Gebrauch schon ein angemessenes religionspädagogisches Konzept liefern könnte" (Baier-Popp, 183). Das wird von den Herausgebern selbst so gesehen, die den Band "nicht als Abschluss einer Diskussion", sondern ausdrücklich als ihre Eröffnung und als Einladung zu weiterer Forschung verstehen (7). Wahrscheinlich kann erst post festum entschieden werden, ob das Konzept der Abduktiven Korrelation "einen Paradigmenwechsel der sog. Korrelationsdidaktik oder nur eine Variante korrelationsdidaktischen Suchens und Experimentierens" (Hilger, 239) darstellt(e). Als Rezensent riskiere ich gleichwohl die gewagte Hypothese, dass sich der abduktive Ansatz eher in empirisch-qualitativen Forschungsvorhaben durchsetzen bzw. etablieren wird als (u. a. auf Grund seiner Schüler wie Lehrer tendenziell überfordernden Tendenzen; vgl. dazu Reichertz, 152) im alltäglichen professionellen Religionslehrerhandeln. Ob seine unterrichtspraktische Realisierung neben der Umsetzung weiterer unverzichtbarer religionspädagogischer Kernkompetenzen nicht langfristig angestrebt werden sollte, ist dann noch einmal eine ganz andere Frage.