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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1243 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Collmar, Norbert, u. Christian Rose [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das soziale lernen - das soziale tun. Spurensuche zwischen Diakonie, Religionspädagogik und sozialer Arbeit.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003, 188 S. Kart. Euro 14,90. ISBN 3-7887- 1927-3.

Rezensent:

Gottfried Adam

Soziales Lernen und soziales Tun beginnen wieder stärker in den Blickpunkt des Interesses zu geraten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes "Das soziale lernen - das soziale tun" gehen diesem Thema in interdisziplinärer Kooperation nach. Die Kleinschreibung im Titel lässt zwei Lesarten zu: Ist das in Frage stehende Lernen und Tun nun sozial oder soll das Soziale gelernt und getan werden? In dieser Ambivalenz - zwischen einem deskriptiven und einem normativen Verständnis dieser beiden Begriffe - ist das Buch angesiedelt. Im Überschneidungsbereich der wissenschaftlichen Denkbemühungen von Diakoniewissenschaft, Religionspädagogik und Sozialarbeit soll konkretes Handeln bedacht, aber auch begründet werden. "Die Spurensuche will dem interdisziplinären Gespräch und dem praxisorientierten Nachdenken dienen" (Einführung, 11).

Zunächst geht es um die Wurzeln sozialen Lernens und Handelns. Hier wird historisch nach der Entwicklung der sozialen Arbeit vom Mittelalter bis zum Elberfelder und Straßburger System und heutiger Ausdifferenzierung gefragt. Im Beitrag "Gerechtigkeit und Liebe im Dienst der Versöhnung" wird in einer eindrücklichen Weise der Frage nach der Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit vom Alten Testament über das Judentum und das Neue Testament bis zur Gegenwart nachgegangen. Prägnant wird formuliert: "Diakonie ist ... nicht die Glaubensverkündigung, sondern eine beispielhafte gesellschaftliche Implementierung des biblischen Ethos von Gerechtigkeit und Liebe als die soziale Gestalt göttlichen Versöhnungshandelns" (30). Auf diese Weise wird die Dialektik von Liebe und Gerechtigkeit präzise bestimmbar und kann hinsichtlich der Praxisrelevanz und entsprechender Folgerungen für das diakonische Lernen bedacht werden. Zum Thema "Erziehung zum Umgang mit Fremden" werden theologische, evolutionsgeschichtliche und pädagogische Perspektiven entwickelt. Im letzten Teil "Personen und Ausbildung" (161-188) werden Probleme der Fallarbeit in der sozialen Arbeit erörtert und an der Frage konkretisiert, welchen Beitrag das Recht zur Fallarbeit liefern kann. Unter Bezug auf den geradezu berühmten Satz "Mein Lohn ist, dass ich dienen darf" wird schließlich herausgearbeitet, wie das berufsbiographische Selbstverständnis professionellen Handelns sich entwickelt hat und in welcher Weise es heute angemessen zu reflektieren ist.

Den Hauptumfang nimmt der mittlere Teil "Orte sozialen Lernens und Handelns" (53-160) ein. Hier werden in je drei Artikeln die drei Orte sozialen Lernens, nämlich 1) Kirchengemeinde und Diakonie, 2) Schule und Religionsunterricht und 3) Gemeinwesen thematisiert. Hinsichtlich der Kirchengemeinde sind die Ausführungen "Zu dienen an Hecken und in Räumen" spannend, weil hier das Diakonielernen in der Kirchengemeinde hinsichtlich seiner diakonischen Dimension bedacht wird. Auf dem Hintergrund eines Gesamtkonzeptes von diakonischer Gemeinde wird gezeigt, wie man Schritte auf dem Weg zu einer diakonischen Gemeinde gehen und wie zugleich Diakonie gelehrt werden kann. Mit dem Beitrag "Soziale Verantwortung lernen" wird ein Schülermentorenprogamm vorgestellt, in dem sorgfältig aufeinander abgestimmte Module sowohl hinsichtlich der strukturell-organisatorischen wie der konzeptionell-inhaltlichen Seite enthalten sind. Hier wird deutlich, dass neue soziale Lernarrangements notwendig sind, um auf den Weg des Lernens sozialer Verantwortung zu führen.

Im Blick auf Schule und Religionsunterricht werden die Möglichkeiten sozialen Lernens einmal anhand eines kommunalen Projektes "Respekt" und zum anderen in der Darstellung von Modellen schul- und religionspädagogischen Handelns reflektiert.

In der dritten Gruppe von Beiträgen des Hauptteils, die dem "Gemeinwesen" gewidmet ist, geht es um den Einsatz von Theaterspiel in der sozialen Arbeit, um Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement sowie um ein innovatives Lernkonzept für die persönliche und soziale Entwicklung junger Menschen, das unter dem Titel "Lernen mit Kopf, Herz und Hand" dargestellt wird. Dieser Artikel ist hochinteressant, insofern er ein sehr konkretes, wissenschaftlich fundiertes Programm darstellt. Es geht dabei um die Konzeption der "Agentur mehrwert" in Stuttgart, die durch ihre Tätigkeit soziale Lernprozesse von Auszubildenden, Schülerinnen und Schülern und anderen interessierten Personen konkret inszeniert.

Die Frage des sozialen Lernens und damit zugleich auch des diakonischen Lernens beginnt gegenwärtig zu einem Brennpunkt der religionspädagogischen Debatte zu werden. Der vorliegende Sammelband ist hervorgegangen aus einer Ringvorlesung an der Evangelischen Fachhochschule Reutlingen-Lud- wigsburg. Die Ausführungen bewegen sich auf einem hohen Niveau. Sie bringen wichtige Aspekte zur Frage des sozialen und diakonischen Lernens zur Geltung. Seit Mitte der 90er Jahre kann man einen beginnenden Neuaufbruch in der religionspädagogischen Praxis konstatieren. Eine in sich stimmige Theorie diakonisch-sozialen Lernens ist ein Desiderat. Die Veröffentlichung stellt mit ihren Beiträgen einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu diesem Ziel dar.