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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

617–619

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lavater, Johann Kaspar

Titel/Untertitel:

Reisetagebücher. Hrsg. von H. Weigelt. I: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764. II: Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. XII, 839 S. u. IX, 401 S. gr.8 = Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VIII: Einzelgestalten und Sondergruppen, 3 u. 4. Lw. DM 398,-. ISBN 3-525-55861-9.

Rezensent:

Gustav Adolf Benrath

Die beiden Bände der Reihe "Texte zur Geschichte des Pietismus" (Abt. VIII: Einzelgestalten und Sondergruppen Bd. 3 und 4) enthalten vier bisher nicht edierte autobiographische Quellenschriften, die über Leben und Denken des eigenständigen, nicht zum klassischen Pietismus zu zählenden reformierten Züricher Theologen, den E. Hirsch einst als "frommen Außenseiter" bezeichnet hat, erwünschten Aufschluß geben. Endlich! möchte man sagen, denn ihre Bedeutung war bekannt, und ihre Edition ist sehr willkommen. Der Herausgeber hat mit seinen Mitarbeitern die Texte aus den in der Zentralbibliothek Zürich deponierten handschriftlichen Originalen des Familienarchivs Lavater in mehrjähriger Arbeit transkribiert und durch Einleitungen und Einzelkommentare erschlossen - ein wirklich verdienstvolles Unternehmen.

1. Der erste der beiden Bände (Bd. 3 = Teil I) enthält das detaillierte, einerseits nicht ganz lückenlos geführte, andererseits durch breite Exzerpte aufgeblähte Tagebuch, das der 22jährige Lavater während seiner Reise von Zürich über Berlin nach Barth in Vorpommern und während seines durch seinen Lehrer Breitinger vermittelten neunmonatigen Aufenthalts (Mai 1763-Jan. 1764) bei Johann Joachim Spalding angelegt hat. Auf dieser Reise gelangte L. zusammen mit seinem Freund Felix Hess erstmals über die engen Grenzen seiner Heimat und des Collegium Carolinum hinaus. Schon der einmonatige Aufenthalt in Berlin, wo J. G. Sulzer seine beiden jungen Landsleute bei namhaften Vertretern der Aufklärung (u. a. Moses Mendelssohn und Nicolai) einführte, erweiterte ihren Horizont erheblich. In Barth wurde Spalding ihr Lehrmeister, der "sich täglich mit uns über die Wahrheiten der Religion zu unterhalten" bereit war. So sprach man freimütig "von Gott, dem Himmel, den Beschäftigungen daselbst, der Vorbereitung durch Tugend, der Unsterblichkeit, den Vollkommenheiten unserer Seele usw.". Andere Themen waren die Versöhnungslehre, die "Religionsverbesserung" (!), der Deismus, der Unglaube und die Neuerscheinungen zeitgenössischer Theologen und Literaten, aus deren Schriften L. breite Lesefrüchte, Wichtiges und Unwichtiges in planloser Folge, wörtlich ins Tagebuch übernahm. Am interessantesten erscheint, was L. über Spalding und über sich selbst vermerkt hat: Den "Beobachter seiner selbst" und angehenden religiösen Schriftsteller sieht man hier im Werden begriffen. Angesichts der Skala der gepflegten Empfindungen und der Intensität des Gedankenaustauschs fiel L. der Abschied aus Barth nicht leicht. Er war entschlossen, "die guten Grundsätze, die wir angenommen, in unserem Vaterland zu befolgen und gegen alle Hinderungen durchzusetzen" (279). Es sollte einige Zeit dauern, bis er - bei lebenslanger Hochschätzung der Persönlichkeit Spaldings - von dessen theologischen und philosophischen Positionen Abstand gewann.

2. Nur wenige Tage (18.-23.6.1778) umfaßt das schmale Tagebuch des inzwischen nun schon weithin bekannten Predigers L. über seine Reise nach Pondorf a. d. Donau zu dem Priester Johann Joseph Gassner (Bd. 4 = Teil II, 9-25). Die exorzistische Sitzung Gassners, die L. genau beobachtete und beschrieb, blieb zwar ebenso erfolglos wie der exorzistische Versuch, dem L. sich unterzog. Gleichwohl behielt er Zutrauen zu Gassner, meinte er doch, daß die Kraft der Heilung jedem Menschen als Ebenbild Gottes innewohne und daß sie sich "durch den Glauben an die Menschheit Christi" bis zur höchsten Vollkraft steigern lasse. Auf der Heimreise peinigte ihn jedoch nach wie vor sein "Durst nach Christuserfahrung".

3. Von Notizen über sein fortwährendes Suchen nach Erfahrungsbeweisen für die Wirksamkeit übersinnlicher religiöser Kräfte ist auch das Tagebuch L.s Reise von Zürich nach Genf (Juli/August 1785) durchzogen (37-102). Das Interesse des Physiognomikers an Bildnissen aller Art ist jetzt gewachsen, der Blick für die Besonderheiten der Natur (vgl. 57-61) eindringlicher, das Urteil über Erscheinung und Meinungen der Menschen, denen er begegnete, dezidierter und schärfer geworden.

4. Obschon nach Form und Inhalt charakteristisch anders als jenes erste Tagebuch von 1763/64, ist den 33 "Tagebuchbriefen" des 53jährigen Theologen von seiner Reise nach Kopenhagen (1793) ähnlich große Bedeutung zuzuerkennen. Diese Tagebuchbriefe waren von vornherein - mit markierten Ausnahmen - zur Zirkulation im Freundeskreis und zur Veröffentlichung abgefaßt. Die Konzentration auf das vor den Lesern strikt verborgen gehaltene, geheimnisvolle "Hauptziel meiner Reise", d. h. auf die Erkundung der vom Herausgeber so genannten "Kopenhagener Phänomene", trug zur Verdichtung der Berichte bei. Ballast wie im Tagebuch von 1763/64 findet sich hier nicht mehr. Die Anzahl und Auswahl der Besuchten ist verringert, Ton und Stimmung abgesenkt: "wenige Menschen fanden wir, die uns interessierten ... Oh, wie allgemein ist Kälte, Gleichgültigkeit ... alles allenthalben nichtig" (152 f., 163, 165). Die Begegnung mit Prinz Karl von Hessen in Luisenlund bei Schleswig verliefen im Blick auf das "Hauptziel" tief enttäuschend, kaum besser - von gesellschaftlichen Erlebnissen abgesehen - die Unterredungen mit dem Kronprinzen in Kopenhagen und mit den übrigen Mitgliedern des kleinen christlichen Geheimzirkels über ihre "Lehre" und über die von ihnen behauptete "höhere reelle Connexion" mit Christus. L. kehre auch diesmal ohne die Gewißheit einer solchen "Connexion" nach Zürich zurück. Sein jahrelanger "Durst nach Christuserfahrung" war nicht gestillt. Bis in seine letzten Lebentage (1801) sollte ihn die Ungewißheit darüber quälen.

5. Eine richtige Entscheidung des Herausgebers war es, im Anhang (308-363) den Tagebuchbriefen von 1793 die - lange Zeit unter Verschluß gehaltenen - Abschriften des Lavater-Biographen Ulrich Hegner zur Kopenhagen-Reise beizugeben, denn Hegners Exzerpte sind zum Verständnis der "Kopenhagener Phänomene" unentbehrlich. Leider mußte der Herausgeber gerade sie - aus äußeren Gründen (vgl. Vorwort zu Teil II) - unkommentiert lassen.

Zu beiden Bänden wäre ein Sachregister nützlich gewesen. Vor allem aber hätte die Einzelkommentierung der Texte der Tagebücher einer durchgehenden Straffung bedurft. Viele Anmerkungen sind durchaus entbehrlich, manche tun des Guten zu wenig, andere dagegen zu viel.

Einzelnes: Teil I, S. 113, Anm. 30: Madame La Coque: die 1920 heiliggesprochene Mystikerin Marguerite-Marie Alacoque (1647-1690). - S. 453, Anm. 14: Nicht Pierre Bayle ist gemeint, sondern Nathanael Bailey (!), An Universal Etymological Critical Dictionary. - S. 654: Guttschlag = Schlaganfall. - Teil II, S. 10, Anm. 9: "gemeine Augen" = gewöhnliche, unauffällige, unbedeutende A., nicht: allgemeine; vgl. etwa S. 84 "les hommes ordinaires". - S. 12, Anm. 30 ist irrig. Das Zitat heißt richtig: "Studium medicorum est studium opinationum", wie übrigens kurz danach übersetzt: "Der Arzt geht nach Mutmaßungen". Die Chirurgen werden hier, anders als im Mittelalter, höher eingeschätzt als die Ärzte: "Chirurgus zehnmal gewißer als Medikus". - S. 18, Z. 12 und 13: actus nolitionis, volitionis. - S. 153, Anm. 63: Bernstorff "Ministerpräsident Dänemarks" ist irreführend. - S. 238, Anm. 28: "Dybbøl" für "Düppel" ist unangebracht. L. selbst schreibt "Düppel". Zu seiner Zeit war in Kopenhagen Deutsch die Hofsprache! Auch "Hadersleben", "Seeland", "Fünen" usw. war damals und ist heute noch korrekt.