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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1238–1240

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haag, Norbert, Holtz, Sabine, u. Wolfgang Zimmermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500-1850. Hrsg. in Verbindung m. D. R. Bauer.

Verlag:

Stuttgart: Thorbecke 2002. 360 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 34,90. ISBN 3-7995-0126-6.

Rezensent:

Maren Lehmann

Die allgemeine Redensart, die Kirche sei im Dorf zu lassen, setzt die Gewissheit voraus, dass die Kirche selbstredend im Dorf ist und immer schon im Dorf war, ja: dass sie dort und nur dort hingehört. Soziologische Säkularisierungstheorien zum Beispiel konzentrieren sich auf Differenzierungs- und damit Individualisierungsannahmen, die an Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen gewonnen sind. Sie unterstellen also zum einen Ungleichzeitigkeiten zwischen Stadt und Land und zum zweiten einen deutlichen Tempovorteil der Stadt. Die Rede von Säkularisierung und Individualisierung lebt im Ergebnis gerade da, wo sie modernitätskritisch auftritt (beispielsweise in ihrem Lebenswelt-Begriff, dessen sich der vorliegende Band bedient), von einer gewissen Herablassung oder doch zumindest einer Indifferenz gegenüber ländlicher Religiosität.

Dieser Beobachtung setzt sich der vorliegende, vor allem wegen des dargebotenen Materialreichtums leistungsfähige Band aus. In drei Abschnitte geordnet, werden Einzeluntersuchungen und Fallstudien nebeneinander gesetzt, die auf den ersten Blick gerade auch in Hinblick auf die Abschnittstitel heterogen wirken, sich aber auf den zweiten Blick doch gut sortiert darbieten. Denn sie drehen sich sämtlich um Organisationsfragen des Religiösen, insbesondere um die Kopplung von Haushaltsökonomien und deren rechtliche und politische Ordnung, um Rollenkomplementaritäten (Priester/Laien), um Kompetenzen und Entscheidungswege und um Kommunikationsstrukturen. Der riskant große Zeitrahmen (frühes 16. bis 19. Jh.) beschreibt denn auch, so der dominierende Eindruck nach der Lektüre, in erster Linie einen Prozess der Normalisierung formaler Organisation im Sinne der Erwartung, dass es sich bei Religions-, Politik-, Rechts- und Erziehungsfragen um Entscheidungsprobleme handelt. Gerade weil dieser Prozess in den meisten Beiträgen als Geschichte des Unterlaufens, des Spielens mit organisatorischen Regeln und Zuständigkeiten und nicht zuletzt als Geschichte des Protests gegen Organisationsstrukturen erscheint, stellt er sich im Ergebnis überraschend deutlich als Prozess der Durchsetzung dieser Strukturen dar. - Unter der Überschrift "Konfessionalisierungsprozeß und Glaubenspraxis im ländlichen Raum" versammelt der erste Abschnitt Beiträge, die sich hauptsächlich den im Zuge der Reformation unsicher werdenden gemeindlichen Ordnungen widmen.

C. Scott Dixon kündigt im Titel eine anthropologische Betrachtung an, widmet sich aber im Verlaufe seiner Argumentation vordringlich dem Problem der lokalen Elitenkonkurrenz um die Hoheit in Fragen der Lebens- wie auch der Amtsführung. Wenn es richtig ist, dass die Reformation "von Wanderpredigern und motivierten Laien" (30) aus den Städten in die Landgemeinden getragen, dort aber dennoch in der Hauptsache von den Pfarrern vertreten wurde, dann ist zu erwarten, dass die Pfarrer in den Gemeinden als Fremde oder doch als Personen mit prekärem Status beobachtet wurden, und das wiederum macht es wahrscheinlich, dass neuzeitliche Turbulenzen um Amt und Lebensführung an der Person des Pfarrers paradigmatisch ausgetragen werden konnten. Diesen Eindruck bekräftigt auch Johannes Wahl in seiner Betrachtung des Status' des Pfarrhaushaltes im dörflichen Gefüge. Er stellt den Pfarrer ganz deutlich als Fremden dar, und zwar als jemanden, dessen Fremdheit im Dorf darauf beruht, dass er sowohl hinsichtlich seiner familiären Ökonomie als auch seiner Karriere- und Bildungsanstrengungen als Hinweis auf städtisches Verhalten wahrgenommen wird, ohne jedoch selbst die städtische Kultur weiter pflegen zu können. Während Dietmar Schiersner in seiner Fallstudie illustriert, dass bei sozial eingeführten konfessionellen Differenzen keine lokalen Ausschließlichkeiten mehr durchsetzbar und auch nicht mehr erwartbar sind- die politische Einheit einer Gemeinde geht sozialstrukturell problemlos, wenn auch alltäglich nicht reibungslos, mit gleichzeitiger konfessionell-religiöser Differenziertheit einher -, gibt Werner Freitag soziologisch hochplausible Gründe für diese Lage an: Die Verschränkung des Profanen und des Heiligen findet im Rahmen der Ökonomie statt, die professionell verwaltet, das heißt: die organisiert werden muss. Ausgehend von der Verwaltung der Pfründenökonomie werden dann auch Fragen der Glaubenspraxis als Entscheidungs- und Regelprobleme behandelt und schließlich akzeptiert. Wie Ulrich Pfister zeigt, erfasst dieser Prozess nicht nur Probleme des Amtes selbst, sondern sehr schnell auch liturgische Probleme. Durch die Gottesdienstordnung, ja durch die liturgische Hygiene wird der Ernst konfessioneller Ausdifferenzierung (Reinheit) darstellbar, weil so die Kirche als "Gnadenterritorium" markiert wird, das seine Einheit an einer konfessionellen und nicht an einer politischen Praxis findet. Erst dadurch kann die Kirche sowohl als kommunikatives als auch als materiales Gebilde zum gemeindlichen Statussymbol werden, an dessen Ausgestaltung sich dann die Geister scheiden, wie Immacolata Saulle Hippenmeyer und Frauke Volkland in ihren Beiträgen zeigen.

Der zweite Abschnitt setzt sich unter dem Titel "Konfessionskulturen und ländliche Lebenswelten" mit religiösen, insbesondere magischen Gepflogenheiten und deren Kopplung an moralische Standards der ländlichen Lebensführung auseinander.

Andreas Holzem stellt die Konfessionalisierung religiöser Erfahrung als Bildungs- und Ästhetisierungsprozess dar, dem eine komplexe Disziplinierung - das heißt hier insbesondere: Zuspitzung, Explikation, Regelung - der Glaubenspraxis korrespondiert. Dominik Sieber nimmt in seinem Beitrag die komplexe Verschränkung des Fremdheits- und des Integrationsproblems mit katechetischen und liturgischen Problemen auf; seine Darstellung zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie die Stadt/Land-Unterscheidung anhand der Möglichkeit gerade ihrer Verwischung durch Wanderungsbewegungen thematisiert, sondern auch dadurch, dass sie das Verwaltungs- bzw. Organisationsproblem (hier: des Jesuitenordens) in der Regelhaftigkeit schriftlicher Instruktionen und entsprechender Berichterstattungen aufzuweisen vermag. En passant wird daran auch deutlich, wie es möglich war, soziale Möglichkeiten durch Entscheidungen scharf zuzuspitzen, also in die Form von Alternativen zu bringen, und doch zugleich zu integrieren; ein Problem, das in mehreren Beiträgen (etwa zu Simultankirchen) angesprochen wird. Marc R. Forster und Guillermo Luz-y-Graf befassen sich mit Interpretationsproblemen und -konflikten in Hinblick auf den Wunderglauben; nicht nur Elitenkonkurrenzen scheinen erneut auf, sondern auch Konflikte der inzwischen ausdifferenzierten Professionen. Oliver Becher und Aline Steinbrecher schließlich widmen sich ebenso wie Andreas Maisch der Konfrontation religiös, politisch und rechtlich zugespitzter moralischer Normen mit den dörflichen Traditionen am Beispiel von Eheschließungen und Geburten.

Der 3. Abschnitt, "Kontinuität und Wandel ländlicher Frömmigkeit im 19. Jahrhundert", kommt auf weitere Möglichkeiten (und Zwänge) zurück, die organisatorischen Regelungsbestrebungen zu unterlaufen.

Bemerkenswert ist der von Tobias Dietrich geschilderte Pragmatismus, mit dem die Dorfgemeinden - notfalls gegen die "zwischen Lumière und Lümmelei... hin- und hergerissen[en]" Pfarrer (322) - die nicht zuletzt durch die Konfessionalisierungsprozesse selbst hervorgerufenen politischen und wirtschaftlichen Notlagen zu bewältigen versuchen: eine "Krisenfrömmigkeit auf der Basis von Machbarkeit" (318). Die von Vadim Oswalt beschriebene dörfliche Resistenz gegen allzu ambitionierte Missionierungen, zumal wenn sie im Gewand pädagogisierender Aufklärung auftreten, ist im Rahmen dieses Bandes ein redundantes Phänomen; sie wird aber hier - und das fehlt in vielen Beiträgen - auf den doch offensichtlich für die Publikation programmatisch wichtigen Lebenswelt-Begriff bezogen (von dem her allerdings gerade diese Resistenz wenig überraschend ist). Wichtig im Themenspektrum des Bandes ist der abschließende Beitrag von Andreas Gestrich, der sich dem durch die pietistische Bewegung veranlassten Variantenreichtum gemeindlicher Binnendifferenzierung widmet, der von einem programmatischen individualistisch-asketischen und zugleich anti-organisationalen Impuls zehrt, zugleich aber auf diese kontrastierende andere Seite seiner selbst nicht verzichten kann.

Gerade das mag für das Dorf im Unterschied zur Stadt gelten. Welche sonstigen Gegenbegriffe für "das Dorf" einerseits und "die Stadt" andererseits in Frage hätten kommen können, lässt der Band leider offen, zumal er im Titel weder das eine noch das andere, sondern "Ländlichkeit" führt (die Möglichkeit, dass das Land als riskantes Außen sowohl des Dorfes als auch der Stadt, also als innersoziale Umwelt jeglicher Siedlungsstruktur zu betrachten wäre, findet keine Erwähnung). Vermutlich hat es im Laufe der beschriebenen vier Jahrhunderte hier Verschiebungen und Gegenbegriffssubstitutionen gegeben, die dem Konfessionalisierungsproblem und allgemeiner: dem Problem sozialer Differenzierung zuzurechnen sein könnten. Über diese Frage sagt der Band nichts, geschuldet wahrscheinlich der Selbstverständlichkeit, mit der der Lebenswelt-Begriff da benutzt wird, wo er benutzt wird. In einer differenzierungstheoretischen Studie wäre das zum Handicap geworden, weil "Lebenswelt" eben gerade keinen reibungslosen Begriff abgibt. Dem vorliegenden Band schadet es dennoch kaum, zumal anhand der gebotenen Materialfülle auch jenseits begrifflicher Abstraktion beispielhaft zu lernen ist, dass weder die Lebenswelt noch die sie ordnenden Sozialstrukturen je als Reibungslosigkeiten zu begreifen sind.