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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1236–1238

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas

Titel/Untertitel:

Rhetorik und Religion. Studien zur praktischen Theologie des Alltags.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 277 S. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 10. Kart. Euro 42,95. ISBN 3-579-03489-8.

Rezensent:

Jan Hermelink

In seiner - 1999 in Tübingen vorgelegten - Habilitationsschrift versucht Thomas Erne, eine gründliche, durch I. U. Dalferth, M. Moxter und Ph. Stoellger begleitete Lektüre der Philosophie Hans Blumenbergs für die Praktische Theologie fruchtbar zu machen. Das Buch gliedert sich in vier etwa gleichgewichtige Studien; sein sachliches Zentrum liegt im dritten Kapitel, das Blumenbergs Begriff des "Rhetorischen" ausdrücklich zum Thema macht.

Das erste Kapitel "Alltag als Lebenswelt" rekonstruiert die Grundlagendebatte zum Verhältnis von Religion und Alltag an vier einschlägigen Entwürfen. D. Rössler fundiert die Praktische Theologie in der Wahrnehmung individuell gelebter im Unterschied zu manifester, sprachlich fixierter Religion, reduziert jedoch, wie E. kritisiert, die gelebte Religion des Alltags vorschnell auf eine bestimmte apriorische Grunderfahrung. Gegen W. Gräbs und D. Korschs Aufhebung der neuzeitlichen Religionspraxis in einer Konstitutionstheorie von Subjektivität wendet E. ein, dass dabei die lebensweltliche Mehrdeutigkeit abgeblendet wird, die den unthematischen Hintergrund aller religiösen (Selbst-)Reflexion bildet. H. Luther begreift Religion einseitig als eschatologisch-kritischen Abstand von der Welt und kann darum, so meint E., den Alltag nur negativ, nicht aber auch als Ort der Transzendierung des Gegebenen in den Blick nehmen. Am meisten Zustimmung findet die phänomenologische Verhältnisbestimmung von Religion und Lebenswelt bei W.-E. Failing und H.-G. Heimbrock, die den Alltag als in sich beweglichen Horizont momentan vorausgesetzter Vertrautheiten begreifen. Diese Perspektive vermag auch die religionsproduktive Potenz des Alltäglichen im - leiblich-sinnlichen - Detail wahrzunehmen.

Der praktisch-theologischen Rezeption des Rhetorikbegriffs ist das zweite Kapitel gewidmet. E. unterscheidet hier "Rhetorik" (im üblichen Sinne) als Theorie sprachlicher Vermittlung vom "Rhetorischen" als einer spezifischen Form "symbolischer Kommunikation, die den Alltag der Menschen trägt", indem sie dessen "Horizonte des Selbstverständlichen" vor rational-reflexiver Auflösung schützt und zugleich immer wieder in neue Mehrdeutigkeit transformiert (87 f). Bei G. Otto findet E. jedoch nur einen Begriff von verständigungsorientierter Rhetorik, der diese kritisch-sittlich normiert und damit aus dem Bereich gelebter Religion heraushält, in dem Weltvertrautheit sich "nicht-diskursiv", gleichwohl aber rhetorisch bildet, nämlich durch Metaphern und Symbole (108 f.). M. Josuttis nimmt "Rhetorik" im Rahmen einer kritischen Homiletik in Anspruch und verfolgt später einen ähnlichen, transempirischen Impuls auch in seiner Liturgik; das massiv gegenständliche, "zeichentranszendente" Verständnis des "Heiligen" übersieht jedoch die sprachliche Vermittlung aller religiösen Erfahrung (130).

Die praktisch-theologischen Rekonstruktionen, die E. vorlegt, arbeiten Stärken der jeweiligen Position heraus und enthalten - für informierte Lesende - interessante Pointen. Allerdings wird er stets nach wenigen Seiten mit einer in immer ähnlichen Wendungen und Zitaten wiederkehrenden Position konfrontiert, die den Alltag als in sich mehrdeutige "Lebenswelt", als "Horizont von Selbstverständlichkeit" etc. zu begreifen empfiehlt. Erst im dritten Kapitel wird die kulturphilosophische Herkunft dieser Kritik deutlich gemacht, nämlich durch die Rekonstruktion einiger Linien des Denkens von Hans Blumenberg. E. arbeitet Blumenbergs These heraus, angesichts nicht einlösbarer Evidenz- und Letztbegründungsansprüche nehme alltägliches Handeln und Deuten immer schon einen - situativ verschiebbaren, aber im Ganzen unhintergehbaren - Horizont des Unbefragten in Anspruch und vollziehe damit "pragmatische Daseinsfürsorge". Diese alltägliche Daseinsfürsorge geschieht durch permanente rhetorische "Abschirmung des Selbstverständlichen", etwas konkreter: durch die Bildung und vor allem die Rezeption von Metaphern, die die "bedrohliche Unbestimmtheit" menschlicher Weltwahrnehmung immer aufs Neue in "bestimmte Unbestimmtheit" transformieren (163). Metaphern schaffen Distanz zu Begründungs- und Handlungsdruck, sie sind in ihrer Funktion der Abstandsgewinnung zu würdigen, nicht als Darstellung auch anders zu beschreibender Sachverhalte. Durch Metaphorisierung sichert rhetorische Kommunikation lebensweltliche Routine gegen ein Übermaß an Fraglichkeit (173); zugleich sorgt sie für eine Transformation allzu selbstverständlicher, "geronnener" Sichtweisen und gibt dem Fremden im Alltag Raum.

In diesem Horizont kann E., eher anhangsweise, die Religion thematisieren: Auch sie stabilisiert, etwa im Ritus, das Vertrauen in den Alltag; zugleich verweist sie auf fremde, den bestehenden Konsens irritierende "Sinnüberschüsse" (193 f.). Eine thematisch eigenständige, spezifische Funktion religiöser Rhetorizität vermag E. im Anschluss an Blumenberg jedoch nicht aufzuzeigen. Dass "Religion" und "Rhetorik" im Ganzen recht unverbunden bleiben, zeigt auch eine andere Beobachtung: Nur ganz gelegentlich deutet E. die "Rhetorizität der Lebenswelt" in Kategorien der Schöpfungstheologie (98.193) oder der Dialektik von Gesetz und Evangelium (43.119.211); eine eigene theologische Perspektive ist kaum zu erkennen.

Umso bedeutsamer erscheint der Versuch des letzten, des vierten Kapitels, den rhetorisch-phänomenologischen Blick auf "das Verborgene im alltäglich Vertrauten" (201) exemplarisch am seelsorglichen Handlungsfeld zu erproben. Als Thema der Seelsorge bestimmt E. die prekäre Balance zwischen der Notwendigkeit stabiler Lebensformen und ihrer tendenziellen Erstarrung, oder zwischen "Formzerstörung und Formaufbau" (211); er präzisiert dieses Thema in einem Durchgang durch die alltagsorientierten Seelsorgetheorien von H. Luther, E. Hauschildt und J. Scharfenberg und stellt sodann qualitative Methoden zur Erforschung von Seelsorge im Alltag vor. Erst auf den letzten 15 Seiten wird dieser Anmarsch konkretisiert durch den gesprächsweisen Rückblick eines Paares, wie sie die Geburt ihrer durch das Down-Syndrom behinderten Tochter verarbeitet haben. In einer knappen, recht unmethodischen Kommentierung des Interviews stellt E. die "rhetorischen" Strategien heraus, mit denen das Elternpaar die Erfahrung von sinnloser Abgründigkeit bewältigt hat, ohne zu absoluten, endgültigen Antworten gekommen zu sein.

In der Dialektik von - ausdrücklich abgelehnter - religiöser Sinngebung der Behinderung und durchaus transzendenter, aber- ebenso ausdrücklich - vorläufiger Begründung von erneutem Weltvertrauen erscheint das dokumentierte Gespräch hochinteressant. Freilich kann es in kaum einem Sinn als Seelsorgegespräch gelten; dazu wird das "Rhetorische" hier - in Spannung zu E.s Interesse - gerade explizit und reflexiv. So bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck: Blumenbergs Theorie der Lebenswelt, des Rhetorischen und der Metapher vermag praktisch-theologische Grundprobleme wohl erhellend zu reformulieren. Dass diese programmatische Perspektive auch und gerade alltägliche (!) kirchliche Praxis zu erhellen oder gar zu orientieren vermag, das bleibt jedoch bis zum Schluss eher eine Behauptung.