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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1234–1236

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dober, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Die Moderne wahrnehmen. Über Religion im Werk Walter Benjamins.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 464 S. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 8. Kart. Euro 49,95. ISBN 3-579-03488-X.

Rezensent:

Thomas Klie

Ein von seinem Selbstanspruch her praktisch-theologisches Buch, das in seiner Argumentationsstruktur fast vollständig ohne Bezugnahmen auf die Bibel auskommt, ist gewöhnungsbedürftig. Aber vielleicht ist die im Einleitungs- und Schlusskapitel angezeigte praktisch-theologische Lesart auch nur eine Lektürestrategie im Hinblick auf die hier vorliegende philosophie- und kulturgeschichtliche Rekonstruktion.

Martin Dober geht es in seiner Tübinger Habilitationsschrift um die theologische Rehabilitation des Werks von Walter Benjamin bzw. um den religionsphilosophischen Ort seiner Modernetheorie. Von hier aus begibt D. sich auf die Suche nach "Entsprechungen" zwischen den "leitenden Fragestellungen" der Praktischen Theologie - hier verstanden als Theorie religiöser (Sprach-)Wahrnehmung - und der Philosophie Benjamins. In engem Kontakt zu dessen Werk (insbesondere den literarischen Analysen und Kritiken) will D. einen Beitrag leisten zur Wahrnehmungsaufgabe einer im weitesten Sinn hermeneutisch ausgelegten Praktischen Theologie. Der Fokus liegt hierbei - dies legt sich beim uvre Benjamins nahe - vor allem auf den ästhetischen Lebensäußerungen. Kunst bzw. Literatur werden als ein Medium begriffen, "in dem die offen gelassenen Fragen ihre schwache, begrenzte Lösung auf dem Weg individueller Darstellung finden können" (21). D. weiß nur zu gut, dass er sich damit auf einen nicht unbeträchtlichen "Umweg" begibt. Er sieht darin jedoch einen spezifischen "Modernitätsindex", denn Praktische Theologie muss sich grundsätzlich "zur Ausbildung des ihr Eigenen" (22) auf fremdes Terrain einlassen. Als methodologischer Kronzeuge für einen solchen Zugang wird Schleiermacher angeführt.

D. gliedert seine Untersuchung in vier Teile. In der Einleitung (I: 47 S.) wird die Fragestellung begründet, die Notwendigkeit des "Umwegs" plausibilisiert, und es werden wichtige Kategorien definiert (Post-/Moderne, Religion, Theologie). Sie führt zu der Feststellung, dass der "gesellschaftliche Modernitätsindex des Theologischen bei Benjamin darin besteht, nicht mehr auf die institutionalisierte Religionsgestalt bezogen zu sein, sondern auf die gesamte Kultur" (58). Daraus resultieren auch die thematischen Akzente auf der (religiösen) Erfahrung, der Kunst und der Geschichte.

Im ersten Hauptteil (II: 208 S.) geht es um die "Präsenz der Religion" im Frühwerk Benjamins. Dieser tritt am Anfang des 20. Jh.s als ein Philosoph in Erscheinung, der in kritischer Distanz zu Kant Religion erkenntnistheoretisch darzustellen versucht, die Aufklärung also religiös über sich selbst aufklärt. Der Erfahrungsbegriff ist bei Benjamin funktional bezogen auf den Entwurf einer apriorischen Metaphysik, in der auch die Religion und der Gottesbegriff ihren Platz haben. Überzeugend arbeitet D. hier die Gefährdungen heraus, denen der Konnex von Erfahrung und Erlebnis ("ein Urphänomen protestantischer Religion"; 420) in einer durch moderngesellschaftliche Diskontinuität gekennzeichneten Situation ausgesetzt ist. Als nach wie vor sperrig erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch Benjamins Weigerung, Sprache als Kommunikation zu verstehen, und sie stattdessen unter Bezug auf die Schöpfung als unmittelbare Erkenntnis aus dem Namen zu interpretieren ("Namensprache"). D. versucht hier die von Benjamin gesetzten metaphysischen Bedingungen des Sprechens zu erhellen: die Selbstoffenbarung des geistigen Wesens der Dinge als unmittelbare Erkenntnis aus dem Namen. Zwischen "Namen" und Geschöpf wird eine prästabile, übersinnliche Korrespondenz postuliert, die es ermöglicht, dem göttlichen Schöpfungsakt auf die Spur zu kommen. So sehr sich hier aber D. auch müht, Benjamins Sprachmagie (praktisch-)theologisch zu rechtfertigen - die Kluft zwischen Kabbala und Konstruktivismus bleibt tief.

Im zweiten Hauptteil (III: 146 S.) stehen Benjamins Arbeiten zur Romantik, zu Goethe und zum Barock im Mittelpunkt. An ihnen zeichnet D. die empirisch-historischen Bedingungen des religiösen Formwandels nach. Seine Kernthese ist: Die Transformation der Religion in der Moderne ist eingelagert in Transformationsprozesse der Struktur der Erfahrung. Zwar ist Ästhetik nicht der Religion funktionsäquivalent, aber sie gibt doch das Medium ab, "in dem unter moderngesellschaftlichen Verhältnissen religiöse Anliegen geltend gemacht werden, und sei's in der Weise, die den betreffenden Künstlern selbst unbewusst, vom Kritiker aber bewusst zu machen ist" (278). Im Gespräch mit philosophischer Ästhetik und historischer Literaturwissenschaft wird deutlich, warum und inwiefern die Frage nach künstlerischen Religionsgestalten dialektisch auf Theologie zurückverweist. Für Benjamin ist die Geschichte eine "Form der Religion", an der vor allem der Ausstand der Erlösung erkennbar ist (274). Bemerkenswert ist, dass D. die Darstellung von Benjamins barockem "Trauerspiel" - eine im Urteil Schaeders "ganz individuelle und bis zur Unverständlichkeit verdunkelte Scholastik" (304, Anm. 1) - in der Gedankenführung sehr viel besser gelingt als die Schneisen durch das Benjaminsche Textlabyrinth im ersten Hauptteil.

Das Schlusskapitel (IV: 17 S.) dient dazu, die praktisch-theologischen Erträge zu sichern. Die wenigen, wenn auch äußerst komprimierten Sätze in diesem insgesamt viel zu knapp ausgelegten Abschnitt vermögen jedoch nicht die gesamte praktisch-theologische Beweislast zu tragen. Dafür ist der zuvor eingelegte "Umweg" einfach zu weit und zu beschwerlich. Für die Praktische Theologie bleibt kaum ein Ertrag erkennbar, der nicht auch schon durch andere, durchweg kommodere und zudem erprobte "Umwege" (Semiotik/Phänomenologie) erzielt werden könnte. Kompatibilitätsprobleme bereiten auch das historisch-materialistische Inkognito von Benjamins "inversiver Theologie" sowie das Integral seiner hermeneutischen Metaphysik, die Sprachphilosophie.

Das alles spricht nicht gegen die Qualität der Arbeit, wohl aber gegen die intendierte praktisch-theologische Lesart. Man kann diese außerordentlich sorgfältig gearbeitete und auf hohem Niveau präsentierte Untersuchung problemlos und mit Gewinn als kulturtheoretische bzw. philosophiehistorische Arbeit zu einem in der Literatur bislang vernachlässigten Aspekt im Werk von Walter Benjamin lesen. Dessen Abkehr von der klassischen Philosophie hin zum geschichtstheologischen Kommentar ästhetischer Formen kann hier bis in die feinsten Verästelungen nachvollzogen werden.

Stilistisch ist es nicht gerade eine leichte Kost, die D. seinen Lesern zumutet. Zu voraussetzungsvoll ist das kompakte Gewebe der erkenntnis- und religionstheoretischen Ableitungen. Ebenso beeindruckend ist der offenkundig dem literarischen Genre Habilitationsschrift gezollte Fußnotenapparat, der das Geschriebene über weite Strecken hart an der Lesbarkeitsgrenze hält (Fußnote 86 erstreckt sich z. B. über die Seiten 93-95). Unter den Bedingungen des real existierenden Pfarramts ist dieses Buch kaum zu bewältigen. Zu gering ist dafür auch die behauptete Handlungsrelevanz - selbst dann, wenn man "Handlung" in dem Sinn versteht, "in dem man einen Termin wahrnimmt" und von dort aus nach der Wahrheit fragt (20). Das Überblenden religiöser Praxis ist hier vielmehr systembedingt, pflegte doch Benjamin selbst ein eher distanziertes Verhältnis zur Christentums- bzw. Judentumspraxis. "Religiöse Zeremonien" verfolgte er mit Argwohn - Pietät "als Religion" lag ihm fern (GS IV/1, 251 bzw. D., 50). "Gelebte Religion" erscheint bei D. darum durchgehend in der dritten Ableitung - D. deutet Deutungsdeutungen. In einem solchen Aggregatzustand kann aber dieser sensible Gegenstand leicht zu einem Phänomen leibfreier Bewusstseinsrückungen bar jeglicher Performanz mutieren.

Die Schar derer, die sich wie D. - ausgestattet mit intellektueller Finesse und profundem philosophie- und kulturgeschichtlichem Wissen - in den hermetischen "Denkbildern" Benjamins bewegen, um daraus praktisch-theologischen Gewinn zu ziehen, wird auch nach der Lektüre von D.s Schrift eher gering bleiben. Sicher aber wird sie im Hinblick auf die religionstheoretischen Implikationen dieses "Klassiker(s), der zu sperrig ist, um sich gütlich kanonisieren zu lassen", (Bolz/van Reijen) um einiges gebildeter sein.