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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1228–1231

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schönborn, Christoph

Titel/Untertitel:

Gott sandte seinen Sohn. Christologie. Unter Mitarbeit v. M. Konrad u. H. Ph. Weber.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2002. 372 S. 8 = AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie, 7. Geb. Euro 34,90. ISBN 3-89710-202-1.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Mit dieser Monographie hat der dominikanische Theologe und frühere Dogmatik-Professor in Fribourg (Schweiz) Christoph Schönborn, seit 1995 Erzbischof von Wien und seit 1998 Kardinal, einen umfassenden und anspruchsvollen christologischen Entwurf vorgelegt, der zweifellos das größte Interesse der evangelischen Theologie verdient - unabhängig davon, ob die Platzierung in einer katholischen Lehrbuchreihe als eine sinnvolle Entscheidung gelten kann.

Über die theologische Stoßrichtung seines Entwurfs gibt der Vf. in einem hinführenden Rechenschaftsbericht (11-24) selbst in wünschenswerter Klarheit Auskunft: in Gestalt einer confessio über "die eigenen christologischen Wegschritte" (12). Am Anfang stand die Einsicht in die Unzulänglichkeit des (prima vista faszinierenden) Bultmannschen Entmythologisierungsprogramms: Die "kürzeste und wichtigste Christologievorlesung" wurde ihm in Gestalt eines mütterlichen Hinweises auf die Unverzichtbarkeit der tradierten Heilstatsachen für den christlichen Glauben gehalten (13).

Hier liegt die Wurzel der apologetischen Seite des Buches: Es geht dem Vf. darum, den "Glauben der Einfachen" gegen die "angeblich wissenschaftlich begründeten Bestreitungen" von Jungfrauengeburt und leiblicher Auferstehung zu verteidigen (20) und zugleich die spirituelle Dimension der Christologie zur Geltung zu bringen (vgl. 23), ein Zugang, den der Epilog (341-355) im Blick auf "die theologale Dimension des christlichen Lebens" (345) der Theresia von Lisieux (1873-1893) jedenfalls andeutungsweise illustriert.

Es folgten intensive Auseinandersetzungen mit der Theologie der griechischen Kirchenväter, in deren Folge dem Vf. die vielfach als hoffnungslos aporetisch geltende Zweinaturenlehre mehr und mehr als sachgemäße und unverzichtbare Entfaltung des Christusmysteriums einleuchtete. Im Konvenienzargument schließlich, das insbesondere bei Thomas von Aquin eine entscheidende Rolle spielt, fand er den Schlüssel für die Bewältigung der Probleme, die sich für die dogmatische Christologie "im Kontext der nachaufklärerischen Problematik von Vernunft und Geschichte ... besonders im Blick auf die historisch-kritische Exegese" ergeben, hält doch s. E. die Suche nach Konvenienzen "die Waage zwischen dem strengen Achten auf die textlichen und historischen Tatsachen und dem Gespür für die Zusammenhänge im größeren Ganzen" (17). Bei der Orientierung in dem damit benannten Spannungsfeld von Dogmatik auf der einen und Geschichte bzw. Exegese auf der anderen Seite haben für den Vf. auch die Auseinandersetzungen mit christologischen Reflexionen aus evangelischer Hand eine Rolle gespielt, wobei dem Ansatz von Wolfhart Pannenberg besondere Bedeutung zukommt (18).

Die Praeambula Christologiae (25-55) skizzieren zunächst kurz die Krisensymptome, die gegenwärtig einen zeitgemäßen Zugang zum Thema erschweren: Reformation, Aufklärung und Psychologie haben mit der Infragestellung von Tradition, Schrift und religiöser Erfahrung die "Säulen der Christologie" (30) ins Wanken gebracht; naturwissenschaftliche, historische und existentielle Krise haben die christliche Anthropozentrik, die absolute Bedeutung des Christusgeschehens und die Sachhaltigkeit der Christusbotschaft in Frage gestellt. Im zweiten Schritt wird freilich auf die Resistenz der Gestalt Jesu verwiesen, greifbar in der Faszination, die Jesus etwa auf Dostojewski und Nietzsche ausgeübt hat: "Diese Diskrepanz zwischen den Resultaten der Kritik ... einerseits und der Tatsache der nach wie vor wirksamen Imposanz der Gestalt Jesu andererseits scheint ein entscheidender Hinweis bei der Suche nach dem tragenden Fundament der Christologie zu sein" (41).

Mit dieser Feststellung ist - für den Rezensenten ein wenig überraschend - schon die Brücke zum biblischen Zeugnis geschlagen, in dem sich der moderne Kontrast zwischen Nein und Ja zu Jesus bereits abschattet (Paulus), ebenso wie der Anspruch des Menschen Jesus, "an Gottes Statt und mit göttlicher Vollmacht zu handeln" (55, Hervorhebung von mir, RL; Mk 2, 1-3,6), und das Paradoxon des gekreuzigten Gottes (Phil 2, 5-11).

Die nun einsetzende materiale Entfaltung der Christologie (58-342) vollzieht sich im Anschluss an das Glaubensbekenntnis: Behandelt werden die Themen Präexistenz, Menschwerdung, irdischer Weg, Passion und Verherrlichung. Im Mittelpunkt des Präexistenzkapitels (62-97) steht eine kenntnis- reiche und erhellende Interpretation des Bekenntnisses von Nicaea, die in eine Auseinandersetzung mit der durch Adolf von Harnack formulierten Hellenisierungsthese mündet. Im Anschluss an die einschlägigen Arbeiten von Alois Grillmeier betont der Vf. dagegen, dass die Hellenisierungsgefahr gerade von der Theologie des Arius ausgegangen sei (81.85 f; vgl. auch 121), während das Christentum durch die Aufnahme philosophischer Termini in das Dogma den Irrweg eines strikten Biblizismus vermeiden konnte, hätte dieser doch "die Türe für jede theologische Entwicklung zugeworfen ... Statt die Sache zu bewahren, wären Formeln festgehalten worden" (73). Dieselbe Stoßrichtung begegnet im Menschwerdungskapitel (98-150), namentlich in dessen letztem Abschnitt, der eine luzide Interpretation des Chalkedonense im Kontext des damaligen Denkens enthält, in der die bemerkenswerte Vertrautheit des Vf.s mit der griechischen Patristik eindrücklich zum Tragen kommt. Die Argumentation läuft hier auf die unzweideutige Einschärfung der Unhintergehbarkeit des Grundanliegens von Chalkedon hinaus: "Wenn Chalkedon - der Sache nach - preisgegeben wird ..., dann ist auch die Kontinuität zu Christus selbst nicht mehr gewahrt" (147). Die Sache von Chalkedon aber, so die dogmengeschichtlich wichtigste These des Kapitels zu Jesu irdischem Weg (151-224), wird durch die vom 3. Konstantinopolitanischen Konzil festgelegte Formel von der "Realität des menschlichen Elements in der gottmenschlichen Wirksamkeit" angemessen präzisiert (181): Die Lehre von der Gott-Menschheit des Erlösers hat ihre Pointe nicht auf ontologischer Ebene, sondern sie reflektiert "seine [sc. Christi] menschliche Proexistenz" als "die menschliche Existenz des ewigen Wortes" (183). Den Schwerpunkt des Passionskapitels (225-288) bildet die Soteriologie, bei deren Behandlung naturgemäß die westkirchliche Theologie im Mittelpunkt steht. Der Vf. geht genauer auf Anselm von Canterbury, Martin Luther und Thomas von Aquin ein, "dessen ausgewogene Synthese" (254; vgl. 267-278) er auch systematisch für überzeugend hält.

Diese Auffassung wird man einem dominikanischen Theologen schwerlich verübeln. Anders freilich steht es um das geradezu peinliche Unverständnis, mit dem er der reformatorischen Theologie begegnet. Seine ohne nennenswerte Berücksichtigung neuerer Literatur entwickelte Darstellung bedient - wenngleich ohne Polemik - so ziemlich alle Klischees zu Luthers Theologie. Hier nur die vielleicht wichtigsten Punkte: Luthers Beharren auf der Differenz zwischen opus dei und opus hominis, kulminierend in der These, der auf seine Werke blickende Mensch sei coram Deo durch und durch Sünder, bedeute, "daß eine rationale Ethik im Grunde unmöglich wird" (259) - wo es doch Luther gerade um eine Freisetzung humaner Ethik auf der Grundlage der Heilsgewissheit ging; der Vf. behauptet ferner bei Luther ein im Grunde ungeklärtes Nebeneinander eines strafenden und eines liebenden Gottes (263 f.) und unterstellt sogar ein Gottesbild, "das zutiefst angsterzeugend ist" (265) - wo es doch gerade Luthers Verzweiflung angesichts des göttlichen Zornes war, die ihn auf die angsteliminierende Bedeutung des Christusgeschehens hat aufmerksam werden lassen.

Das Kapitel zur Verherrlichung des Gottessohnes (289-342) legt einen wichtigen Schwerpunkt auf die Frage nach der Auferstehung. Das Festhalten an der Leiblichkeit der Auferstehung wertet der Vf. als erneuten Hinweis darauf, dass die Kirche "ihren Glauben nicht [hat] hellenisieren lassen" (290). Bei der Frage nach der Historizität des Ostergeschehens stellt er heraus, dass Erscheinungs- und Grabestradition gemeinsam als "geschichtliche Spuren eines geschichtlichen Ereignisses" zu verstehen sind, das aber zugleich, als "ein transzendentes Ereignis ... keinen menschlichen Zeugen" kennt und deshalb "Glaubensmysterium" bleibt (297). Im Anschluss an die Diskussion zur Bedeutung der Auferstehungsbotschaft behandelt der Vf. den Credoartikel vom Sitzen zur Rechten des Vaters ("der christologische Artikel mit der größten ekklesiologischen Relevanz", 319) und geht abschließend auf Wiederkunfts- und Gerichtsgedanken ein.

Die vorstehende Skizze hat bereits gezeigt, dass es dem Vf. um eine Bekräftigung der traditionellen dogmatischen Christologie geht, die er vorwiegend in Anknüpfung an die altkirchliche und mittelalterliche Tradition vollzieht. Der Rezensent hält den Entwurf insgesamt deshalb für nicht gelungen, weil der Vf. trotz seines apologetischen Interesses die spätestens seit der Aufklärung virulenten Herausforderungen an keiner Stelle auch nur annähernd hinreichend aufnimmt. An die Stelle einer kritisch-kompetenten Auseinandersetzung tritt vielmehr ein - gelegentlich skurriler - Biblizismus, mittels dessen ein konservativ-katholischer Traditionalismus kultiviert wird.

Auch hier müssen Beispiele genügen: Die geistgewirkte Empfängnis Jesu wird strikt als (biologische?) Tatsache postuliert, die im Kontext der urgemeindlichen Geisterfahrung von Maria selbst mitgeteilt und so der Kirche sozusagen aus erster Hand überliefert wurde (111 f.). Jesu spezifisches Selbstverständnis wird - gleichsam im Vorgriff auf die 300 Jahre jüngere Dogmenformulierung - beschrieben als "sein besonderer Anspruch, Sohn Gottes und damit selbst Gott zu sein" (232); dieser besondere Anspruch wiederum wird, in Anlehnung an die dicta-probantia-Methode des Katechismus der Katholischen Kirche (1993) ausgerechnet mit Stellen aus dem Johannesevangelium belegt; auch die synoptischen Leidensweissagungen hält der Vf. für authentisch (291). Abwegig, insbesondere für den evangelische Leser, sind die Ausführungen über die Verehrung des verwundeten Herzens Jesu, die als "Schlußstein" der altkirchlichen Auseinandersetzungen um Jesu wahres Menschsein bestimmt wird (196). Befremdlich sind schließlich die Hinweise zu den Mysterien des verborgenen Lebens Jesu; es handelt sich um die Zeit vor seinem öffentlichen Auftreten, über die wir eigentlich nichts wissen, die aber nach Auffassung des Vf.s dennoch eine reichhaltige Lehre enthält (212-214).

Zusammenfassend lässt sich das hier besprochene Buch als ein Entwurf charakterisieren, an dem einerseits die konfessionsspezifischen Differenzen in Sachen Christologie deutlich werden und der andererseits deutlich macht, welche Probleme der verweigerte Ausbruch aus dem Korsett einer kirchlicher Sondergruppensemantik aufwirft.