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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1226–1228

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kühn, Ulrich

Titel/Untertitel:

Christologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 332 S. kl.8 = UTB, 2393. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-525-03241-2 (Vandenhoeck & Ruprecht); 3-8252-2393-0 (UTB).

Rezensent:

Dorothea Sattler

Es gibt viele systematisch-theologische Einführungen in die Fragen der Christologie, jedoch bisher nach meiner Kenntnis keine solche, wie Ulrich Kühn sie vorgelegt hat: Sie stellt sich einem offenen Gespräch mit den Anfragen, die von Angehörigen anderer Religionen, von Philosophen sowie von kritischen Zeitgenossen auf die Grundlagen des christlichen Glaubens gerichtet werden. Detaillierte Kenntnisse auch der neueren Beiträge zur neutestamentlichen Exegese werden präsentiert. Die Darstellung geschieht in Achtung der verzweigten Traditionsgeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart. Vielfältige Hinweise auf ausgewählte christologische Entwürfe in der reformatorischen und in der römisch-katholischen Theologie belegen die ökumenische Orientierung K.s. Sein eigener christologischer Denkansatz, bei dem das Menschsein Jesu besondere Beachtung findet, überzeugt. Er mahnt im Hinblick auf die Möglichkeit, durch Jesus Christus zur Gewissheit in der Gotteserkenntnis zu gelangen, Zurückhaltung an. Im Kontext seiner Erfahrungen mit der Säkularisierung insbesondere in den östlichen Regionen Deutschlands und mit den Herausforderungen des interreligiösen Dialogs fragt er: "Müsste das christliche Christuszeugnis die Gottesfrage nicht zumindest viel tastender oder eher indirekt zur Sprache bringen? Das wäre dann so etwas wie eine hermeneutische Anweisung an jegliche heutige Christologie" (48).

Die Grundgedanken dieser nun veröffentlichten Christologie hat K. während seiner langen Lehrtätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig vorgetragen. Das Buch richtet sich primär an Studierende, die sich mit seiner Hilfe einen Überblick über die Geschichte der Christologie erhoffen können. Weiterführende Lesehinweise zu Beginn längerer Abschnitte und entsprechende Vermerke in den Anmerkungen begünstigen ein vertiefendes Eigenstudium der angesprochenen Themenbereiche.

Der Aufbau des Lehrbuchs ist weithin sehr gut nachvollziehbar: Kapitel I (16-94) behandelt den gegenwärtigen Kontext der nachfolgenden christologischen Reflexionen. Kapitel II (95-146) entfaltet das biblische Zeugnis von Jesus, dem Christus. Kapitel III (147-279) stellt die Geschichte der Christologie dar. Kapitel IV (280-329) stellt sich der Herausforderung, Person und Werk Jesu Christi in einer Gesamtschau zu betrachten. In dieser Übersicht wird deutlich, dass biblische und traditionsgeschichtliche Bezüge vorrangig aufgenommen, gegenwärtige Anfragen jedoch keineswegs verschwiegen werden, vielmehr beständig als Anlass weiterführender Überlegungen dienen.

Von Beginn an wird deutlich, dass K. die Bereitschaft hat, das überlieferte Christusbild den Fragen unserer Zeit auszusetzen. Das Bemühen um eine Kontextualisierung der Christologie nimmt entsprechend einen sehr großen Raum ein. Dabei bewegt sich K. nicht nur in den eher vertrauten Bahnen eines Gesprächs mit der Philosophie oder mit jüdischen Denkern, er nimmt vielmehr auch Fragen auf, die der Christologie lange Zeit fremder waren - etwa aus der Perspektive des Islam oder der östlichen Religionen. Auch die theologische Frauenforschung sowie die zeitgenössische Kunst und Literatur finden Beachtung. Als Kriterium in der Wahrheitssuche im Gespräch mit den Religionen führt K. mehrfach den Aspekt der Inkarnation Gottes in Jesus Christus an. Er fragt, "ob der Inkarnationsgedanke ... nicht auf eine spezifische Tiefendimension der Gestalt Jesu und des Geschehens um ihn verweist, die mit Recht von der Christenheit als einzigartig und unvergleichlich festgehalten wird" (91). Ein Beweisverfahren ist in der angesprochenen Thematik kaum durchzuführen. Die Aufgabenstellung wird in differenzierter Weise benannt (91-94), die Lösung bleibt jedoch offen, da es nicht das Ziel dieser Publikation sein konnte, einen detaillierten Vergleich der Religionen vorzunehmen, der den Ansprüchen der gegenwärtigen Religionswissenschaften genügte. Wir stehen in der Systematischen Theologie schon seit einiger Zeit an der Schwelle zu einer intensiveren Kenntnisnahme der Anthropologie und der Soteriologie in anderen Religionen. Vorarbeiten zu dieser Herausforderung sind bei K. zu finden.

Anders als manche systematisch-theologischen Entwürfe zur Christologie in reformatorischer Tradition setzt K. nicht bei Konzepten des 16. Jh.s an, sondern entfaltet zunächst die biblischen Themen in engem Bezug zu exegetischen Erkenntnissen. K. bindet seine Ausführungen zunächst zurück an den Ertrag der verschiedenen Phasen in der Leben-Jesu-Forschung. In Aufnahme neuerer Erkenntnisse schildert er sodann den Lebensweg Jesu, seine Gottesbotschaft, seine Todeserwartung und Todesdeutung, die Auferstehungsbotschaft sowie die nachösterlichen Christologien, die in den neutestamentlichen Schriften überliefert sind. K. bespricht dabei in differenzierter Weise die jüdischen Wurzeln der neutestamentlichen Interpretamente für das Christusereignis. Zudem hält er an der Vorstellung von einer gegebenen Kontinuität zwischen der Gottesbotschaft des vorösterlichen Jesus und der Christusverkündigung der frühen Gemeinden fest. Er formuliert damit eine Grundüberzeugung der Konfessionen übergreifenden gegenwärtigen Christologie.

Im Blick auf K.s Darstellung der Geschichte der Christologie fällt auf, dass der reformatorischen und nachreformatorischen Christologie sowie den Entwicklungen in der evangelischen Theologie vom 18. bis zum 20. Jh. besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hinsichtlich des ökumenischen Gesprächs ist es gewiss hilfreich, dass K. die theologischen Verbindungen zwischen den Christologien lutherischer oder reformierter Herkunft und der jeweiligen Abendmahlslehre darstellt. In der Regel ist in ökumenischen Gesprächen wenig vertraut, dass insbesondere die reformierte Lehrtradition in dieser Thematik christologische bzw. pneumatologische Wurzeln hat. Bedauerlich ist, dass die Tendenzen der römisch-katholischen Christologie nach dem Tridentinum nur sehr kurz beschrieben sind (272-279). Einzelne Autoren (unter ihnen Hans Küng, Walter Kasper, Karl Rahner, Peter Hünermann, Leonardo Boff und Josef Wohlmuth) werden im ersten Kapitel kurz gesondert behandelt. Dabei fällt auf, dass der gegenwärtig in der römisch-katholischen Theologie auch angesichts seines großen Schülerkreises oft besprochene Ansatz von Thomas Pröpper keine Erwähnung findet. Pröpper hat vielfach den Versuch unternommen, die vom Menschen erfahrene Freiheit als einen Zugang zum Verständnis der Erlösung in Jesus Christus zu erschließen.

Das abschließende Kapitel ist sowohl als eine Bündelung als auch als eine Weiterführung zu verstehen: Nochmals nimmt K. die methodische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem irdischen Jesus und dem Christus des Glaubens auf und bleibt seiner Grundentscheidung treu, in aller Wandlung auch Momente der Kontinuität festzuhalten. Er profiliert zudem den inkarnationstheologischen Ansatz in der Christologie. Die Kreuzesbotschaft und die Rechtfertigungslehre bleiben eher im Hintergrund wirksam; sie klingen immer wieder an. All dies belegt, dass K. die Geschichte Gottes im Menschenleben des Jesus von Nazareth als christusgläubige Gestalt der Hoffnung auf allumfassende Versöhnung darstellen möchte. Bis in die letzten Zeilen hinein ist die Christologie von K. eine Ermutigung zum Bekenntnis der Versöhnung Gottes selbst mit denen, die seinen Mensch gewordenen und gekreuzigten Sohn nicht als Offenbarer Gottes anzuerkennen vermögen.

Pneumatologische Reflexionen, wie sie etwa von Piet Schoonenberg oder Walter Kasper in der römisch-katholischen Theologie des 20. Jh.s vorgetragen wurden, fehlen weithin in der vorliegenden Christologie. Auch kosmologische, weisheits- und schöpfungstheologische Aspekte werden selten eingebracht. Eine Auswahl der Themen und eine Konzentration auf Grundthesen war erforderlich, um in der Vielfalt der Anschauungen nicht das Bild Jesu zu verlieren. Dieser Gefahr zu entgehen, ist K. mit seinem konsequent für den Dialog offenen und das Menschsein Jesu als geschichtliche Offenbarung Gottes skizzierenden Entwurf einer Christologie überzeugend gelungen.