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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1220–1223

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Laube, Stefan, u. Karl-Heinz Fix [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lutherinszenierung und Reformationserinnerung. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 473 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 2. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-01999-4.

Rezensent:

Andreas Gößner

Der Tagungsband widmet sich der memoria Lutheri im 18. und 19. Jh. und damit einem zentralen Gegenstand deutscher Gedächtniskultur. Der erste von sechs Themenblöcken behandelt die Person des Reformators, seine Frau und das Wittenberger Wohnhaus als Gegenstand von Luthererinnerung und Inszenierung dieser Erinnerung.

An Beispielen aus drei Epochen dokumentiert Stefan Laube in seinem Beitrag "Der Kult um die Dinge an einem evangelischen Erinnerungsort" (11-34) die Musealität der Lutherstadt unter Betonung der konfessionellen Differenz im Umgang mit Reliquien/Relikten. Nach einer Darlegung der Geschichte der Reliquiensammlung der Wittenberger Allerheiligenstiftskirche skizziert er die Entstehung des Museumsquartiers im Gebäudekomplex des Augusteums in Wittenberg im Verlauf des 17. Jh.s. Zu diesem vor allem der Veranschaulichung der Wissenschaften dienenden Museumsquartier gehörten auch Stube und Hörsaal im Lutherhaus. Seit Beginn des 19. Jh.s dominieren in Wittenberg die Objekte und Orte der Luthererinnerung, vor allem Lutherhaus und Schlosskirche. Einer besondere Szene im Leben Luthers, in der sich das Bild der Reformation und des Reformators für das 19. Jh. exemplarisch verdichtete, hat sich Armin Kohnle im folgenden Beitrag unter der Überschrift "Luther vor Karl V. Die Wormser Szene in Text und Bild des 19. Jahrhunderts" (35-62) zur Analyse ausgewählt. Die bildlichen Darstellungen des Auftretens Luthers auf dem Wormser Reichstag von 1521 vor dem Jahr 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jh.s zeigen eine zunehmende Popularität dieses Motivs. Die Heroisierung des Reformators als Glaubensheld und als nationaler Heros vollzog sich jedoch auf der Ebene der Texte und nicht der Bilder, wobei die nationale Interpretation der Wormser Szene in Texten besonders an der Wende zum 20. Jh. und im Kriegsjahr 1917 zu beobachten ist. Angelika Dörfler-Dierken stellt in "Katharina von Bora - ihres Mannes Krone oder eine Frau weiß, was sie will" (63-81) die vorliegenden Biographien von Luthers Frau dar. Die Aufmerksamkeit gilt besonders den vor 1995 veröffentlichten Katharina-Darstellungen, deren religiös-theologischen Leitbildern in den protestantischen Ethiken die Vfn. ebenso nachspürt wie dem durch das Familien- und Frauenrecht vorgegebenen gesellschaftlichen Hintergrund des Katharinabildes.

Den zweiten Themenblock, der sich dem regionalen Lutherkult zuwendet, eröffnet Martin Treu mit dem Beitrag "... ihr steht auf heiliger Erde. Lutherverehrung im Mansfelder Land des 19. Jahrhunderts" (85-96). Treu untersucht mit den Denkmälern, Museen, Jubiläumsfesten, Gedenkgottesdiensten und Festzügen, mit denen an Luther erinnert wurde, das regionale Identitätsbewusstsein im Mansfelder Land. Die Intentionen der lokalen und bürgerschaftlich initiierten Luthererinnerung werden hierbei in ihrer Spezifik gegenüber den hohenzollerschen und preußischen Lutherehrungen deutlich herausgestellt. Dem Gedenken an den Reformator in einem südwestdeutschen Territorium mit einer seit 1821 unierten Landeskirche gilt der Beitrag "Luthererinnerung in Baden 1883" von Udo Wennemuth (97-126). Nach dem Willen der Landeskirche sollten die Feiern zu Luthers 400. Geburtstag weder eine konfessionalistische Verengung erfahren noch durch nationale Inanspruchnahme instrumentalisiert werden. In welcher Gestalt diese prinzipiellen Vorgaben der Landeskirche vor Ort durchgeführt wurden, zeigt Wennemuth u. a. am Beispiel der Feiern in Karlsruhe und in Mannheim, in denen sich Elemente einer bürgerlich-nationalen Festkultur deutlich erkennen lassen. Wolfgang Flügel geht unter dem Titel "Reformationsgedenken im Zeichen des Vormärz - Die Konflikte um das Confessio Augustana-Jubiläum in Leipzig 1830" (127-143) den Ursachen für den Aufruhr im Juni 1830 nach, der sich in politisch und konfessionell unruhiger Zeit ereignete. Als Ersatz für das gestörte Jubiläum im Sommer wurde am Reformationstag 1830 eine Feier unter städtisch-bürgerlicher Initiative begangen.

Markus Hein widmet sich anschließend der "Lutherrezeption in den Predigten und Ansprachen bei den Reformationsfeierlichkeiten in Sachsen im 19. Jahrhundert" (145-161). Die Jubiläumsanlässe der Jahre 1817, 1830, 1839, 1846 und 1883 offenbaren dabei (seit 1839) eine Zunahme des personalen Luthergedächtnisses, aber auch eine verstärkte nationale Instrumentalisierung der Person Luthers, die sich unter Vernachlässigung der theologischen Reflexion auf das Erbe des Reformators vollzog.

Vergleichsparameter über das Luthertum hinaus bieten die drei Beiträge des folgenden dritten Themenblockes. Eröffnet wird dieser Block mit dem Beitrag von Christian Wiese "Überwinder des Mittelalters? Ahnherr des Nationalsozialismus? Zur Vielstimmigkeit und Tragik der jüdischen Lutherrezeption im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik" (165-197). Darin werden Interpretationsmuster und Motivlage der jüdischen Wahrnehmung von Person und Wirkung Luthers (besonders auch der Interpretation von Luthers Haltung zum Judentum) in ihren Grundzügen dargestellt, wobei sich zeigt, dass Luther im deutschen Judentum des 19. Jh.s u. a. in seiner Funktion als nationale Identifikationsgestalt idealisiert wurde. Der im 19. und frühen 20. Jh. mit Luther in Deutschland vergleichbaren symbolischen Bedeutung von Jan Hus in Tschechien widmet sich Martin Schulze Wessel in seinem Beitrag "Die tschechische Nation ist tatsächlich die Nation Hussens. Der tschechische Huskult im Vergleich zum deutschen Lutherkult" (199-210).

Der vierte Themenblock thematisiert das Museum als Kultstätte und Erinnerungsort. Diesem Komplex kommt auf Grund der Aktualität der Neugestaltung des Lutherhauses mit einer neukonzipierten Dauerausstellung besonderes Interesse zu. Der den Themenblock einleitende Aufsatz "Erinnerung und Religion im Museum" (229-240) von Rosmarie Beier-de Haan beschreibt zunächst die in jüngerer Zeit zu beobachtende Häufung der Verwendung des Begriffs "Erinnerung" bei gleichzeitig wachsender Offenheit seiner Bedeutung. Diesen Befund legt die Vfn. einer Verhältnisbestimmung von Erinnerung, Religion und Museum zu Grunde, in der die Bedeutung von Gegenständen aus religiösem Kontext als Objekte im modernen Museum thematisiert wird. Angesichts der gegenwärtigen Offenheit bzw. Unsicherheit im Umgang mit Erinnerung plädiert sie dafür, museale Objekte als gleichzeitig säkularisierte und entsäkularisierte darzubieten. Karl-Heinz Fix untersucht unter der Überschrift "Lutherhaus - Reformationshalle - Lutherhalle. Zur Namensgeschichte des Wittenberger reformationsgeschichtlichen Museums" (241-263) den Prozess der Namensfindung für das Museum in Wittenberg. Fix zeichnet den von verschiedensten Faktoren abhängigen Vorgang der Museumsbenennung nach. Einführend wird die um die Begriffe "Luther" und "Reformation" kreisende Namensdebatte um den Verein für Reformationsgeschichte von 1883 skizziert, dessen Gründung historisch mit Wittenberg eng verknüpft ist.

Die seit 1877 geführte Diskussion um die Namensgebung für das Museum erreichte 1883 mit der offiziellen Entscheidung für "Lutherhalle" einen Höhepunkt. Dennoch war das Problem noch bis zur seit 1931 gültigen Benennung "Lutherhalle. Reformationsgeschichtliches Museum" und besonders im Hinblick auf die Museumskonzeption und die Sammlungspolitik der Institution virulent. Die Aktualität dieses Problems wird auch durch die 2002/3 erfolgte Neubenennung des Hauses im Rahmen der Neukonzeption der Dauerausstellung wieder ins Gedächtnis gerufen. Stefan Laube konzentriert sich in dem Beitrag "Lutherbrief an den Kaiser, Kaiserbrief an die Lutherhalle" (265-283) auf ein herausragendes Exponat für das Wittenberger Museum, er beleuchtet kritisch Gattungsaspekte des Briefs als Autograph Luthers aus dem Jahr 1521, die Umstände seines Erwerbs durch Schenkung des Deutschen Kaisers, der ihn seinerseits von einem amerikanischen Millionär nach dem Erwerb auf einer Auktion 1911 zum Geschenk erhielt, und die museale Inszenierung dieses Geschichtszeugnisses in einem Erker des Lutherhauses.

Der fünfte Themenblock wird eingeleitet durch den Beitrag "Vom Klosterhaus zum Baudenkmal - Erste Begegnungen Friedrich August Stülers mit dem Wittenberger Lutherhaus" von Anne Marie Neser (287-316). Über die Denkmalsqualität des 1997 in die Weltkulturerbeliste aufgenommenen Lutherhauses wurde erst seit Beginn des 19. Jh.s reflektiert. Die Vfn. stellt in ihren Ausführungen die Verflechtung von Institutionen und Personen sowie deren Motivationen um den Erhalt des Baudenkmals kommentierend dar. Eine entscheidende Rolle kommt dabei ab 1844 dem preußischen Hofarchitekten Stüler als dem künstlerischen Leiter des Restaurierungsprojektes zu. Einen weiteren zentralen Luthergedächtnisort behandelt der Beitrag von Martin Steffens mit dem Titel "Die Lutherstube auf der Wartburg. Von der Gefängniszelle zum Geschichtsmuseum" (317-342). Steffens zeichnet detailliert die Entwicklung der Lutherstube bis zur heutigen Gestaltung mit ihrer nur scheinbaren Authentizität. Mit einer besonderen Form der Lutherinszenierung beschäftigt sich Uta Kornmeier in dem Beitrag "Luther in effigie, oder: Das Schreckgespenst von Halle" (343-370). Bei der Lutherfigur in der Hallenser Marienkirche bzw. -bibliothek handelte es sich um Wachskopf und -hände, die von der Totenmaske und Handformen Luthers stammen sollen. Die Geschichte, ikonographische Leitfunktion und Bewertung dieser illusionistischen Präsentation des Reformators - die Sitzfigur ist seit dem 17. Jh. nachweisbar, ihre Spur verliert sich zu Beginn der 40er Jahre des 20. Jh.s - werden von der Vfn. in ihrer ganzen Bandbreite erörtert.

Im sechsten Themenblock wird die Instrumentalisierung der Luthererinnerung in der totalitären Geschichtspolitik der beiden deutschen Diktaturen beleuchtet. Horst Dähn untersucht in seinem Beitrag "Martin Luther und die Reformation in der Geschichtswissenschaft der DDR" (373-390) den zwischen 1950 und 1983 zu beobachtenden, bemerkenswerten Wandel im marxistischen Lutherbild. Er dokumentiert den Weg in der Einschätzung Luthers durch die Staatsideologie angefangen von den 50er Jahren, in denen der Reformator nicht zu den "progressiven" Persönlichkeiten der DDR-Historiographie gehörte, bis hin zum Lutherjubiläum 1983, bei dem eine Integration Luthers in das Traditionsverständnis der DDR vollzogen war. Abschließend zeichnet Siegfried Bräuer in seinem Beitrag "Die Lutherfestwoche vom 19. bis 27. August 1933 in Eisleben. Ein Fallbeispiel en detail" (391-451) die Momentaufnahme einer überregionalen Jubiläumsveranstaltung zu Luthers 450. Geburtstag, die in den Sog der Machtübernahme Hitlers und des kirchenpolitischen Konfliktes um die "Deutschen Christen" geriet. Als damals neugeformten Aspekt zur Lutherrezeption stellt er dabei "Luther als Vorläufer Hitlers, als typologisch zu verstehende[n] Vorentwurf für den Führer in einem nahezu eschatologischen Ausmaß" (449) heraus. Bräuers eingehende Analyse der einzelnen Jubiläumsinitiativen ergibt insgesamt aber das Bild einer Vermischung von traditionell nationaler und nationalsozialistischer Lutherinterpretation.

Der Band vereinigt ein sowohl inhaltlich als auch regional breit gefächertes Themenspektrum und entfaltet seinen Gegenstand in vielfältiger methodischer Herangehensweise vor dem gesellschafts-, theologie-, sozial- sowie politikgeschichtlichen Hintergrund der Jahrhunderte seit Luther und der Reformation.