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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

616 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Heiene, Gunnar

Titel/Untertitel:

Eivind Berggrav. Eine Biographie. Mit einem Geleitwort von E. Lohse. Übers. von B. Franz.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 250 S. gr.8. Lw. DM 48,-. ISBN 3-525-55437-0.

Rezensent:

Arnd Heling

Nach der lange vergriffenen Biographie über Eivind Berggrav (1884-1959) von seinem Schüler, Freund und Zeitgenossen Alex Johnson aus dem Jahr 1960 liegt nun eine neue Lebensbeschreibung des großen norwegischen Kirchenführers vor, wiederum bei Vandenhoeck & Ruprecht verlegt.

Die deutsche Ausgabe des 1992 von Gunnar Heiene verfaßten Buches ist nicht nur durchgehend gekürzt, sondern unterscheidet sich vom norwegischen Original auch durch den Verzicht auf jegliche Illustration. Das ist schade, denn die reiche Bebilderung hätte gerade dem nicht-norwegischen Leser vieles vom Flair der Zeit und der norwegischen Kultur in der ersten Hälfte dieses Jh.s vermitteln können, was Worte kaum auszudrücken vermögen. Das steife Porträt des alt gewordenen Kirchenmannes im Lutherrock auf dem Bucheinband steht jedenfalls in merkwürdigem Kontrast zu der facettenreichen und überaus lebendigen Persönlichkeit Berggravs, die in diesem Buch trefflich geschildert wird. Hinweise auf neuere Literatur sind in die Fußnoten der deutschen Ausgabe eingeflossen, werden im Text jedoch nicht weiter diskutiert.

Der Autor selbst gehört der norwegischen Nachkriegsgeneration an. Er hat zahlreiche Artikel über Eivind Berggrav und eine 1991 abgeschlossene Dissertation zu dessen Staatsverständnis veröffentlicht und verfügt über ausgezeichnete Quellenkenntnisse, die in die vorliegende Arbeit reichlich eingeflossen sind. Es handelt sich also, wie der Klappentext verspricht, um die erste wissenschaftlich fundierte Biographie über den norwegischen Bischof.

Auf den ersten Blick scheint das Werk jedoch sehr seinem Vorgänger aus der Feder Alex Johnsons verhaftet zu sein. Dies drückt sich schon in den fast parallel lautenden Kapitelüberschriften aus, dürfte aber auch mitbedingt sein durch die zahlreichen autobiographischen Notizen, die sich in Berggravs Privatarchiv finden und die fast zwangsläufig jede Darstellung seines Lebens strukturieren. Wie Perlen auf einer Kette lassen sich mit diesem Material zahlreiche Höhepunkte aus dem ereignisreichen Leben Berggravs aneinanderreihen. Es handelt sich dabei zumeist um Protokolle von Gesprächen mit bekannten Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Geistesleben, die - nach typisch berggravscher Manier - angereichert sind durch kleine psychologische Charakterstudien und Aperçus, wie z. B. nach seiner Begegnung mit dem Feldmarschall Hermann Göring: "Grob gesprochen handelt es sich bei Göring um eine Ansammlung von Ballonen: Ballonhosen (mit schmalen Hosenbeinen) und ein Ballonhemd mit dazu passenden Ballonärmeln". Solche anekdotischen Randglossen zu lesen macht natürlich Spaß; die jüngste Kirchen- und Zeitgeschichte wird dadurch sehr lebendig.

Andererseits scheint der Autor dadurch, ähnlich Johnson, bisweilen allzusehr sehr im Banne der Persönlichkeit seines Protagonisten zu stehen. Daß Heiene, stärker als Johnson, neben dem gewinnenden, schlagfertigen, geistreichen, jugendlichen Berggrav auch dessen problematischere Charakterzüge, wie sein Schwanken zwischen Größenvorstellungen und Selbstzweifeln, Unsicherheit und Verletzbarkeit darstellt, ändert daran nichts.

So entsteht ein weiteres Mal vor uns das Bild eines blitzgescheiten, mutigen Pragmatikers, eines klugen und dabei sehr menschlichen Kirchenstrategen sowie eines vielseitig interessierten journalistischen Kulturkritikers auf christlicher Grundlage, zugleich aber auch das eines mehr oder weniger unzulänglichen akademischen Theologen. Da sich diese Einschätzung teilweise mit dem Selbstbild Berggravs deckt, daß er selbst lange darunter litt, etwa mit seinen religionspsychologischen Arbeiten keinen wissenschaftlichen Durchbruch erlangt zu haben, ja daß er wohl auch nicht das notwendige Naturell für eine akademische Karriere in seiner Zeit besaß, sollte den Biographen nicht davon entbinden, dem tieferen Zusammenhang von Theologie und Biographie bei einem so exponierten Kirchenmann stärker deutend und interpretierend nachzuspüren. Angemerkt sei allerdings, daß die deutsche Fassung in dieser Hinsicht durch die zahlreichen Kürzungen gegenüber dem norwegischen Ausgangswerk zusätzlich verloren hat.

In zehn Kapiteln erhalten wir einen Überblick über die wichtigsten Stationen des Lebensweges Berggravs, von den Jugend- und Studentenjahren über seine pädagogische und pfarramtliche Praxis, seine wissenschaftlichen Studien bis hin zum Bischofsamt in Trömsö und Oslo. Die Zeit zwischen 1939 und 1945 nimmt zu Recht den größten Raum ein und verteilt sich über drei Kapitel, wobei die Schilderung von Berggravs "Friedensinitiative" 1939/40 zentral ist - einer umtriebigen und weit verzweigten Initiative einzelner norwegischer Persönlichkeiten, auf die gestützt er direkten Einfluß auf den Gang der Weltpolitik in diesem ersten Kriegswinter zu nehmen versuchte. Dieser Abschnitt repräsentiert zweifellos den jüngsten Stand der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung zu diesem Thema und ist obendrein anregend und spannend geschrieben.

Das Kirchenkampfkapitel (Kap. 6) verzichtet leider weitgehend auf die auszugsweise Dokumentation wichtiger Quellen aus der Hand Berggravs und ist stärker am Hergang der dicht aufeinander folgenden Ereignisse interessiert. Menschlich rückt Berggrav dem Leser vielleicht am nächsten im Abschnitt über seine Gefangenschaft und Flucht im April 45. Die drei letzten Kapitel schildern seine kirchliche Aufbau- und Reformarbeit im Norwegen der Nachkriegszeit, seinen großen ökumenischen Einfluß und schließlich sein Alterswerk im Aufbau des Weltbundes der Bibelgesellschaften, das zugleich sein ganz persönliches Leben mit der Bibel anschaulich beschreibt und reflektiert. Diesem Kapitel dürfte auch das Vorwort des derzeitigen Präsidenten des Weltbundes der Bibelgesellschaften, D. Eduard Lohse, zu verdanken sein.

Berggravs unermüdliches Engagement auf vielen Gebieten des kirchlichen, geistigen und politischen Lebens seiner Zeit zeigt ihn bis zuletzt als tatkräftigen, hellsichtigen und originellen Menschen, Theologen und Kirchenführer, dessen Lebenswerk auch die heutigen Leserinnen und Leser inspirieren wird.