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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1215–1218

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

1) Barth, Karl 2) Barth, Karl

Titel/Untertitel:

1) "Unterricht in der christlichen Religion". 2. Bd.: Die Lehre von Gott/Die Lehre vom Menschen 1924/1925. Hrsg. v. H. Stoevesandt.

2) "Unterricht in der christlichen Religion". 3. Bd.: Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung 1925/1926. Hrsg. v. H. Stoevesandt.

Verlag:

1) Zürich: Theologischer Verlag Zürich 1990. XVI, 467 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe, 20. Lw. Euro 48,00. ISBN 3-290-10102-9.

2) Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2003. XVIII, 530 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe, 38. Lw. Euro 68,00. ISBN 3-290-17245-7.

Rezensent:

Eberhard Busch

1985 wurde der erste Band dieser ersten Dogmatik von Karl Barth: Prolegomena (1924) im Rahmen der Gesamtausgabe der Werke Karl Barths publiziert (vgl. Dieter Schellong, ThLZ 112 [1987], 613). Nun liegt mit zwei weiteren Bänden das Werk vollständig vor - ein Opus von 1400 Seiten. Die zwei letzteren Bände sind von Hinrich Stoevesandt in einer feinen, unaufdringlich-hilfreichen Weise ediert und gediegen gut mit erklärenden Anmerkungen versehen. Diese in der Zeit ihrer Entstehung während der 20er Jahre und auch später nicht vom Verfasser selbst edierte Dogmatik ist also nun postum erstmals veröffentlicht. Der sonderbare Titel des Werks war eine Notlösung infolge des damaligen Streits von B.s lutherischen Kollegen in Göttingen gegen seine Anzeige einer Dogmatik-Vorlesung ohne Hinweis auf seine reformierte Konfession. Er wählte dann als Titel seiner Veranstaltung den des dogmatischen Werks von Calvin, was offenbar beides bezeugen sollte: dass er als Reformierter Dogmatik lehren wollte, aber das doch so betont als Reformierter wie vielleicht später nicht mehr.

Es ist zunächst ein Doppeltes, was die Beschäftigung mit diesen Bänden interessant macht. Zum einen: Als er mit deren Niederschrift begann, waren es gerade zwei Jahre her seit der Veröffentlichung seines Buchs "Der Römerbrief", das dann für Jahre sein Bild in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bestimmte. Wer noch die scharfe Dialektik dieses Buchs im Ohr hat, ist überrascht, in diesem vor einer kleineren Hörerschar vorgetragenen "Unterricht" zu lesen, wie B. hier noch einmal neu ansetzt und nun Paragraph um Paragraph dogmatisch argumentiert. Wohl hören wir: Dogmatik sei eine Wissenschaft von der Predigt (Bd. 2, 1) und behandle nicht eine Anzahl von Lehren, weil "Wesen und Inhalt des Christentums im primären Sinn das in Christus gesprochene, immer wieder sich aussprechende Wort Gottes selbst ist" (Bd. 2, 6). Aber tatsächlich ist es doch so, dass er nacheinander dogmatische Loci abhandelt, geordnet in drei großen Schritten: Gott und Mensch in ihrem Gegenüber (Bd. 2) und beide in ihrer Beziehung in der Versöhnung und in der Erlösung (Bd. 3). Sicher, es ist der Autor des "Römerbriefs", der da redet. Aber er tut es auf so überraschend neue Weise, dass man sich angesichts des Verhältnisses der beiden Werke an seinen Ausspruch erinnert fühlt: Fortfahren heiße in der Theologie noch einmal mit dem Anfang anfangen.

Zum anderen zieht in dieser Ausgabe besonders ihr letzter Teil die Aufmerksamkeit auf sich, weil er der einzige Text ist, in dem B. thematisch eine Eschatologie vorträgt. Er sieht den doppelten "Fehler der alten Eschatologie" (Bd. 3, 482) erstens in ihrer Unverbundenheit mit der ganzen übrigen Dogmatik, statt die christliche Wahrheit als "von Haus aus eschatologisch" zu erkennen (407), und zweitens in der Ersetzung der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde durch das spiritualistische Ziel eines In-den-Himmel-Kommens. Demgegenüber erarbeitet er eine Eschatologie, deren Christlichkeit an drei Punkten deutlich ist (384-388): Es geht in ihr um die Ausrichtung nicht auf das Künftige, sondern auf den Künftigen. In ihr werden wir durch die Offenbarung vor das Geheimnis des Zukünftigen gestellt. Und in ihr wird der Mensch konkret beansprucht zu Glauben und Gehorsam. Erstaunlich, mit welcher Eindringlichkeit hier zuletzt, entgegen einer Apokatastasis panton, die Auferstehung zum Leben oder zum Tod gestellt ist- offenbar als Konsequenz der Betonung dessen, dass das Eschaton der Eschatos ist, den wir wohl kennen, aber über den wir nicht verfügen können. Man merkt an diesem Punkt, wie die spätere Kirchliche Dogmatik nun doch nicht einfach einen Mangel an eschatologischer Erkenntnis hat: Was dort im Band IV/3 über die dreifache Gestalt der Parusie, in Auswertung der drei unterschiedlichen Aspekte neutestamentlicher Eschatologie, ausgeführt wird, das fehlt merklich in dem frühen Entwurf. Und das lässt demgegenüber tatsächlich neue Perspektiven erkennen, in denen die frühe Sicht noch einmal korrigiert wird.

Stücke, bei denen der Neuansatz gegenüber der Römerbrief-Theologie mit Händen zu greifen ist, sind beispielsweise 28 f. über "Christus Jesus: seine Person/sein Werk". Es ist nachgerade phantastisch, mit welcher Übersicht, Genauigkeit und Bedachtheit der 39-Jährige, der von theologischen Liberalismus herkam und eben noch zur Dialektik umkehrte, sich jetzt auf einmal auf die christologischen Debatten und Entscheidungen im 16. und 17., aber auch schon 4. und 5. Jh. einlässt - wie er dabei mitdebattiert und mitdenkt. Und er kann einleuchtend erklären, warum weder der Hinweis auf die "einfache" biblische Sprache noch auf die Predigtaufgabe von solchem dogmatischen Nachdenken entbindet. Speziell führt er aus, was in der altprotestantischen Orthodoxie zwischen Lutheranern und Reformierten stand; und ohne das lutherische Anliegen für falsch zu erklären, plädiert er entschieden für die Erkenntnis der alten Reformierten. Es gelte, wieder in ihrer Schule und "insofern scholastisch zu studieren" (Bd. 3, 74).

Eben sie suchen und finden "das Wesen und die Kraft dieser Vereinigung (sc. von Gott und Mensch in Christus) nicht in der Gleichgesetztheit der beiden Größen göttlicher und menschlicher Natur, sondern sozusagen im Gleichheitszeichen als solchem zwischen beiden, in der Gleichsetzung, nicht im Gewordensein, sondern im Werden des Gottmenschen, im Akt, dessen Träger und Vollbringer eben die göttliche Person, nicht die göttliche Natur an sich und als solche ist" (Bd. 3, 43).

Daher die Betonung, dass der Sohn Gottes, der Logos der Gottmensch ist. Während die lutherische Christologie am Resultat des göttlichen Selbsteinsatzes interessiert sei, blicke die reformierte Christologie auf die göttliche Begründung dieses Resultats (Bd. 3, 65). Und von daher wird dann das zwischen Lutheranern und Reformierten in der Christologie am heißesten Umstrittene aufs Neue durchdiskutiert: die communicatio idiomatum und speziell die Frage des genus maiestaticum. Und in der theologischen Diskussion fehlt nicht der kritische Hinweis auf "das deutsche Gemüt", das im Luthertum "mit seiner Neigung zur Apotheose des geschichtlich Gegebenen" und mit seinem Drang zum unmittelbar Erlebten auf eine anschaulich-erlebbare Fassung der Christologie dränge (56 f.). Immerhin stehen mittendrin auch solche Passagen wie:

"Irgendwie einseitig denkt man immer, wenn man lebendig christlich denkt. Aber man wird sich dadurch nicht hindern lassen dürfen, weiterzugehen ... Es ist gerade in dieser Sache heilsamer Weise möglich, universalkirchlich zu denken, als Abendländer von der Ostkirche, als Reformierter vom Luthertum ... sich das Heft korrigieren zu lassen, und wäre es an sich noch so gut" (101).

Es gibt wiederum in diesem "Unterricht" Partien, in denen B. das, was - auch nach seinen eigenen späteren Einsichten - zu sagen ist, in unzureichender Weise behandelt, so dass er dann hier noch einmal neu nachdenken und neu ansetzen musste. Es hat eben doch Sinn, wenn er diesen "Unterricht" nicht zu seinen Lebzeiten publiziert hat. Ich nenne als Beispiel dafür seine Behandlung des Bundesbegriffs, der ja dann in der Kirchlichen Dogmatik geradezu zum Zentralbegriff seiner Versöhnungslehre wurde. Der Begriff taucht im "Unterricht" bloß in einem Unterteil seiner Anthropologie auf. Es ist wohl richtig, dass hierbei markante Sätze auftauchen, die der Sache nach auch in der Bundeslehre in der Kirchlichen Dogmatik aufgenommen sind. Und schon ist die These da, dass der Bund nicht bloß in Reaktion auf die Sünde geschlossen wird (Bd. 2, 389 - Kirchl. Dogm. IV/1, 37). Aber grundsätzlich ist hier noch keine Klarheit über die theologische Verwendung des Begriffs geschaffen. Einerseits heißt es: Der Begriff Bund sei nur "cum grano salis" zu verstehen, wenn er den Gnadenbund bezeichne; denn da sei eine einseitig von Gott vollzogene Unternehmung gemeint. Zweiseitig werde der Bund erst "dadurch, dass der Bund gebrochen wird". Der Gnadenbund könne daher nur einseitig wieder in sein Recht treten (Bd. 2, 392 f.), ist dann aber offenbar nicht mehr so recht Bund. Andererseits gehöre zum Bund auch eine Forderung an den Menschen, und die sei ihm "ins Herz und Gewissen geschrieben und insofern lex naturae" (396). B. bemüht sich zwar sogleich, diese lex naturae irgendwie an die offenbarte lex positiva anzubinden. Er muss aber damit Mühe haben, weil also nicht bloß durch die Sünde, sondern nun auch dadurch eine Zweiseitigkeit des Bundes ins Spiel gebracht ist, die sich mit der behaupteten einseitigen Struktur des (nur cum grano salis als Bund zu verstehenden) Gnadenbundes kaum verbinden lässt. B. musste sich hier noch einmal erheblich korrigieren, bis er sagen konnte, was er in Kirchliche Dogmatik IV/1 tat: Der biblisch bezeugte Bund Gottes ist kategorisch (nur) Gnadenbund. Die Aktion des Bundesschlusses vollzieht sich in Gestalt der Reaktion auf die Sünde als Versöhnung. Als Gnadenbund ist er zwar einseitig, von Gott her begründet, aber - in Christus - zweiseitig, von Gott und vom Menschen her vollzogen, was zu bezeugen die Gemeinde berufen ist.

Der "Unterricht" ist von derlei Einsichten noch weit entfernt. Er stellt an dieser Stelle - und nicht bloß an ihr - vor die Frage: Inwiefern ist eigentlich das Interesse an der Publikation dieses Werks mehr als ein bloß historisches? Angesichts dessen, dass B. selbst es nicht publizieren wollte, und angesichts dessen, dass er später teils dasselbe begründeter gesagt, teils daran eingreifende Korrekturen vollzogen hat, ist doch die Frage nach dem angemessenen Umgang mit diesem Frühwerk gestellt. Sollte es darum gehen, noch einmal hinter seine Selbstverbesserung zurückzufragen, weil dahinter Wichtiges liegen blieb, was später vergessen oder übergangen wurde? Oder geht es darum, den Vorgang als ein Lehrbeispiel dafür zu verstehen, dass nun einmal alle dogmatischen Aussagen relativ sind? Es könnte immerhin auch so sein, dass die, die bei dem frühen dogmatischen Entdeckungsgang B.s mitgehen und sich mitnehmen lassen, auf einen Weg geraten, auf dem vorwärtszugehen sie darum nicht aufhören können, weil sie da - sagen wir - in den Spuren Abrahams (Gen 12,1) unterwegs sind in das Land, das Gott seinem Volk zeigen will.