Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1213–1215

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Löhr, Hermut

Titel/Untertitel:

Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet. Untersuchungen zu 1Clem 59 bis 61 in seinem literarischen, historischen und theologischen Kontext.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XII, 653 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 160. Lw. Euro 119,00. ISBN 3-16-147933-5.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Das große Gebet des Ersten Clemensbriefes in seinem literarischen, historischen und theologischen Kontext zu verorten, ist Ziel der "Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet" von Hermut Löhr. Zu einer exakten Positionsbestimmung des "seit von Harnacks später Untersuchung von 1929" (28) nicht mehr eingehend untersuchten Gebetes gehört es, die zu ihm hinführenden frühjüdischen Wege ebenso wie die von ihm ausgehenden frühchristlichen Abzweigungen nachzuzeichnen und ihren jeweiligen Verlauf in alle Richtungen soweit als möglich zu verfolgen. So entsteht eine Landkarte, die es nicht nur erlaubt, dem über viele Jahrhunderte verschollenen Gebet den ihm in seinem Verhältnis zur christlichen und jüdischen Tradition zukommenden Platz zuzuweisen, sondern die darüber hinaus auch die vielfältigen Beziehungen beider Traditionen sowie gemeinsame und eigene Wege erkennbar macht. Wie beim Zeichnen einer Karte immer wieder neu und anders anzusetzen ist, so nähert sich auch L. in seiner von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommenen Habilitationsschrift der Thematik aus verschiedenen Richtungen; Flucht- und Zielpunkt der Linien ist das Gebet in 1Clem 59-61.

Nach einer Rekapitulation der Geschichte des auf Grund eines Blattverlustes im Codex Alexandrinus lange verloren geglaubten Gebetstextes (1-5) und einem Forschungsüberblick (5-28), zeigt L. die Bedeutung der jüdischen Gebetssprache für das antike christliche Beten an vier herausragenden Beispielen, die entweder wie das Vaterunser für das christliche Leben bis heute bestimmend sind oder wie z. B. die Mahlgebete der Didache oder Gebete aus den Apostolischen Konstitutionen einen Ausschnitt der Entwicklung frühchristlicher Frömmigkeit widerspiegeln (29-64). Die kontrovers geführte Diskussion um jüdische Wurzeln und Anteile an der Gebetssprache der vier ausgewählten Gebete belegt den vorhandenen Klärungsbedarf. Indem L. das am Ende des ersten Jh.s schriftlich fixierte Gebet des 1Clem von allen Seiten beleuchtet, fällt zugleich ein Licht auf das antike jüdisch-christliche Gebetsleben insgesamt.

Im Anschluss an das Einleitungskapitel schreitet L. den Nahkontext des Gebetes ab (67-107). Die Art seiner Einbettung in den Ersten Clemensbrief gab Anlass zu unterschiedlichen literarkritischen Erwägungen. L. kommt in seiner Untersuchung mehrfach auf diese Frage zurück (104-107.524 f.527 f.). Mit der Abhandlung der Einleitungsfragen zum 1Clem (67-84) und einer die Struktur des Gebetes verdeutlichenden Darbietung des griechischen Textes (108-111) samt entsprechender Übersetzung ins Deutsche (111-114; hilfreich wäre hier die Beigabe der Verszählung gewesen) ist der Boden bereitet für die weitere Analyse.

Das dritte Kapitel richtet den Blick zeitlich gesehen nach vorn und widmet sich der Rezeption von 1Clem 59-61 in frühchristlichen Liturgien und Gebeten (115-143). L. geht den Spuren möglicher Berührungen nach und präsentiert sie mit der gebotenen Nüchternheit. Auch wenn sich vereinzelte Belege für die Kenntnis von 1Clem 59-61 aufzeigen lassen, kann doch von einem nachhaltigen, die liturgische Sprache des frühen Christentum prägenden Einfluss nicht gesprochen werden. L.s nicht interessegeleitete Einordnung erlaubt es, dem Gebet im Rahmen der frühchristlichen Liturgie den ihm zukommenden Rang zuzumessen und bewahrt zugleich vor Überbewertungen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung L.s steht der wohl auf lange Sicht umfassendste Kommentar zu 1Clem 59-61 (144-307). Minutiös untersucht L. die Einzelverse des von ihm in sechs Teile gegliederten Gebetes. Drei Charakteristika des Gebetes behandelt L. ausführlich unter Berücksichtigung zusätzlichen Materials in Exkursen am Ende des Kapitels: die Titulierung Christi als pais Gottes (308-334), die verschiedenen Bezeichnungen für Gott im Gebet und im gesamten Brief (361-362) und die Fürbitte für die Regierenden (334-360). Dass L. bezogen auf diese Fürbitte in der Zusammenfassung den Begriff "Gebetsparodie" (530, Anm. 17) für angemessen erachtet, trifft unvorbereitet und hätte eine ausführlichere Behandlung verdient.

Galt das Interesse bis hierher der Sprache und den Motiven des frühjüdisch-frühchristlichen Gebetes im Allgemeinen und in 1Clem 59-61 im Besonderen, so bietet das 5. Kapitel einen Neueinsatz (363-525). Diesmal wird das Beten in seinen unterschiedlichen Kontexten aus formgeschichtlicher Perspektive in den Blick genommen. L. macht auf die eher stiefmütterliche Behandlung der Gattung "Gebet" in der bisherigen formgeschichtlichen Debatte aufmerksam, legt sich jedoch auf eine eigene Bestimmung dessen, was ein Gebet eigentlich ist, nicht fest (367 ff.).

L. untersucht zunächst die Hinweise auf Beten und Gottesdienst im gesamten 1Clem, also gerade auch außerhalb von 1Clem 59-61 (374-395). Der folgende Abschnitt erweitert das Blickfeld auf alle überlieferten Zeugnisse zum frühchristlichen Gottesdienstes bis Justin und arbeitet den in ihnen greifbaren "Sitz im Leben" des Gebetes heraus (395-435). Der Hauptabschnitt des Kapitels richtet den Fokus wieder auf das große Clemensgebet selbst. Nach der Untersuchung seiner Gesamtstruktur im Kontext des Betens der Tempelzeit und des frühchristlichen Betens (436-468) wendet sich L. den einzelnen Einheiten des Gebetes zu (468-504).

Abschließend lenkt L. das Augenmerk auf bisher kaum beachtete formgeschichtliche Fragestellungen, nämlich die Rolle eines Gebetes innerhalb einer Rahmengattung (505-525). Es wird deutlich, dass eine literarkritische Entscheidung losgelöst von dieser Frage nicht gefällt werden kann (524 f.).

Die dem Buch beigegebenen Register erlauben ein gezieltes Heranziehen der Studien L.s zu konkreten Fragestellungen. Die ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnisse bieten allen thematisch Interessierten einen ergiebigen und aktuellen Materialfundus.

Wiederholt spricht L. vom Clemensgebet als dem "zweiten christlichen Gebet" (1.468.525.531). Dass es sich bei dem ersten christlichen Gebet um das Vaterunser handelt, wird u. a. im Kommentarteil und am Ende der Untersuchung ausdrücklich erwähnt (240.528). Doch in welcher Hinsicht kann das Gebet in 1Clem 59-61 als "zweites christliches Gebet" bezeichnet werden? Wenn unter dem "ersten christlichen Gebet" das erste von der Christenheit allgemein anerkannte Gebet verstanden wird, dann lässt sich dem Vaterunser nur schwer das Gebet in 1Clem zur Seite stellen, denn von einer allgemeinen Kenntnis oder Anerkennung kann bezogen auf 1Clem 59-61 keine Rede sein. Wird dagegen unter "christlichem Gebet" ein Gebet mit dezidiert christlichen Inhalten verstanden, dann hätte nicht das Vaterunser, sondern das Gebet in 1Clem als das erste schriftlich fixiert erhaltene genuin christliche Gebet zu gelten. Nicht wenige Phänomene christlicher Gebetssprache haben, wie L. zeigen kann, ihren ersten Beleg im Gemeindegebet des 1Clem (394. 529).

Auch wenn für das Gebet in 1Clem eine unmittelbar prägende Wirkung nur in eingeschränktem Umfang nachweisbar ist, so bleibt dieses Gebet doch ein wichtiges und bisher nicht ausreichend wahrgenommenes Bindeglied für unser Verständnis der Entwicklungen christlicher Liturgien und der Beziehungen von frühjüdischem und frühchristlichem Gebet. Dies herausgearbeitet und damit 1Clem 59-61 als eminenten Orientierungspunkt erkannt und markiert zu haben, ist das Verdienst L.s. Mit dem großen Clemensgebet wird auch dessen Untersuchung und Würdigung durch L. in der zukünftigen Forschung zu den antiken jüdischen und christlichen Gebeten und Liturgien zu berücksichtigen sein.