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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1195–1198

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Börschel, Regina

Titel/Untertitel:

Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2001. 501 S. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 128. Geb. Euro 65,00. ISBN 3-8257-0236-7.

Rezensent:

Martina Janßen

Die im Wintersemester 1999/2000 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn angenommene Dissertation von R. Börschel "beschäftigt sich mit den Prozessen der Identitätsbildung und -sicherung einer frühchristlichen Gemeinde in einer hellenistisch-römischen Umwelt" (11). Diese "Konstruktion einer christlichen Identität" will B. mit Hilfe des systemtheoretisch geprägten Identitätsbegriffs und eines wissenssoziologisch-konstruktivistischen Zugangs rekonstruieren.

B.s Methode liefert oft vertiefte Einsichten in die Prozesse, in denen Teile der hellenistisch-römischen Welt die christliche Botschaft angenommen, ausgebildet und verfestigt haben. An etlichen Stellen erweist sich auch das "sozial-konstruktivistische Sprachspiel" als sinnvoll: Die Verwendung des Begriffs "symbolische Sinnwelt" als Ersatz für Evangelium trägt z. B. dem Umstand Rechnung, dass die paulinische Botschaft unterschiedlich aufgefasst wurde, und erlaubt "die Seite zu wechseln und die Perspektive der Nichtchristen einzunehmen" (23).

Als Beispiel dient Thessalonike, weil wir "in keinem Fall näher an die Anfänge der Ausbildung einer christlichen Identität (...) herankommen" (24). 1Thess - kurz nach der Gemeindegründung verfasst - gibt Einblick in die von Paulus vermittelte symbolische Sinnwelt und dient der Identitätswahrung während der Abwesenheit des Paulus. Mit 2Thess als pseudepigraphischem Schreiben sind Prozesse der Identitätssicherung in Thessalonike nach dem Tod des Apostels zu beobachten.

Abgesehen von dem m. E. nicht ausreichend thematisierten Problem der Anwendung soziologischer Methoden auf antike Texte entstehen hier einige Fragen: Bei der Rekonstruktion der Erstverkündigung anhand von 1Thess bleibt zu überlegen, inwieweit sich die Gründungspredigt als initiativer Akt und 1Thess entsprechen (selbst B. ist skeptisch: 97 f.110 u. ö.).

Schwerer wiegen die Bedenken im Fall von 2Thess. Um diesen Brief als hermeneutischen Schlüssel für die Identitätswahrung im nachpaulinischen Thessalonike verwenden zu können, verortet B. sowohl Empfänger als auch Absender in Thessalonike. Erstens stammt 2Thess aus der Gemeinde von Thessalonike (62 f.368 u. ö.). Die literarische Kenntnis von 1Thess sei am wahrscheinlichsten in Thessalonike selbst anzusiedeln (62). Dieses Argument ist nicht zwingend: Zur Abfassungszeit von 2Thess (Ende des 1. Jh.s) ist wohl schon mit einer weiten Verbreitung von Paulusbriefen zu rechnen (so selbst B.: 384, Anm. 91; vgl. z. B. Kol 4,16; 2Kor 1,1b). Zudem hat 2Thess neben 1Thess andere Paulusbriefe gekannt (2Thess 3,17!) und vielleicht schon - wie z. B. 1Kor - benutzt (R. Reuter, Synopse zu den Briefen des Neuen Testaments I, ARGU 5, 1997, 627 ff.); vgl. auch B., 435 f., Anm. 354. Im fiktiven Adressaten den realen Autor zu vermuten, wie dies anders akzentuiert auch M. Frenschkowski tut, ist gewiss reizvoll, für die Interpretation von 2Thess jedoch näher zu begründen. Hierzu ist auch eine Analyse der Gesetzmäßigkeiten antiker Pseudepigraphie unerlässlich. B. bleibt in ihrem Exkurs über "antike Pseudepigraphie" (368- 371) sehr allgemein. Speziell für B.s Ansatz wäre zu untersuchen, ob (und welche!) Teile der antiken pseudepigraphischen Briefliteratur aus dem Ort stammen, an den sie adressiert wurden.

Zweitens richtet sich 2Thess direkt an die Thessalonicher (62.368.377 u. ö.). B. lehnt die These ab, die Adresse sei eine aus sachlich-thematischen Gründen (Parusie) gewählte literarische Einkleidung. Dem Argument, in Thessalonike hätte 2Thess leicht als unecht enttarnt werden können, stellt B. entgegen, dass antiker Pseudepigraphie nicht automatisch eine Täuschungsabsicht innewohne (63.368 ff.). Im Fall von 2Thess muss man indes fragen: Würde sich eine durchschaubare Pseudepigraphie nicht die Autoritätsbasis entziehen? Zumal es nach 2Thess 2,2 "innergemeindliche Kontrahenten" (385.456 u. ö.) gab, die sich ebenfalls auf Paulus (und 1Thess!) beriefen. Selbst B. scheint zu vermuten, dass die Rezipienten 2Thess für einen authentischen Paulusbrief hielten (382.386). Also haben sich die Leser doch getäuscht? Wie soll man sich weiter konkret die Rezeptionsprozesse in Thessalonike vorstellen? Wurden dann 1Thess und 2Thess nebeneinander akzeptiert? Eine weitere Präzisierung der Abfassungsverhältnisse von 2Thess ist erforderlich, um die Aussagen über die Identitätswahrung im nachpaulinischen Thessalonike auf eine sichere Quellenbasis zu stellen.

Nachdem B. in einem einleitenden Teil (11-63) ihren methodischen Ansatz dargestellt und die Einleitungsfragen zu den Thessalonicherbriefen diskutiert hat, zeichnet sie die Ausbildung und Wahrung christlicher Identität in vier Phasen nach. Die erste Phase ist die "Gründung der Gemeinde von Thessalonich" (65-195). In die religiöse Vielfalt hinein trifft das Evangelium als symbolische Sinnwelt, deren Verkörperungen und Vermittler Paulus und seine Mitarbeiter sind; sie stellen für die Gemeinde die signifikanten Anderen dar. Die Gemeindemitglieder internalisieren im Prozess der Konversion diese symbolische Sinnwelt; sie werden von Paulus zu einer Kommunikationsgemeinschaft zusammengeschlossen und in einen überlokalen Gemein- deverbund integriert.

In diesem Teil vermisst der Leser die Diskussion des historischen Werts von Acta 17,1-9. Greift B. (91.196) darauf als historisch zutreffend zurück? Unter anderem wäre die Aufenthaltsdauer des Paulus in Thessalonike, mit der B. argumentiert (196 f. u. ö.), zu untersuchen. Der kurzen Verweilzeit von drei bis vier Wochen in Acta 17,2 stehen z. B. 1Thess 2,9 und Phil 4,16 entgegen. Die wiederholte Anführung von 1Thess 3,10 als Beleg für eine unvollständige Unterweisung (z. B. 110.186.196.205) erscheint mir problematisch.

Das lukanische Schema der paulinischen Synagogenmission (Acta 17,1-3) diskutiert B. nicht näher (vgl. aber 70.160.166). Geht man indes im Fall von 1Thess von einer Heidenmission (1Thess 1,9 f .) aus (so auch B.: 25.93 ff.196, Anm. 1, u. ö.; vgl. aber 93, Anm. 199), ist zu fragen, um was für Heiden es sich handelt (u. a. vermutet M. Reiser [Hat Paulus Heiden bekehrt?, BZ 39, 1995, 76-91: 91] hier Gottesfürchtige; vgl. vorsichtiger E. Reinmuth [NTD 8/2, 1998, 106]). Dieses Problem muss noch schärfer gefasst werden, weil die genaue Eruierung der religiösen Identität der thessalonischen Christen vor ihrer Konversion für die Plausibilität der paulinisch-christlichen Sinnwelt wichtig ist. Prinzipiell ist zwischen der historischen Rekonstruktion der paulinischen Mission und ihren jeweiligen Deutungen durch Acta (Synagogenmission) bzw. durch Paulus selbst (Heidenapostel) zu differenzieren.

Die zweite Phase bildet die "Zeit der Abwesenheit Pauli" (196- 336). B. behandelt die "Wege der Fortsetzung des signifikanten Gesprächs zur Sicherung der Identität". Zu ihnen gehören die Reise des Timotheus nach Thessalonike, die Abfassung von 1Thess als "materialisierte Form des signifikanten Gesprächs" und die identitätssichernde Funktion der Gemeindemitglieder füreinander. Entscheidend für die christliche Identität sind weiter Verstehenshilfen für sinnweltgefährdende Erfahrungen (Verfolgung, Leid, Tod). B. rekonstruiert die in 1Thess dargelegten Sinnangebote ebenso wie die Unterweisung in das christliche Ethos.

In einer dritten Phase wird für die Gemeinde von Thessalonike ihre systemspezifische Umwelt bedeutend (337-365). Die Beteiligung der Thessalonicher (B. stützt sich hier vor allem auf 2Kor 8+9; Röm 15) an der als eschatologische Völkerwallfahrt verstandenen Kollektenaktion ist Ausdruck der Verbundenheit mit der überregionalen christlichen Gemeinschaft.

Eine vierte Phase durchläuft die "Gemeinde in nachpaulinischer Zeit" (366-446). Hier dient 2Thess als Quelle. In diesem pseudo-paulinischen Brief sieht B. die Vergegenwärtigung des signifikanten Anderen nach dessen Tod. Das Verhältnis zwischen 1Thess und 2Thess bestimmt sie dabei als "spezifische Form der Interpretation bzw. der Sinnpflege".

Damit macht B. den Ansatz von J. und A. Assmann für das Problem der Pseudepigraphie fruchtbar, was etwa für das Verhältnis von Kol/Eph eine gewisse Plausibilität besitzt. Ist damit aber die Intention von 2Thess auf den Punkt gebracht? Eine Auseinandersetzung mit der Verdrängungshypothese, die B. ohne vertiefte Diskussion ablehnt (z. B. 386.412 f.), bleibt weiter nötig: Warum kennzeichnet Ps.Paulus sein Schreiben nirgends als einen zweiten Brief (vgl. 2Petr 3,1)? Versteht er 2Thess nicht vielmehr als den einen Brief an die Thessalonicher und erklärt in diesem Zuge sogar 1Thess für unecht (2Thess 2,2; 3,17)? Wird mit 2Thess nicht gewissermaßen 1Thess zurückgenommen, revidiert und "neu" geschrieben?

Analog zu 1Thess untersucht B. 2Thess in Hinsicht auf die christliche Identität, die Antworten auf anomische Erfahrungen sowie den Zusammenhang zwischen Ethos und Identität. Deutliche, von B. klar herausgearbeitete Verschiebungen sind gegenüber 1Thess festzustellen: Nach 2Thess zeichnet sich christliche Identität auch und vor allem durch den Bezug auf Paulus aus, der als normative Instanz und heilsrelevante Größe Eingang in die symbolische Sinnwelt gefunden hat.

Ein zusammenfassender und ausblickender Teil (447-461) resümiert die Ergebnisse. Der Arbeit sind drei Exkurse ("Identitätsbildung und -sicherung am Beispiel des Diasporajudentums", 78-90, "Die Völkerwallfahrt zum Zion", 360-362, und "Antike Pseudepigraphie", 368-371) beigegeben, außerdem ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Stellenregister (462-501).

B.s Abhandlung enthält wertvolle exegetische Einzelbeobachtungen. Allerdings wäre eine Straffung der vermeidbaren Längen und Dopplungen vor allem da sinnvoll gewesen, wo lediglich Sekundärliteratur referiert wird (z. B. 103 f.229 ff.). Die Analyse des für Thessalonike relevanten primären Referenzmaterials fällt dagegen zu knapp aus. Es ist zu fragen, ob gerade angesichts eines systemtheoretisch geprägten Identitätsbegriffs, der bei der System/Umwelt-Differenz ansetzt, eben jene hellenistisch-römische Umwelt als Folie nicht stärker in den Blick kommen sollte.

Die Quellenlage im ersten nachchristlichen Jh. gibt durchaus mehr her, wie ein Blick in die lokalgeschichtliche Arbeit von Christoph vom Brocke, Thessaloniki - Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus, WUNT II.125, 2001, zeigt; vgl. jetzt aktuell hinsichtlich der Organisation der paulinischen Gemeinden auch R. S. Ascough, Paul's Macedonian Associations, WUNT II.161, 2003, bes. 162 ff. (vgl. in diesem Heft Sp. 1193 ff.). Oft argumentiert B. nicht anhand von Primärquellen, sondern verweist auf Sekundärliteratur (vgl. z. B. 174).

So könnte sich in 1Thess 5,5b-8 eine Anspielung auf den Dionysoskult verbergen, wie B. referiert (154), ohne dies an Quellen zu belegen. Zu nennen wäre hier speziell für Thessalonike z. B. IG X 2,1, nr. 259. Misslicher als die fehlende Rückkopplung an antikes Material in Bezug auf 1Thess 5,5b-8 ist die bei B. nicht ausreichend thematisierte Problematik der Formel eirene kai asphaleia in 1Thess 5,3, deren mögliche Herkunft aus der Ideologie frühprinzipaler Politik - in antiken Quellen, epigraphischen und numismatischen Befunden reich belegt - kontrovers diskutiert wird; vgl. schon E. Bammel, Ein Beitrag zur paulinischen Staatsanschauung, ThLZ 85 (1960), 837-840.

Die zurückhaltende Verwendung antiker Quellen spiegelt sich auch in der Rubrik "Sonstige (Quellen)" (501) wider. Etliche weitere Zeugnisse werfen Licht auf das antike (z. B. Antipatros von Thessalonike) oder das christliche (z. B. Or., Comm.in.Rom. X,41) Thessalonike. Es fehlen auch im Quellenverzeichnis wichtige Veröffentlichungen wie Sammlungen von Inschriften aus hellenistisch-römischer Zeit. B. führt lediglich IG X 2,1 (C. Edson 1962 [lies: 1972]) an. Leider erscheinen die von B. beispielsweise 65-71 herangezogenen Inschriften nicht im Stellenregister.

Ungeachtet der vorgetragenen Bedenken stellt die Studie von B. einen interessanten Beitrag dar, nicht nur weil B. die Ereignisse in Thessalonike zu beleuchten versucht, sondern weil sie die Leistungsfähigkeit eines sozial-konstruktivistischen und damit humanwissenschaftlichen Zugangs für die neutestamentliche Wissenschaft geprüft hat. Hier gilt es, das Gute im Auge zu behalten!