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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1190 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Millard, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Genesis als Eröffnung der Tora. Kompositions- und auslegungsgeschichtliche Annäherungen an das erste Buch Mose.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. XII, 439 S. m. 3 Tab. im Anhang. 8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 90. Geb. Euro 69,00. ISBN 3-7887-1830-7.

Rezensent:

Jan Christian Gertz

Stellung und Funktion der Genesis im Ganzen des Pentateuch sind ein vielfach verhandeltes Problem der Auslegungsgeschichte: Selbst unter der Voraussetzung mosaischer Autorschaft nimmt die Genesis eine besondere Position ein, da Moses anders als in den restlichen Büchern des Pentateuch von längst Vergangenem berichtet. Die darin angedeutete entstehungsgeschichtliche Sonderstellung der Genesis ist zumindest für ihre Vorstufen in der Forschung immer betont worden, in der gegenwärtigen Diskussion tritt sie verstärkt in den Blickpunkt. In formaler Hinsicht fällt auf, dass sich das für die Darstellung der mosaischen Zeit charakteristische Ineinander von erzählenden und rechtlichen Partien in der Genesis nicht findet. Die altbekannte Frage, ob der Pentateuch ein Geschichts- oder Gesetzbuch ist, stellt sich daher für die Genesis als einzelnes Buch noch einmal anders als für das Gesamtwerk und für die Genesis als Teil dieses Gesamtwerks. Damit ist der Problemhorizont der anzuzeigenden Monographie, einer im Sommersemester 2000 an der Kirchlichen Hochschule in Bethel angenommenen Habilitationsschrift, abgesteckt. Profiliert wird die Untersuchung von Stellung und Funktion der Genesis im Kontext des Pentateuchs durch die Hineinnahme des jüdischen Verständnisses des Pentateuchs als Quelle der Weisungen Gottes, wodurch sich die Frage stellt, inwieweit die Genesis "Tora" enthalte. M. stellt sie unter den Begriff "der einen Tora als schriftliche und mündliche Tora" sowohl im Hinblick auf das Vorkommen von Handlungsnormen innerhalb der Genesis als auch mit Blick auf die frühjüdische, rabbinische und mittelalterlich-jüdische Auslegungsgeschichte.

Die Wahl der "jüdischen Bibelauslegung" als auslegungsgeschichtlicher Referenzgröße wird mit dem leidigen Problem begründet, wonach synchrone wie diachrone Beschreibungen der Endgestalt des Pentateuchs bereits auf einem Vorverständnis des Gesamtwerks beruhen. Der darin begründeten Gefahr eines Zirkelschlusses ließe sich nur durch den Vergleich mit dem Textverständnis anderer Leser begegnen. Hierbei bietet sich für M. "die jüdische Bibelauslegung" wegen ihrer sachlichen und historischen Nähe zu den alttestamentlichen Texten, ihrer auf ein Gesamtverständnis ausgerichteten Lektüre und ihrer Distanz zu einem christlichen Vorverständnis an. Der Erkenntnisgewinn durch die Einbeziehung antiker und mittelalterlicher jüdischer Bibelauslegung ist unbestritten. Insbesondere die Arbeiten von M. Fishbane und B. Levinson (bei M. nicht erwähnt) haben die Nähe der innerbiblischen Exegese und vor allem der rabbinischen Schriftauslegung aufgezeigt. Gerade die späteren Redaktoren dürften sich in ihrer Denkart und ihrem Vorverständnis im Umgang mit den ihnen vorliegenden Texten von ihren späteren Auslegern in vielerlei Hinsicht kaum unterscheiden. Gleichwohl ist auch den antiken und mittelalterlichen jüdischen Exegeten die historische Frage der Textgenese fremd. Aus diesem Grund helfen ihre Ausführungen auch eher zum Verstehen, welche Überlegungen in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Pentateuch einheitsstiftend wirken konnten. So betont auch M., dass sie für die diachrone Analyse der Endgestalt des Pentateuchs nur mittelbar etwas austragen. Vor allem aber wird man sich vergegenwärtigen müssen, dass auch die historische und sachliche Nähe keine normative Geltung der "jüdischen Bibelauslegung" für ein angemessenes Textverständnis begründet - ganz abgesehen davon, dass auch die Hauptlinie (der in sich nicht so einheitlichen!) antiken und mittelalterlichen jüdischen Bibelauslegung genauso wie die kontemporäre christliche Bibelauslegung von einem Vorverständnis geprägt ist, das aus der Retrospektive auf die "Schrift" blickt.

In der Durchführung beschreibt M. zunächst die Genesis als feste Untereinheit des Pentateuch, wobei er in Gen 49 f. die wichtigste Binnengrenze des Gesamtwerks erkennt. Der Abschnitt und damit die Konstituierung der Genesis als Buch sind insofern an der Tora orientiert: Gen 49 f. korrespondiert mit Dtn 33 f. und begründet den Vorrang Judas vor seinen älteren Brüdern durch Bezüge auf das Tötungs- und das Inzestverbot, womit zwei bereits in der Urgeschichte einsetzende Erzählungsreihen mit impliziter Ethik zum Thema Mord und Bruderkonflikt sowie sexuellem Fehlverhalten zu ihrem Ziel kommen. Die folgenden Kapitel fragen nach Handlungsnormen innerhalb der Genesis gemäß der "schriftlichen Tora" und der "mündlichen Tora".

Für die priesterlichen Texte zeigt M. den Gedanken einer abgestuften Entwicklung der Tora auf, die der Entwicklung von der Schöpfung der Menschheit über die Geschichte Abrahams und seiner Familie bis hin zur Konstituierung Israels durch entsprechende Gebote entspricht. Hierzu werden in der vorsinaitischen Geschichte drei Personengruppen drei Gebotsgruppen mit zeitlich unbegrenzter Gültigkeit zugewiesen: Noah das Doppelverbot von Blutgenuss und Mord, Abraham und seiner Familie das Gebot der Beschneidung und Israel die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Das gebietende Wort Gottes in den nichtpriesterlichen Texten drängt innerhalb der Genesis nicht auf bleibende Normen, sondern auf die Einübung des Gehorsams. Der Vergleich des innerbiblischen Befundes mit der (vorneuzeitlichen jüdischen) Auslegungsgeschichte zeigt auf, wie das in Einzelversen angedeutete Konzept einer schon vorsinaitisch von Einzelpersonen eingehaltenen ganzen Tora (Gen 18,19; 25,6) schon früh und breit wirksam wurde (vgl. Philo, De Abr 5; CD 3,2-4; mQid 4,14), wobei dieses Konzept der ganzen Tora in der Genesis und das priesterliche Konzept der vorsinaitischen Entwicklung der Tora nicht notwendig als Alternativen wahrzunehmen sind. Es ist die verborgene Tora, die bei besonders wichtigen Geboten schrittweise enthüllt wird. Die Verschränkung von innerbiblischer und nachbiblischer Auslegungsgeschichte wird schließlich mit Blick auf das gestellte Thema der Genesis als Tora anhand der drei Erzählungen von der Preisgabe der Ahnfrau exemplarisch vorgeführt. Eine knappe Auswertung, Tabellen zum priesterlichen Textbestand in Gen1 bis Ex 18, zur rabbinischen Exegese der vorsinaitischen Gebote sowie ausführliche Stellen- und Namensregister erschließen die überaus materialreiche Arbeit, deren nicht geringstes Verdienst die ausführliche Präsentation der antiken und mittelalterlichen jüdischen Bibelauslegung ist.

Materialreichtum ist indes ein zweischneidiges Schwert, zumal wenn ein systematisierender Zugriff auf die einzelnen Informationen nicht immer zu erkennen ist und auch die Zusammenfassungen der Teilkapitel eher thematische Weiterführungen als eine Lesehilfe sind. Streckenweise gleicht die Untersuchung einem Handbuch zur "jüdischen" Bibelauslegung, wobei die Vorteile eines Handbuchs, die präzise Gliederung nach Lemmata und die konzentrierte Darstellung einzelner Sachverhalte, im Duktus einer Habilitationsschrift natürlich fortfallen - von der ein wenig unscharfen Kategorie "jüdische" Bibelauslegung einmal ganz abgesehen. Insbesondere die Einleitung bietet eine Unmenge an Einzelinformationen, die sich nach dem Eindruck des Rezensenten in ihrer Bedeutung für das Thema nur denjenigen erschließen, die mit der Materie ohnehin vertraut sind, dann aber wie die Ausführungen zum "Strack/Billerbeck" zum Teil überflüssig sind.

Eine Reihe von Mitteilungen würde man wohl andernorts erwarten, so den Hinweis auf M. Stembergers Darstellung jüdischer Hermeneutik als geeignete Lektüre für alttestamentliche Proseminare. Desgleichen ist der auf anderthalb Seiten und zwei wertende Fußnoten beschränkte Hinweis auf "feministische" Ansätze in der Auslegung der Genesis in dieser Form wenig erkenntnisfördernd und trägt für das Thema der Untersuchung nur wenig aus. Dass "die jüdische Bibelauslegung" in Form kirchlicher Verlautbarungen zum jüdisch-christlichen Dialog zunehmend auch in einer kirchlichen Öffentlichkeit rezipiert wird, ist sicher richtig und hängt zumindest mittelbar mit der Fragestellung der Untersuchung zusammen. Doch wo M. sich darauf beschränkt, dies erfreut mitzuteilen, wäre man für eine begründete Stellungnahme zu Chancen und Schwierigkeiten einer kirchlichen Rezeption "mündlicher Tora" durch den mit der vorliegenden Arbeit als Kenner der Materie ausgewiesenen Vf. überaus dankbar.