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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1170–1172

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

1) Hemminger, Hansjörg 2) Henning, Christian, Murken, Sebastian, u. Erich Nestler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1) Grundwissen Religionspsychologie. Ein Handbuch für Studium und Praxis.

2) Einführung in die Religionspsychologie.

Verlag:

1) Freiburg-Basel-Wien: Herder 2003. 270 S. m. Abb. 8. Geb. Euro 19,90. ISBN 3-451-28185-6.

2) Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2003. 260 S. kl.8 = UTB Psychologie - Religion, 2435. Kart. Euro 9,90. ISBN 3-506-99011-X (Schöningh); 3-8252-2435-X (UTB).

Rezensent:

Hans-Jürgen Fraas

Angesichts dessen, dass die Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum noch immer unterrepräsentiert ist, ist es um so erfreulicher, gleich zwei Werke vorstellen zu können, die das vorhandene Defizit auszugleichen suchen. Sie konkurrieren nicht miteinander, sondern verfolgen grundverschiedene Ansätze und Interessen.

Henning/Murken/Nestler bieten eine umfassende Darstellung der Lage der Religionspsychologie unter wissenschaftsgeschichtlichem, -geographischem, und methodologischem Aspekt und zeigen zugleich Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft. Die Autoren definieren Religionspsychologie als den Versuch, mit Mitteln der Psychologie Phänomene zu untersuchen, die "in ursächlichem Zusammenhang mit menschlicher Transzendenzerfahrung stehen" (9).

In einem ersten Teil (81 S.) gibt Henning einen ausgezeichneten präzisen Überblick über die Geschichte der deutschsprachigen Religionspsychologie seit Ende des 19.Jh.s im internationalen Kontext. Für die Weiterarbeit wünscht er sich ein dauerhaftes interdisziplinäres Forschungszentrum im Rahmen einer großen Universität (74). Eine reiche Bibliographie rundet das Kapitel ab. Das zweite Kapitel (27 S.) bietet einen informativen Überblick über die Themen der Religionspsychologie nach spezifischen Phänomenen bzw. psychologischen Teildisziplinen, unter besonderer Berücksichtigung von Bekehrung (Forschungsgeschichte, Diskussionsstand: U. Popp-Baier), Religion und Moralität (Kohlberg, Fowler, Oser/Gmünder, neuere Ansätze und Perspektiven: E. Billmann-Mahecha), Religion und psychische Gesundheit (positive und negative Beziehung beider zueinander, Forschungsansätze: M. Schowalter, Murken). Jeder Abschnitt ist mit reichhaltigen Anmerkungen, Literaturhinweisen, Lektüreempfehlungen und Ausblicken angereichert. Der dritte Teil (66 S.) stellt gut verständlich die Methoden der Religionspsychologie dar, gegliedert in quantitative (U. Wolfradt/ G. Müller-Plath) und qualitative (U. Popp-Baier) Vorgehensweisen. Das vierte Kapitel bietet auf 14 Seiten eine Zusammenfassung und einen Ausblick in theologischer Perspektive (Nestler). Aus der Tatsache, dass die Religionspsychologie als "Waisenkind" (ohne eindeutige Vaterschaft) erscheint, sollte eine Tugend gemacht werden: Nestler plädiert für eine "Institutionalisierung der Religionspsychologie" im Sinn von Studiengängen, die von Psychologie, Theologie und Religionswissenschaft gemeinsam getragen werden (Verbundwissenschaft), einschließlich unterschiedlicher theologischer (warum nicht auch psychologischer?) Positionen. Die Vorausset- zung des "Ausschlusses der Transzendenz", also einer in letzter Konsequenz atheistischen Position als normativer Ebene wird als anachronistisch abgelehnt. Statt dessen geht Nestler vom "Einklammern des Geltungsanspruchs" aus, was der streckenweise historischen, komparativen und analytischen Arbeitsweise der Theologie durchaus entspreche. Gleichwohl fordert er neben psychologischen auch "theologische Religionspsychologien", einschließlich einer solchen auf der Basis des Islam. Nestler sieht zu Recht die Notwendigkeit, sowohl die den religiösen Traditionen innewohnende Psychologie als auch die in diesen enthaltenen normativen Setzungen herauszuarbeiten, überhöht durch eine "Kulturpsychologie des Sinns" (J. Bruner).

Ein Anhang mit weiterführender Literatur, einem Autorenverzeichnis und einem Verzeichnis der internationalen Studienmöglichkeiten vervollständigt das Buch, das insgesamt eine solide programmatische Grundlegung bietet.

Hemminger verfolgt dem gegenüber ein rein praktisches Interesse. In sieben Kapiteln bietet er Gedanken über Religion bzw. Psychologie an sich: religiöse Entwicklung; Religion, Person, Beziehung; Glaube und Aberglaube; das veränderte Bewusstsein; Religion und Gemeinschaft; Fanatismus und Sektierertum. Er teilt die kritische Beurteilung der Lage. "Wenn man etwas über RP lehren oder lernen will, ist man gezwungen, die Themen unter praktischen Gesichtspunkten auszuwählen und aus dem, was es an Wissen dazu gibt, das beste zu machen". Damit wird allerdings das, was die religionspsychologische Forschung immerhin geleistet hat, doch wohl etwas unterschätzt. Im Hinblick auf die Wahrheitsfrage greift H. "vorübergehend zum methodischen Atheismus".

Hemmingers Buch ist aus einem religionspädagogischen Seminar an der Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg hervorgegangen. Schwerpunktmäßig stehen daher Alltagsfragen der (Erziehungs-)Praxis im Vordergrund. Das macht die Stärken und Schwächen des Buches aus. Eine Stärke besteht zweifellos in der - gegenüber allzu akademischen Abhandlungen - durchgehaltenen praktischen Intention in Stil und Inhalt. Unter diesem Aspekt ist die Bearbeitung von Themen wie Konversion, sozialer Charakter der Religion, Fanatismus und Sektierertum besonders überzeugend. Das Buch enthält eine eingängige populärwissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens unter säkularen Bedingungen, innerhalb psychologischer Theorien werden z. B. Attributions- und Dissonanztheorie plausibel dargestellt. Die Auseinandersetzung mit dem Enneagramm ist ebenso begrüßenswert wie die Darstellung der Pfingstbewegung. Dass die Forschungsgeschichte unter dem Postulat seines situationsorientierten Denkens (35) bei Hemminger ausgespart wird, ist verständlich.

Allerdings ist die Bezeichnung "Grundwissen Religionspsychologie " missverständlich, sofern dieser Begriff einen gewissen thematischen Überblick erwarten lässt. Das Vorgetragene ist aber weitgehend auf das für den Laien praktisch Interessante beschränkt, ohne das "Entfallende" (7) auch nur zu erwähnen, und suggeriert dem Leser, er wisse damit über die Religionspsychologie Bescheid. Übergangen wird, "ob und wie sich die menschliche Neigung zur Religiosität psychologisch erklären lässt" (7). Die lapidare Feststellung, es gebe "nur gute und schlechte Psychologie", begründet das Bemühen, die "gute Psychologie nutzbar zu machen" - aber was sind die Kriterien für eine "gute" Psychologie? Die mangelnde reflexive Differenzierung lässt Hemminger ältere Entstehungstheorien von Religion wie den unverantwortlich verkürzten Freudschen Ansatz ohne Erklärung als "skurril" abtun (76). Die Theorie einer religiösen Anlage wird nicht einmal erwähnt, die Auswahl der Typologien ist einseitig. Aberglaube wird berechtigterweise ausführlich thematisiert, aber das Stichwort "Magie" nur gestreift, ohne Hinweis auf die neuere, interessante Wege gehende Magie-Forschung (vgl. bei Streib; Heimbrock). Das durchaus wichtige Kapitel über das "veränderte Bewusstsein" spart die Frage nach der Rolle des "Ich" (personale/transpersonale Psychologie) aus.

So ergibt sich für den Rezensenten ein Widerspruch: Der ins Auge gefassten Klientel ist das Buch durchaus zu empfehlen, aber nicht so sehr, um - wie der Titel nahe legt - sich über die Religionspsychologie zu informieren, sondern eher wegen der praktisch-theologischen Reflexion religiös relevanter Zeitphänomene unter punktuellem Rückgriff auf psychologische Erklärungsmodelle.