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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1147–1166

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Peng-Keller, Simon

Titel/Untertitel:

Das Bewusstsein der verborgenen Gegenwart Gottes. Mystisches Erleben als intensivierte Glaubenserfahrung

Mystische Glaubenserfahrungen lassen sich in einem zweifachen Sinne als Gegenwartserfahrungen beschreiben: zum einen hinsichtlich ihres inhaltlichen Bezugs als Erfahrungen der Gegenwart Gottes, zum anderen im Blick auf die Vollzugsform als gesteigertes und zugleich flüchtiges Gegenwartserleben. Im ersten Fall steht Gegenwart für eine bewusst wahrgenommene Relation (entsprechend der ursprünglicheren lokalen Bedeutung von Gegenwart1), im zweiten dagegen für eine bestimmte Qualität des Zeit- und Selbsterlebens. Während in der Mystikdiskussion oft nur je einer dieser beiden Aspekte berücksichtigt wird,2 möchte ich im Folgenden untersuchen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Ich werde die These vertreten, dass in mystischen Glaubenserfahrungen sich sowohl das den christlichen Glaubensvollzug kennzeichnende Bewusstsein der Gegenwart Gottes intensiviert als auch das Erleben von erfüllter Gegenwart. Die hierzu nötige Verhältnisbestimmung zwischen Gegenwärtigkeit als spezifischer Erlebnisform, dem glaubenden Bewusstsein der Gegenwart Gottes und mystischer Erfahrung versuche ich in den folgenden Schritten zu entwickeln: In einer philosophischen Annäherung (1.) frage ich zunächst nach der erlebniszeitlichen Gegenwart (1.1), dem Leben in der Gegenwart als Ziel philosophischer Therapeutik (1.2) und nach besonderem Gegenwartserleben, dem religiöse Bedeutsamkeit zugeschrieben werden kann (1.3). In der daran anschließenden theologischen Weiterführung (2.) tritt dann der relationale Aspekt von Gegenwart in den Vordergrund. Nach einer grundlegenden Bestimmung dessen, was die christliche Wahrnehmung von Gottes Gegenwart auszeichnet (2.1), setzte ich mich mit der verbreiteten Meinung auseinander, mystische Erfahrung sei im Gegensatz zu der gewöhnlichen Glaubenserfahrung als unmittelbare Wahrnehmung von Gottes Gegenwart zu verstehen (2.2). Danach nähere ich mich in zwei Zwischenschritten meiner eigenen These, indem ich die durch Gottes Gegenwart bestimmte Zeit als eine neue Zeit sui generis zu spezifizieren suche (2.3), in die sich Glaubende durch die sakramental vermittelte Selbstvergegenwärtigung Gottes hineingenommen erfahren (2.4). An diese Grundbestimmungen anknüpfend wende ich mich schließlich mystischen Präsenzerfahrungen zu (3.) und beschreibe sie als Intensivierung des Bewusstseins der Gegenwart Gottes und der Gegenwartserfahrung des Glaubens (3.1), die in der Folge aber auch das Bewusstsein der Verborgenheit Gottes und die Absenzerfahrung des Glaubens verstärkt (3.2). Abschließend versuche ich, auf dem Hintergrund dieser mystischen Intensivierung und in gegebener Kürze nochmals die komplexe Struktur christlicher Gegenwartserfahrung ins Auge zu fassen (3.3).

1. Gegenwart als philosophisches Thema

1.1 Erlebte Gegenwart

Erlebte Gegenwart unterscheidet sich von einer nur gelebten und durchlebten Gegenwart durch ein Mehr an bewusster Wahrnehmung. Diese Unterscheidung dürfte jedem plausibel sein, der sich schon einmal gedankenversunken vom einen Ort zum anderen bewegte, ohne zu merken, was ihm auf diesem Weg begegnete und wie unterwegs die Zeit verging. Oft leben wir in der Gegenwart, ohne sie zu erleben. Wie jemand seine lebenszeitliche Gegenwart erlebt, hängt davon ab, was ihm als Gegenwärtiges in einem sprachlich erschlossenen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont begegnet.3 Im Zusammenspiel von Erinnerung, aktueller Wahrnehmung und Erwartung, in dem sich gegenwärtige Vergangenheit, gegenwärtige Gegenwart4 und gegenwärtige Zukunft zu einer Erlebnisgegenwart verbinden, lokalisieren sich Erlebende lebens- und weltzeitlich. Sie setzen ihre erlebte Gegenwart in einen Bezug zu einer Vielfalt von (lebens-) geschichtlichen Ereignissen, was ihnen ermöglicht, in einer perspektivisch geordneten Welt selbstbewusst zu leben und eine narrativ strukturierte Identität aufzubauen.5 Wieweit die Gegenwart, die durch diese passive Synthesis aufgebaut wird, offen ist für neue Erfahrungen, variiert bekanntlich in großem Maße. Die drückende Gegenwart des Vergangenen kann die Möglichkeiten gegenwärtigen Wahrnehmens ebenso massiv einschränken wie etwa Zukunftsangst. Die Beobachtung, dass einen "die Präsenz des Vergangenen oder Möglichen" so überfallen kann, dass sie "die eigene Gegenwart des Ich" aufsaugt,6 findet sich bereits bei Seneca7 und Descartes, der die Affekte und Leidenschaften daraufhin untersuchte, ob sie "uns mehr dazu bringen, eher auf die Zukunft, die Gegenwart oder die Vergangenheit zu achten."8 Während uns etwa die "Betrachtung eines gegenwärtigen Gutes"9 freudig in der Gegenwart verweilen lässt, entsteht "aus vergangenem Guten Verdruß"10, der unsere gegenwärtige Aufmerksamkeit hin zu trübseliger Retrospektion lenkt. Mit welcher Intensität und Qualität wir unsere lebenszeitliche Gegenwart erleben, hängt demnach davon ab, wie intensiv und in welcher Weise wir in ein gegenwärtiges Geschehen involviert sind. Für den passionierten Kartenspieler vergeht die Zeit im Nu, während sich für eine Mutter die bangen Stunden dehnen, in denen sie auf die verspätete Heimkehr ihrer Kinder wartet.

Bei dem Präsenzerleben, das im Folgenden genauer betrachtet werden soll, geht es nur um einen sehr eingeschränkten Bereich dieser vielfältigen Formen, wie wir Menschen unsere lebenszeitliche Gegenwart erleben. Unter Präsenzerleben im engeren Sinne wird hier das Erleben einer erfüllten und gesteigerten Gegenwart verstanden, das also, was traditionell in Abhebung vom flüchtigen Augenblick als nunc stans, als erfüllte Gegenwart bezeichnet wurde.11 Doch auch dieses engere Verständnis umfasst noch eine Vielfalt von Erlebnisvarianten. Das Spektrum solcher positiven Präsenzerfahrungen, in denen sich die Lebenszeit zu verdichten scheint und sich zugleich ihre Befristung offenbart, reicht vom inspirierten Augenblick des Künstlers über die Schäferstunde der Verliebten bis zur heiteren Fülle eines Festes und zur geheimnisträchtigen Stille eines kontemplativen Gebets. Gemeinsam ist solchem Präsenzerleben, dass das gegenwärtig sich Ereignende die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht und diese in ungewohntem Maße steigert und luzide werden lässt. Die gesteigerte Präsenz des (als) gegenwärtig Erlebten kann mit Selbstvergessenheit der Erlebenden einhergehen.12 Dennoch verlieren sie sich nicht im Augenblick (wie es etwa Süchtige oder Zornige tun, die in einem gewissen Sinne ebenfalls ganz in gegenwärtigem Erleben aufgehen und alle Gedanken an die Zukunft und Vergangenheit verlieren), sondern könnten jeden Augenblick aus dem selbstvergessenen Erleben heraustreten und in eine reflexive Selbstdistanz übergehen. Deshalb gehört zum erfüllten Augenblick das glückhafte Erleben von Freiheit.13

1.2 Leben in der Gegenwart

Leben und Handeln in der Gegenwart zu erschließen, indem man die Passionen bearbeitet, die durch ein Übermaß an Erinnerung oder Erwartung das gegenwärtige Leben überschatten und überblenden, ist ein altes Anliegen philosophischer Lebenskunst. Das glückliche Außer-sich-Sein in intensiviertem Präsenzerleben tritt in solcher Therapeutik in einen Kontrast zu der Sucht nach Zerstreuung, dem Nicht-bei-sich-bleiben-Können und dem Aufgehen-Wollen in Begehrtem: "Man möchte [...] möglichst immer weg sein, hingerissen in das Interessante."14 Gegenüber einem Leben, welches seine Gegenwart dadurch verspielt, dass es sich vergeblich im flüchtigen Glück des divertissement zu halten versucht, oder das die gegenwärtige Lebenszeit restlos für eine imaginierte Zukunft verbraucht,15 wird das gelingende Leben in der Gegenwart als eines profiliert, das sich nur langsam im Durchgang durch einen Läuterungs- und Aneignungsprozess eröffnet. Wie verschieden dabei die Akzente gesetzt werden können, soll beispielhaft durch den Vergleich der Zeitphilosophien von Michael Theunissen, Peter Bieri und Gerd Haeffner herausgearbeitet werden.

a) Michael Theunissen geht von der bestreitbaren16 Prämisse aus, dass die Herrschaft der Zeit zur condition humaine gehört. Im Kampf gegen die Macht der Zeit stehen nach Theunissen dem Menschen verschiedene Wege offen. Er kann versuchen, durch Planung und Gestaltung selbst Herrschaft über die Zeit zu gewinnen; er kann sich in "ästhetischer Anschauung" vorübergehend vom Druck der Zeit befreien; er kann sich schließlich mit der Zeit versöhnen, indem er sich ihr "anschmiegt, um ihr die Ewigkeit zu entlocken."17 Wo der Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit einbricht, verformt sich das Zeiterleben ins Pathologische.18 "Erlahmt die Zeitigung der Zeit als dimensionaler, so drängt ihre andere Erscheinungsweise sich auf, ihr lineares Fortschreiten."19 Die Dominanz der linearen Zeit zeigt sich etwa im Gefühl von Schizophrenen, in einer gefrorenen Ewigkeit zu leben; ebenso in Wiederholungszwängen, die durch Perpetuierung fixer Handlungsmuster neue Erfahrungen verhindern,20 und im melancholischen Leiden an einer Zeit, die inhaltsleer vorübergeht und hinter der man zurückbleibt. Dem Leiden unter der Herrschaft der Zeit begegnet Theunissen zum einen dadurch, dass er an den Topos anknüpft, Philosophie sei Einüben ins Sterben: "Menschlich leben wir dann und nur dann, wenn wir abschiedlich leben, und das heißt: wenn wir uns ständig von der Welt und von uns selbst abscheiden. So zu leben ist nicht willkürlicher Entscheidung anheimgegeben. Denn unser Leben ist abschiedlich."21 Zum anderen erkundet Theunissen die Möglichkeit eines verweilenden Nicht-Mitgehens mit der Zeit, das sich vom melancholischen Nicht-Mitgehen-Können ebenso unterscheidet wie vom neugierigen Sich-Mitreißen-Lassen. Die Gegenwart, die sich dem erschließt, der in der Zeit verweilen kann, gehört nach Theunissen "in eine ganz andere Zeitordnung" als "die der fortschreitenden Zeit".22 Sie ist nach Theunissen nicht zu verwechseln mit dem platonischen exaiphnes und dem Augenblick in Sinne Kierkegaards, der das Resultat einer Synthese darstelle. Die Gegenwart des Verweilens "ist die Gegenwart des Anderen"23 bzw. die "Liebesgegenwart", die als "Sich-Einlassen [...] nur im Sich-Loslassen" glückt.24

b) Begegnet Michael Theunissen dem Leiden an der Herrschaft der Zeit mit der Einweisung in eine vita contemplativa, in ein verweilendes Sich-Einlassen auf die Gegenwart des Anderen, so legt Peter Bieri den Akzent darauf, dass nur durch praktische Selbstevaluation und bewusste Selbstbestimmung eine Gegenwart erschlossen wird, die in einem emphatischen Sinne die meine ist. Dies wird zunächst ex negativo aufgezeigt. Durch eine Typologie von Figuren menschlicher Unfreiheit analysiert Bieri, wie sich das Erleben der Gegenwart deformiert, wenn die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln durch innere oder äußere Faktoren beeinträchtigt ist.25 So reiht sich bei einem Getriebenen, dem die Fähigkeit zur Ausbildung höherstufiger Wünsche und Ziele fehlt, eine Impression rhapsodisch an die nächste, was Bieri als Erfahrung einer flachen Gegenwart beschreibt. Die Gegenwart eines Hörigen zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie nur scheinbar die seine ist. Im kritischen Rückblick erkennt er, dass er ein fremdes Leben lebte. Der Mitläufer wiederum lebt in einer Gegenwart, deren Überraschungsresistenz er durch Langeweile bezahlt. Der Zwanghafte verschiebt seine Gegenwart auf morgen, während der Erpresste gezwungen wird, sie zu überspringen. Damit die mir zufallende Lebenszeit zu meiner Gegenwart werden kann, ist es nach Bieri nötig, die Motive und Gründe meines Handelns zu evaluieren, sie zu artikulieren und mir kritisch anzueignen und auf diese Weise eine reflektierte und zugleich affektiv grundierte Lebensorientierung auszubilden. "Die Gegenwart nicht blind zu erleben heißt, sie im Kontext einer angeeigneten Vergangenheit und eines Projekts für die Zukunft zu erleben."26 Die identitätsbildende und kontinuitätsstiftende Kraft, "die ein Selbst zu konturieren vermag, weil sie eine aus der inneren Distanz heraus angeeignete Kraft ist"27, besteht nach Bieri in einem leidenschaftlich bejahten Selbstengagement: "Nichts schafft so intensive Gegenwart wie eine Leidenschaft. Die Zeit wird vom Leidenschaftlichen insgesamt als die Dimension erlebt, in der sich Freiheit entfaltet. Sie ist nicht eine flache Strecke wie für den Getriebenen, und sie ist nichts, was es abzuwarten, aufzuschieben oder zu überspringen gilt wie bei Erfahrungen der Unfreiheit. Leidenschaft - das ist eine Organisation der inneren Zeit, welche diese Zeit in besonderer Weise zu meiner Zeit macht."28 Leidenschaft, verstanden als eine frei bejahte affektive Involviertheit, ist für Bieri also nicht29 wie in einer gewichtigen philosophischen Tradition das Einfallstor für versklavende Triebe, sondern die Tür zur erfüllten Gegenwart. In meiner Gegenwart lebe ich, wenn ich mich in einem umfassenden Sinn mit dem identifizieren kann, was ich tue, und ganz (d. h. in meinem Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen) in dieses Tun involviert bin.

c) Betont Peter Bieris philosophische Therapeutik die Arbeit an sich, das Bemühen um Verstehen und Artikulation, um Aneignung und Bindung, so setzt Gerd Haeffner, bei ähnlichem diagnostischem Befund, deutlich andere Akzente. Leben in der Gegenwart heißt nach ihm, dem Ruf der Gegenwart zu folgen und ein "Organ für so etwas wie Gegenwart selbst"30 zu entwickeln. Der Aneignung bei Bieri entspricht bei Haeffner das Sein-Lassen, das er in einem mehrfachen Sinne versteht: "Zum Sein-Lassen gehört einerseits ein Loslassen, das dem Losgelassenen nicht verwehrt, zu sein, was es ist, also ein Ablassen von dem Versuch, etwas zu verändern. Und andererseits gehört zu ihm ein positives Zulassen, das zwar kein Machen ist, aber, über das bloß negative Ablassen hinaus, doch ein aktives Ankommen-Lassen."31 In einem bewussten Leben in der Gegenwart verbindet sich mit diesem Ankommen-Lassen die Aufmerksamkeit, die sich sowohl auf etwas Gegenwärtiges wie auf die Gegenwart selbst richten kann. Da nach Haeffner "Präsenz selbst etwas Einfaches ist", bringt die aufmerksame Ausrichtung auf sie interpretative Vollzüge zum Stillstand und führt zu einer gesteigerten Wahrnehmung.32 Wendet man Haeffners Unterscheidung zwischen interpretierender und einfacher Wahrnehmung ins Religiöse, entspricht sie dem Übergang von einem noch diskursiv geprägten meditativen Vollzug zum kontemplativen Verweilen. Haeffners Beschreibung des Lebens in der Gegenwart trägt, wenn auch verhalten, religiöse Züge oder führt zumindest an die Schwelle zu einem religiösen Lebensvollzug. Es erstaunt deshalb nicht, wenn er auch der Frage nachgeht, inwiefern Präsenzerlebnisse als religiöse Erfahrungen gedeutet werden können.33

1.3 Religiös bedeutsame Präsenzerlebnisse

Anders als die Erfahrungen der Gegenwart Gottes, auf die ich weiter unten eingehen werde, haben die von Gerd Haeffner beschriebenen Präsenzerlebnisse nicht einen offenkundigen religiösen Charakter: "Diese Erlebnisse sind nicht in dem Sinn außergewöhnlich, daß in ihnen ungewohnte Erscheinungen oder Stimmen vernommen würden, sondern nur in dem Sinn, daß das Gewöhnliche auf außergewöhnliche Weise wahrgenommen wird."34 In den Beispielen von Annie Dillard, Walker Percy und Martin Buber, die Haeffner anführt, zeigt sich Alltägliches - eine Bergwand, ein von Sommerhitze erfülltes Laborgebäude, die Mähne eines Apfelschimmels - in ungewöhnlicher Intensität, "in kräftigeren Farben, in schärferen Konturen, in dichterer Realität".35 Durch diese "Art von epistemischer Unmittelbarkeit und ontologischer Fülle" kommt es zu einer radikalen Veränderung des Zeiterlebens: "der Andrang der Zukunft und der Druck der Vergangenheit, die allem Denken an die Zeit und Rechnen mit der Zeit zugrunde liegen", fallen weg, "so daß das gegenwärtige Sein oder Geschehen ungehindert den Frei-Raum des Bewußtseins erfüllen kann."36 Das Eigentliche liegt nach Haeffner jedoch nicht in einer psychologisch erklärbaren sinnlichen Sensibilitätssteigerung, sondern im Staunen über "die Erstaunlichkeit und Herrlichkeit des Endlichen und Erscheinenden"37 und indirekt auch über das "Gegebensein und Sein selbst, wie es in diesem erfahrenen Seienden konkret da ist."38 Dass solche Präsenzerlebnisse als religiös bedeutsam empfunden werden, ist nach Haeffner möglich, aber nicht zwingend. Wenn sie trotz ihrer vordergründigen Weltlichkeit und Profanität "von den Personen, die sie gemacht haben, spontan in einen religiösen Sinnzusammenhang gestellt"39 werden, dann deshalb, weil sie mit dem Gefühl verbunden sind, "durchgebrochen zu sein zu einer Wirklichkeit, die tiefer ist als die gewöhnlich bekannte, wenn nicht gar zur tiefsten Schicht selbst."40

In einem letzten Schritt deutet Haeffner an, wie er aus christlich-theologischer Perspektive die Bedeutung solcher anonym-religiöser Präsenzerlebnisse einschätzt. Sie können als Einladungen verstanden werden, "zu lernen [...], daß [sich] dasselbe, was sich in der aktuellen Erfahrung von Gegenwart vollzog, der Sache nach dauernd, unter dem Schleier der alltäglichen Wahrnehmung und Begegnung, vollzieht. Die als solche nicht auffallende, sich in der Profanität des alltäglichen Bewusstseins verbergende Gegenwart, ist das eigentlich Aufregende, das Geheimnis."41

Ohne hier näher auf Haeffners Deutungsversuch einzugehen,42 soll im Folgenden untersucht werden, wie das Verhältnis zwischen den von ihm beschriebenen anonym-religiösen Präsenzerlebnissen und mystischem Erleben der Gegenwart Gottes zu bestimmen ist. Handelt es sich bei mystischen Glaubenserfahrungen um ein Erleben, das strukturell ähnlich, inhaltlich aber anders bestimmt ist, nämlich nicht durch die Wahrnehmung der "Herrlichkeit des Endlichen", sondern durch die Herrlichkeit und Gegenwart Gottes? Doch wie kann die Gegenwart Gottes überhaupt wahrgenommen werden? Ist nicht auch die gläubige Wahrnehmung von Gottes Gegenwart stets eine über Welt- und Selbsterfahrung vermittelte, so daß sie sich in dieser Hinsicht nicht von Haeffners Präsenzerlebnissen unterscheidet?

2. Gottes Gegenwart und die Gegenwart des Glaubens

2.1 Christliche Wahrnehmung von Gottes Gegenwart

Glauben bedeutet christlich verstanden, sich in allen Lebensvollzügen in der Gegenwart des Gottes Jesu zu wissen. Gegenwart meint hier weder temporale Gleichzeitigkeit noch räumliches Beieinandersein, sondern eine durch Gott gewirkte Relation: sein schöpferisches und freies Sich-in-Beziehung-Setzen zu Zeitlichem, das ohne ihn nicht wäre.43 Spezifisch christlich ist dabei nicht, dass Christen glauben, Gott sei allem Zeitlichen gegenwärtig, sondern wie sie diese Gegenwart verstehen und auf welche Weise sie diese wahrzunehmen glauben. Theologisch lässt sich im Anschluss an Augustinus zwischen Gottes Allgegenwart und den vielfältigen Weisen seiner eschatologisch qualifizierten Einwohnung unterscheiden.44 Gott ist allem gegenwärtig, doch nur Menschen vermögen diese wirksame Gegenwart zu erkennen und ihr zu entsprechen. Gott vergegenwärtigt sich allen Menschen, doch nicht allen auf die gleiche Weise, und nicht alle erkennen es und sind bereit, sich von dieser Gegenwart bestimmen und ihn bei sich einwohnen zu lassen.

Während man sich zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen darüber uneinig ist, wie die kirchliche Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes zu vollziehen und zu deuten sei, besteht ein weitgehender ökumenischer Konsens darin, "daß Gott als Liebe, und zwar als sich uns als Liebe selbst erschließende und uns so in ihren göttlichen Lebensvollzug einbeziehende Liebe gegenwärtig ist - als die unerschöpflich schöp-ferische Liebe also, die weder durch unser unverschuldetes Nichtwahrnehmen noch durch unsere schuldhafte Wahrnehmungsverweigerung noch durch das Ende unseres Wahrnehmens im Tod davon abgebracht wird, an uns und anderen Neues zu wirken."45

Dass Gott als lebendig machende Liebe gegenwärtig ist, bedeutet nicht, dass diese Gegenwart von Glaubenden immer und in gleicher Weise wahrgenommen wird. Viele sehen das Kennzeichen des Glaubens gerade darin, dass man in der Gegenwart Gottes zu leben versucht, ohne diese wahrzunehmen. Der wesentlich dunkle Glaube unterscheidet sich in dieser Sicht von einem außerordentlichen Wahrnehmen von Gottes Gegenwart, das den Glauben auf ein mystisches Sehen hin übersteigt. Eine solche Unterscheidung unterschätzt jedoch die Wahrnehmungsfähigkeit des Glaubens und übersieht, dass es auch die mystisch intensivierte Erfahrung der Abwesenheit Gottes gibt. Wem Gottes Gegenwart in intensiver Form offenbart wird, der scheint auch intensiver an seiner Abwesenheit zu leiden. Die mystische Erfahrung der verborgenen Gegenwart Gottes ist als Steigerungsform der Wahrnehmung des Glaubens zu verstehen und nicht als etwas, das sich von ihr grundsätzlich unterscheidet.

Wer sein Leben coram Deo zu leben versucht, nimmt sich und die Welt anders wahr, als wenn er es unterließe, sich von der Gegenwart Gottes bestimmen zu lassen. Ausgerichtet auf die heilsgeschichtlich bestimmte Gegenwart Gottes lebt er oder sie anders in der Zeit und erlebt deshalb auch die Zeit anders. Christliche Existenz zeichnet sich durch eine spezifische Erfahrung mit der Erfahrung aus, die nach I. U. Dalferth auch als indirekte Wahrnehmung der Gegenwart Gottes verstanden werden kann: "Glaubende nehmen nicht Gott wahr, sondern sich selbst und ihre Welt im Licht der Gegenwart Gottes, und das heißt: Sie nehmen die jeweilige Wirklichkeit Gottes wahr, also die Konkretion seines Wesens im Bezug auf das, dem seine Liebe nahe kommt und sich konkret präsentiert und erschließt."46 Gottes Gegenwart erschließt sich indirekt und aposteriorisch in einem "Prozeß des entdeckenden Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte und der mit dieser verwobenen Lebensgeschichten anderer, die als Feld des Handelns Gottes wahrgenommen werden."47 Dieser erschließende Prozess lässt sich als eine eigene Form von Wahrnehmung beschreiben. Denn wenn es wahr ist, was Christen glauben, nämlich dass Gott als schöpferische Liebe gegenwärtig ist, dann erschöpft sich die gläubige Wahrnehmung der Gegenwart Gottes nicht in einer religiösen Interpretation weltlicher Faktizität. "Nimmt man aber wirklich wahr und meint nicht nur, etwas wahrzunehmen, verändert sich das Leben durch das, was man wahrnimmt, und nicht nur dadurch, daß man wahrnimmt oder etwas wahrzunehmen meint."48 Wahrnehmung verstanden als Grundvollzug des Lebens unterscheidet sich dadurch von Imagination, dass das Wahrgenommene vom Vollzug des Wahrnehmens unterscheidbar bleibt. Die Genauigkeit der Wahrnehmung hängt von der Bereitschaft ab, sich immer wieder neu vom Wahrzunehmenden korrigieren und verändern zu lassen.49

2.2 Mystik als unmittelbare Wahrnehmung
von Gottes Gegenwart?

Versteht man auf diese Weise Glauben als indirekte und durch meine Selbst- und Weltwahrnehmung vermittelte Wahrnehmung von Gottes Gegenwart, so liegt es nahe, im Unterschied dazu die mystische Erfahrung als direkte und unmittelbare Wahrnehmung der Gegenwart Gottes zu verstehen, als eine Präsenz, die dann aufgeht, wenn die gewohnten Formen der Wahrnehmung überstiegen werden, wenn einem in einem ekstatischen Erleben Hören und Sehen vergehen.

So sieht es beispielsweise Bernard McGinn in der Einleitung zu seiner mehrbändigen Geschichte der abendländischen Mystik. Mystische Erfahrungen, so meint er, unterscheiden sich durch eine "subjektiv wie objektiv direktere, bisweilen sogar unmittelbare Erfahrung göttlicher Gegenwart" radikal vom "Innewerden Gottes in der üblichen religiösen Praxis von Gebet, Sakramenten und anderen Vollzügen".50 Dass mystische Erfahrungen Zeichen für eine größere Gottunmittelbarkeit in einem objektiven Sinne darstellen, ist jedoch fraglich.51 Zum einen deswegen, weil die Vorstellung, der auf vermittelnde Zeichen angewiesene Glaube könne durch eine unmittelbare Schau des Bezeichneten überstiegen werden, Glauben als eine primär epistemische Relation missversteht, der die Evidenz unmittelbarer Einsichtigkeit fehlt. Als gottgewirkte und den Menschen heiligende Beziehung zu Gott ist aber Glaube selber schon (und nicht erst die mystische Entrückung) die inchoatio der glückseligen Schau, die in statu viae größtmögliche Gottunmittelbarkeit. Zum anderen ist unschwer zu erkennen, dass hinter der Rede von einer objektiv größeren Unmittelbarkeit eine neuplatonisch geprägte und aus heutiger Perspektive zu problematisierende Anthropologie und Erkenntnistheorie steht, nach der das Geistige im Menschen dadurch zur Vereinigung mit dem Göttlichen findet, dass es Sinnlichkeit und Imagination überschreitet.

McGinns Kennzeichnung der mystischen Erfahrung als einer direkten und unmittelbaren Wahrnehmung der Gegenwart Gottes muss deshalb insofern präzisiert werden, als es sich lediglich um eine Differenz in der Vollzugsperspektive der Erlebenden handeln kann. Der in sein kontemplatives Gebet Versunkene verliert die selbstreflexive Distanz und nimmt nicht mehr wahr, dass er betet und dass er betet.52 Zum mystischen Erleben gehört deshalb ein Unmittelbarkeitsempfinden, das jedoch nicht als interpretationsfreie innere Wahrnehmung missverstanden werden darf, sondern ein komplexes Interpretations- und Deutungsgeschehen darstellt, das den in ihrem Erleben aufgehenden Kontemplativen in actu jedoch nicht als solches bewusst wird.53 Dass es ohne Vor- und Nachbereitung kein Bewusstsein von der Gegenwart Gottes gibt, wird denn auch von Bernard McGinn zugestanden.54 Auch für die mystische Hochzeit gilt, dass sie einer langen Vorbereitung bedarf, nur kurz dauert und danach vertieft und bewährt werden möchte: "Rara hora et parva mora."55

Ihre horizontverwandelnde Qualität teilen mystische Erfahrungen mit Bekehrungserfahrungen. Doch während bei mystischem Erleben, das den Lebenszusammenhang radikal und flüchtig zugleich unterbricht und nicht notwendigerweise einen nachhaltigen Horizontwechsel bewirken muss, bei aller Kontinuität der Akzent auf der Diskontinuität liegt, so ist die Bekehrung durch eine einmalige Horizonteröffnung gekennzeichnet, die bei aller Diskontinuität den Beginn einer neuen Kontinuität darstellt. Ungeachtet der flüchtigen Erlebnisintensität, die das Zum-Glauben-Kommen manchmal begleitet, offenbart sich hier die Gegenwart Gottes als eine, die sich nicht sogleich wieder entzieht, sondern dauernde Nähe verspricht.

2.3 Gottes Gegenwart und die neue Zeit des Glaubens

Die Wahrnehmung von Gottes Gegenwart verändert das Leben und das Zeiterleben der Wahrnehmenden und qualifiziert beides neu. Damit wird zunächst einmal der Umschwung markiert zwischen einem alten vergangenen Leben, in dem man Gottes Gegenwart nicht erkannte und sich nicht von ihr bestimmen ließ, und dem neuen gegenwärtigen Leben coram Deo. Wäre dieses Neusein jedoch nur auf ein lebensgeschichtliches Ereignis bzw. den aktuellen Vollzug der Taufe bezogen, dann würde es im Laufe der Jahre den Glanz des Neuen einbüßen. Bleibend neu ist die Zeit des Glaubens darum nur auf Grund des erneuernden Wirkens Gottes, dessen Treue darin besteht, sich den Glaubenden immer wieder neu zu vergegenwärtigen und so zu verhindern, dass sie in ihr altes Leben zurückfallen, das auch im neuen als vergangenes und als immer wieder auszuschließende Möglichkeit gegenwärtig bleibt.

Auf diese Weise ist die neue Zeit des Glaubens zugleich geprägt von Zeitbefristung und Zeitgewährung. Während nämlich, biblisch gesprochen, die Macht des alten Äons radikal befristet wird, erfahren sich Glaubende als Menschen, denen sich aller Befristung zum Trotz Gegenwart neu erschließt.56 Deshalb ist die apokalyptische oder augustinische Tendenz, die auf ihr nahes oder fernes Ende zulaufende Geschichts- und Weltzeit mit dem alten Äon zu identifizieren, ebenso problematisch wie die moderne Gleichsetzung der geschichtlichen Neuzeit mit der neuen Zeit Gottes. Alt und von Gott zum Vergehen bestimmt ist nicht die Lebens- und Weltzeit an sich, sondern die "Irre der menschlichen Zeitbeherrschung"57, die ausweglose Verzweiflung des alten Adams und der Terror des Todes (vgl. Hebr 2,14 f.). Neu und zukunftsträchtig ist nicht das geschichtsmächtige Wirken des Menschen, sondern das bleibend neue und gnadenhafte Entgegenkommen Gottes und das dadurch geweckte und inspirierte Leben.

Die gläubige Erfahrung, Zeit für ein neues Lebens eingeräumt zu bekommen, entfaltet dort ihr kritisches Potential, wo sie Alternativen zu erschließen vermag zur technisch-industriell bedingten und scheinbar unaufhaltsamen geschichtszeitlichen Beschleunigung58 und zu gnostisierenden Entschleunigungs- und Demobilisierungsversuchen.59 Denn sollte die Diagnose stimmen, daß uns durch die neuzeitliche Fixierung auf die Zukunft die Gegenwart abhanden gekommen ist und uns zwischen "dem bisherigen Noch-Nicht und dem bevorstehenden Nicht-Mehr [...] nur das unglückliche Bewußtsein" bleibt, "immer zur Unzeit gelebt zu haben" (kommen wir doch "zu spät fürs erste Paradies, zu früh für das zweite"60), so ist es dennoch fraglich, ob das von Peter Sloterdijk empfohlene "Sein als Sein-zur-Ruhe-in-der-Bewegung"61 eine wirkliche Alternative oder aber lediglich eine Variante der mobilisierenden Ontologie des Noch-Nicht darstellt. Wird doch hier eurotaoistisch eine fernöstliche Fremde ersehnt, die nie Gegenwart werden wird. Anders als ein solcher "Geist des Weltbürgertums", der beansprucht, "als aufgeklärter Akosmismus über sich ins klare" zu kommen, und mit "authentischer Mystik" identifiziert wird,62 bezieht sich der christliche Glaube auf die geschichtswirksame Gegenwart Gottes, die in Gegenstellung zum untergründig wirksamen Großmythos einer "evolutionistisch entfristete[n] Zeit"63 lebenszeitlich befristete Gegenwart erschließt und in wenig aussichtsreichen Umständen eine tätige Gelassenheit freisetzt, die nicht verlorengibt, was ihr geschichtlich aufgegeben wurde (2Kor 4,8 ff.). Wenn der Glaubende auch an der Schrumpfung der Gegenwart teilhat, die sich die mobile Gesellschaft durch temporale "Innovationsverdichtung in wissenschaftlichen und technischen, in kulturellen und politischen Prozessen"64 bzw. durch den Versuch einhandelt, die Kürze des Lebens durch Beschleunigung des Erlebens wettzumachen, so lebt er doch zugleich in einer anders bestimmten Gegenwart, die sich zwischen dem vergangenen alten Leben und der Hoffnung auf den endgültigen Durchbruch des neuen aufspannt. Diese eschatologische Neubestimmung der Gegenwart bringt ihre Spannungen nicht zum Verschwinden, sondern ans Licht, indem sie auf Grund der Kontrast erzeugenden und Handlungsspielräume erschließenden Zeitgewährung konkret fragen lässt, "wer wen oder was, wo und warum beschleunigt - oder verzögert"65 und wer unter dieser Beschleunigung oder Verzögerung leidet oder gar durch sie zu Tode kommt.

Das durch den Schöpfungs- und Erlösungsglauben geschärfte Kontingenzbewusstsein, dass die Welt nicht sein müsste und nicht so sein müsste, wie sie ist, dass die "Zeit kurz ist [...] und die Gestalt dieser Welt vergeht" (1Kor 7,29.31), führt nicht notwendigerweise zu einer Entwertung des irdisch Vergänglichen oder zu einer apokalyptischen Abbruchsehnsucht, die im "Sog des Endgültigen [...] alles unwichtig werden [lässt], was als Unterscheidung an der Gegenwart zu treffen wäre."66 Eine solche Vergleichgültigung des Vorläufigen und Befristeten kann als religiöse Variante der menschlichen Versuchung gesehen werden, seine Vergänglichkeit imaginativ zu überspielen. Als eine von der verborgenen Gegenwart Gottes erfüllte hat die befristete Gegenwart des Menschen eine eigene Dignität. Während sie ihre Fülle dem verbirgt, der ungeduldig über sie hinausdrängt, offenbart sie sich der Kontemplation des Glaubens als heilsgeschichtlich qualifizierte Stunde, die bei aller Offenheit für das noch Ausstehende Anfang, Mitte und Ende in sich trägt.

2.4 Die sakramentale Selbstvergegenwärtigung Gottes

Bevor die Linie von der glaubenden Wahrnehmung der Gegenwart Gottes zu deren mystischen Intensivierung ausgezogen werden soll, drängt sich als Zwischenschritt ein Blick auf die liturgische Gegenwartserfahrung auf, in der ähnlich wie in der mystischen Erfahrung die intensivierte Ausrichtung auf die Gegenwart Gottes mit einer Veränderung des Zeiterlebens einhergeht. Die Liturgie zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass sie die Glaubenden in die Gegenwart Gottes und in die Gegenwärtigkeit des Heils führt, zum anderen ist sie als Feier eine herausgehobene Stunde, in der sich die lebenszeitliche Gegenwart der Glaubenden verdichtet. Hinsichtlich des ersten Aspektes, der Gegenwart Gottes als Wirklichkeit des Heils, besteht die theologische Herausforderung darin, dass hier nicht nur die Differenz zwischen Gottes Allgegenwart und seiner inhabitatio gedacht werden muss, sondern auch diejenige zwischen verschiedenen Weisen der besonderen Einwohnung, nämlich, um eine Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils aufzunehmen, zwischen der stets wirksamen Gegenwart des Mysteriums Christi im Leben der Glaubenden und der besonderen Weise seiner Vergegenwärtigung in den liturgischen Feiern.67

Ein erster, für sich allein genommen allerdings noch unzureichender Verstehenszugang ist es, die liturgische Vergegenwärtigung des Heilsgeheimnisses als dadurch ausgezeichnet zu sehen, dass dieses hier, im Unterschied zu seiner mehr verborgenen Wirksamkeit im Alltag der Glaubenden, zu einer symbolisch verdichteten Ausdrücklichkeit findet. Doch Sakramente vergegenwärtigen und bezeichnen nicht nur eine Heilswirklichkeit, die unausdrücklich schon da ist, sondern sie sind vor allem auch Ereignisse, in denen sich durch Gottes je neue und situativ-konkrete Selbstvergegenwärtigung Heil verwirklicht und neues Leben eröffnet.68 Wer sich glaubend und mitfeiernd auf die sakramentale Handlung einlässt, die als kirchlich vollzogene an ihm geschieht, dem erschließt sich die Gegenwart Gottes als Wirklichkeit, die ihn läutert und erleuchtet, die ihn salbt und sich ihm schenkt, die ihn aus seiner Einsamkeit herausreißt und ihn in eine Gemeinschaft hineinführt. Gott vergegenwärtigt sich in den sakramentalen Vollzügen, indem er Menschen in seine Gegenwart hineinnimmt, sie neu lokalisiert - paulinisch: in Christus.

Als "stille Vorwegnahme einer im Schweigen der Zukunft leuchtenden Welt"69 (F. Rosenzweig) verwandelt die Liturgie die Gegenwart derjenigen, die sie mitvollziehen und sich in die Gegenwart Gottes geführt erfahren. In der Liturgie verdichtet sich nicht nur die Gegenwart vorübergehend zum nunc stans, sondern es verknüpfen sich lebenszeitliche Orientierungen mit heilsgeschichtlichen Bezügen. Die Feier des Glaubensgeheimnisses, bei der das Gedächtnis an den Ursprung der Erlösung und die hoffende Erwartung der Vollendung erneuert wird, relativiert die lebensweltliche Gegenwart mit ihrem weltlichen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont und bestimmt sie eschatologisch neu. Dass Gott Zeit zum Leben, zur Umkehr und zur Glaubensvertiefung schenkt, kommt in der liturgischen Zeitgestaltung zum Ausdruck, die nicht nur wie jedes Fest ein "Moratorium des Alltags"70 bewirkt, sondern die Feiernden neu lokalisiert und so "aus der Vielfalt der Zeitbezüge für die Zeit [sammelt], die Gott für uns hat"71, die er als "Gastgeber und Gabe der Eucharistie"72 uns schenkt. Indem sie die Feiernden heilsgeschichtlich verortet, enthebt die Liturgie sie nicht der Zeit, sondern nimmt sie als geschichtliche Wesen in seine Heilszeit hinein: "Ohne Gegenwart des Heils wäre die Feier der Liturgie leer, ohne Rettung des Vergangenen kraftlos, ohne Bezug auf die Zukunft bar der Verheißung."73

Die institutionelle Gestalt, die Sakramente zu "verlässlichen Orten der Gottesbegegnung"74 werden lässt, bringt es mit sich, dass sie auch die Unverlässlichkeit und Begrenztheit der menschlichen Sammlungsbereitschaft ans Licht bringen - und umfangen. Das unterscheidet die sakramentale Verdichtung der Gegenwart Gottes auch von der mystisch intensivierten Gegenwartserfahrung. Der sakramentale Vollzug lebt zwar von der actuosa participatio (DH 4014) der Feiernden, doch macht es ein wesentliches Moment aus, dass er durch seine objektive Gestalt in großem Maße unabhängig ist von der jeweiligen Verfassung der Teilnehmenden. Die Verlässlichkeit der sakramentalen Selbstvergegenwärtigung Gottes erweist sich bekanntlich gerade in Grenzsituationen, in denen einem die innere Sammlung und der aktive Selbstausdruck nur noch beschränkt möglich ist und sich die Unabhängigkeit des gnadenhaften Heilswirkens Gottes von meiner Leistungskraft in der Erfahrung offenbart, durch einen gemeinschaftlich getragenen und kirchlich geordneten Vollzug in Gottes Gegenwart hineingestellt zu werden.

3. Mystische Intensivierungen

3.1 Kontemplatives Verkosten und mystische Intensivierung der Gegenwartserfahrung des Glaubens

Das "An-denken und Hin-denken des Herzens auf jenen Punkt, wo die ewige Liebe einbricht in die Zeit und die Zeit aufgebrochen ist in die ewige Liebe", kann nach Hans Urs von Balthasar niemand "während der Gemeindefeier voll realisieren. Er tritt vor und empfängt das Brot und vielleicht den Wein, er schluckt und geht an seinen Platz zurück, und nach fünf Minuten verläßt er den Kirchenraum."75 Die aus dem eucharistischen Vollzug hervorgehende Kontemplation sei der "Versuch, geistig zu realisieren, was ihm sakramental zuteil geworden ist. Geistig zu absorbieren und zu verdauen, was er materiell geschluckt hat." Wer versucht, "den Akt der Kontemplation zu setzen, dem wird mit der Zeit so etwas wie der Zustand der Kontemplation geschenkt. Eine Art ruhender Orgelpunkt, der unter der wirren Melodie seiner Alltagsgeschäfte sich durchhält und, wenn einmal eine kurze Pause eintritt, sich hörbar macht."76 Das kontemplierende Verkosten entfaltet die sakramental-verdichtete eucharistische Feier, indem sie diese mit dem alltäglichen Leben verknüpft und dem punktuell Erlebten auf diese Weise Dauer schenkt. Diese kontemplative, den Alltag durchwirkende Präsenzerfahrung Gottes kann nochmals unterschieden werden von einer mystisch intensivierten Präsenzerfahrung, die mit einer radikalen Unterbrechung des gewohnten Lebensvollzugs verbunden ist. Auch sie kann ihren Ausgang nehmen in der eucharistischen Vergegenwärtigung Gottes, wie das folgende Zeugnis aus dem Tagebuch der Lucie Christine zeigt:

9. März 1882: "Als ich vom Empfang der heiligen Kommunion zurückkam und auf meinem Betstuhl kniete, erschien mir plötzlich in großer Majestät die anbetungswürdige Gestalt des Herrn und ich verlor vollkommen das Bewußtsein von mir selbst und von allem übrigen. Ich sah seine heilige Gestalt mit jenem Lichtgewand umhüllt, das ich schon einmal flüchtig geschaut hatte. [...] Der Blick des Herrn erstrahlte in einem Glanz, der alles Natürliche übertraf. Von seiner übergewaltigen Majestät wäre ich von Schrecken gepackt worden, hätte der gütige Meister meine Seele nicht in unsagbarer Liebesentzückung an sich gezogen."77

Diese mystische Schau der Gegenwart des Auferstandenen, die nur solange dauert, "als ein Blitz zuckt"78, ist von einer solchen Intensität, dass die Seherin vorübergehend die sinnliche Wahrnehmung verliert. In die Herrlichkeit Gottes getaucht, vergehen ihr für einen kurzen Moment Hören und Sehen. Diese entrückende Intensität, aber auch die damit einhergehende Kürze unterscheiden solche mystischen Erfahrungen der Gegenwart Gottes sowohl von dem oben beschriebenen Zustand der Kontemplation als auch von liturgischen Vollzügen. Denn während die Liturgie einen Raum der Präsenz eröffnet, indem sie eine gegenwartskonstituierende Vergangenheit erinnert und in gläubiger Hoffnung einen Erwartungshorizont aufspannt, zeichnet sich die mystische Präsenzerfahrung gerade durch eine punktuelle Implosion aller Horizonte aus.79 Als punktuelle Durchkreuzungen der bisherigen Lebenserfahrung sind mystische Erfahrungen oft schwer integrierbar und können jene, denen sie widerfahren, ein Leben lang herausfordern und orientieren.80 Zudem intensiviert das mystische Erleben der Gegenwart Gottes, indem sie Geist und Sinne in eine dunkle Nacht taucht, auch die Erfahrung der Abwesenheit Gottes.

3.2 Mystische Intensivierung der Absenzerfahrung des Glaubens

Glaubende erfahren Gottes Gegenwart im Modus einer bestimmten Verborgenheit. Doch wie Gott sich auf vielfältige Weise vergegenwärtigt, so erleben Menschen auch seine Verborgenheit vielgestaltig. Dass Gottes Verborgenheit im Grauen der Kriege anders erlebt wird als in der Schönheit seiner Schöpfung oder in der eucharistischen Feier, bedarf keiner Erläuterung. Weniger selbstverständlich ist es, dass die Präsenz- und die Absenzerfahrungen in einem Zusammenhang stehen. Wer die Verborgenheit Gottes in den sakramentalen Zeichen glaubend wahrnimmt und sich davon bestimmen lässt, dem tritt im Kontrast zur Gegenwart des Heils auch die Gegenwart des Unheils deutlicher vor Augen.81 Entsprechend bringt die mystische Intensivierung der gläubigen Wahrnehmung der Gegenwart Gottes es mit sich, dass sich auch die Erfahrung der Verborgenheit Gottes bzw. der für Gottes Gegenwart verschlossenen Welt intensiviert. Zur mystischen Entrückung gehört das Zurückgeworfensein in das vom alten Adam geprägte Selbst,82 die Arbeit der Nacht (Mt 14,22 ff. und Lk 5,1 ff.)83 und die Suche nach dem in einer nächtlich-labyrinthischen Welt verschwundenen Bräutigam. Beispielhaft lässt sich diese Dialektik von Präsenz- und Absenzerfahrung, von Trost und Anfechtung bei Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Johannes vom Kreuz studieren.84 Bei Tauler steht der mystische Jubilus nicht am Schluss, sondern am Anfang des geistlichen Weges, der nach solcher Frühlingsblüte unumgänglich in die Bedrängnis führt.85 Entsprechend initiiert bei Taulers Ordensbruder Seuse eine beglückend-leidvolle Entrückungserfahrung, die ihm als Achtzehnjährigem widerfährt, einen wechselvollen Glaubensweg: "Was er da sah und hörte, läßt sich nicht in Worte fassen. Es hatte weder Form noch bestimmte Art und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich."86 Die Rückkehr aus dieser Entrückung in ein überirdisches Glück ist jedoch mit großem Leiden verbunden: "Als er wieder zu sich zurückfand, war ihm wie einem Menschen, der aus einer anderen Welt gekommen ist. Sein Leib erfuhr in dem kurzen Augenblick einen solchen Schmerz, daß er glaubte, keinem Menschen könne, außer in der Todesstunde, in so kurzer Zeit solcher Schmerz widerfahren."87 Wie in Jesajas Berufungsvision (Jes 6,1 ff.) verbinden sich bei Seuse entrückende Schau und schmerzliche Selbstenthüllung. Was diese frühe Erfahrung kennzeichnet, der Wechsel zwischen Trost und Leiden, das formt sich in Seuses Passionsmystik zu einem mystagogischen Paradigma aus, dem eine reiche Wirkungsgeschichte beschieden ist.88

Bei Johannes vom Kreuz89 schließlich, der als Mitstreiter der teresianischen Ordensreform von den Mitbrüdern Verschleppung und Folter erleidet, wird die Erfahrung der dunklen Nacht zum zentralen mystagogischen Thema. Neben die in traditionell aszetischer Weise beschriebene Nacht der Sinne, den Kampf mit den Dämonen und Passionen, tritt bei Johannes mit der Nacht des Geistes eine existentielle Desorientierung und soziale Vereinsamung, in der das Gefühl der Abwesenheit Gottes den Glauben zu ersticken droht. Und doch ist diese geistige Nacht nach Johannes gerade Zeichen intensiver Begnadung: In göttliches Licht getaucht kann der Mensch "zunächst nur sehen [...], was ihm am nächsten oder, besser gesagt, in ihm ist, nämlich seine Finsternis und seine Armseligkeiten. Diese sieht er nun durch das Erbarmen Gottes, während er sie vorher nicht gesehen hat, weil dieses übernatürliche Licht nicht in ihn hineinschien."90 Die Mystagogie des Johannes vom Kreuz konzentriert sich darauf, diejenigen, die diese dunklen Nächte durchqueren und unter dem Empfinden leiden, von Gott verlassen zu sein, zur kontrafaktischen Wahrnehmung der Gegenwart Gottes hinzuführen.

3.3 Gottes verborgene Gegenwart in der Gegenwart der Glaubenden

Mehr noch als mystische Präsenzerfahrungen verdeutlichen die (post-)mystischen Absenzerfahrungen die Differenzstruktur christlicher Wirklichkeitserfahrung. Christen leben in der Grundspannung zwischen der glaubenden Bezogenheit auf die sich mitteilende Gegenwart Gottes und der Erfahrung der Wirklichkeit der Welt. Anders als in der mystischen Präsenzerfahrung, in der diese Spannung durch die Ausblendung des Weltbezugs für eine kurze Zeitspanne aufgehoben wird, tritt in der gewöhnlichen Glaubenserfahrung, die als Erfahrung mit der Erfahrung immer auch Selbst- und Welterfahrung einschließt, diese Differenzstruktur deutlich hervor.91 Je nach Art der in den Horizont des Glaubens rückenden Welterfahrungen wird diese Differenz stärker als Zusammenklang oder als Dissonanz erlebt.92

Im Hinblick auf das hier untersuchte Verhältnis der Wahrnehmung der Gegenwart Gottes zu glücklich intensiviertem Präsenzerleben bedeutet das, dass es sich bei Letzterem um einen Wirklichkeitsbezug handelt, der zu der glaubenden Bezogenheit auf Gottes Gegenwart in einem Förderungsverhältnis steht. Dem erfüllten Augenblick, der die "Herrlichkeit des Endlichen" (G. Haeffner) aufleuchten lässt, wohnt eine besondere Transparenz inne für die Herrlichkeit und die Gegenwart Gottes. Ebenso verändert sich bei denjenigen, die sich von der Gegenwart Gottes berührt erfahren, das Zeitempfinden, indem sie von der Zerstreutheit in eine immer intensivere Sammlung geführt werden, welche die Zeit und zeitliche Sorgen vergessen lässt (Lk 10,38 ff.). Während mystische Erfahrungen außerordentliche Formen einer solchen Intensivierung darstellen, so lassen sich die Sakramente als die "verlässlichen Orte der Gottesbegegnung" (E.-M. Faber) verstehen, wo sich in ausdrücklichen Zeichenhandlungen der Zusammenklang von Glaubens-, Selbst- und Welterfahrung verdichten kann.

Da sich, analog zu mystischem Erleben, nach einer solchen glückhaften Präsenz in der Gegenwart Gottes die Spannung zwischen Gottbezogenheit und Weltwirklichkeit neu und mit gesteigerter Prägnanz einstellt, enthebt solches Erleben Glaubende nicht der Aufgabe, diese Spannung zu gestalten und zu erleiden: als Leid überwindendes Engagement und als Ringen darum, in aller Bedrängnis nicht aus der glaubenden Bezogenheit auf die Gegenwart Gottes herauszufallen. Als Zeit der Bedrängnis trägt die lebens- und geschichtszeitliche Gegenwart des Glaubens das Signum des Kreuzes. Sie ist dadurch aber auch geprägt von einer Hoffnung, die das spannungsvolle Miteinander von Gottes- und Welterfahrung durchschaut als die Gleichzeitigkeit einer vergehenden und einer neuen Zeit, nämlich einerseits der alt gewordenen und dennoch nicht vergehen wollenden Zeit menschlicher Selbstbezogenheit, andererseits aber der eschatologisch neuen Zeit Gottes, die als letztgültige Wirklichkeit den Absolutismus des Faktischen durchbricht und als wirksame Gegenwart neue Anfänge und unverhoffte Ausgänge erschließt.

Glauben hieße dann, als bereits gegenwärtig wahrzunehmen, was Zukunft hat93 und uns aus einem ins vergehende Alte verstrickten Leben in eine für liebende Hingabe offene Gegenwart führt. Denn Liebe braucht Zeit und Gegenwärtigkeit für die andere Gegenwart des Anderen.94 An die Stelle der angstvoll-begehrlichen Prospektivität, durch die man sich und andere in Zeitnot bringt und die eigene und meist auch fremde Lebenszeit nutzlos verschlingt,95 tritt dort, wo die verborgene Gegenwart Gottes lebensbestimmend wird, eine hoffende Gelassenheit, die im Fragment des Alltags den Anbruch der messianischen Zeit wahrzunehmen vermag. Denn das Evangelium von der Nähe Gottes, das die Gegenwart vom Druck der Sorge um die eigene Zukunft entlastet, eröffnet auch eine neue, nicht an "Fristen und Zeiten" (Apg 1,7) gebundene Prospektivität, die mehr erhofft, als die bisherige Weltgeschichte verspricht. Harmlos tönt das nur, wenn man vergisst, dass mit der zeitgewährenden Gelassenheit des Glaubens auch eine eigene Form der zeitlichen Bedrängnis verbunden ist. Wurde doch die Geschichte vom zeitverschenkenden Samariter von einem erzählt, dem nur noch wenig Zeit gewährt war und den man in großer Hast - "Ja nicht am Fest!" (Mt 26,5) - zu Tode brachte.

Summary

Mystical religious experiences can be understood as experiences of presence in a dual meaning. In terms of content, they are experiences of the presence of God. In terms of form, however, they are viewed as an enhanced and simultaneously fleeting experience of presence. In the first case, "presence" denotes a consciously perceived relationship, whereas in the second it refers to a specific quality of the experience of time and self. The article examines the relationship existing between presence as a specific form of experience, the faithful consciousness of the presence of God and mystical experience. It presents the thesis that in mystical faith experiences both the consciousness of the hidden presence of God, which is characteristic of Christian faith practice, and the experience of fulfilled presence are intensified.

Fussnoten:

1) Vgl. J. Henning, Art. Gegenwart, in: HWP 3 (1974), 136.

2) So steht etwa bei W. James das zeitliche Moment im Vordergrund: die Flüchtigkeit ist in seiner Typologie eines der vier wesentlichen Kennzeichen mystischer Erfahrung, vgl. ders., Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Frankfurt a. M. 1997, 385. Der Kirchenhistoriker B. McGinn betont dagegen den relationalen Aspekt, vgl. ders., Die Mystik im Abendland. Bd. 1: Ursprünge. Freiburg i. Br. 1994, 16 ff.

3) Vgl. R. Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont - zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 42000, 349-375; G. Haeffner, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens. Stuttgart-Berlin-Köln 1996, 151-154.

4) Nur weniges von dem, was sich synchron zu meiner lebenszeitlichen Gegenwart ereignet, ist mir gegenwärtig und kann es werden. Was etwa im Bewusstsein meiner Gesprächspartner vorgeht, kann im Unterschied zu ihren wahrnehmbaren Äußerungen grundsätzlich nie zu meiner gegenwärtigen Gegenwart werden. Vgl. I. U. Dalferth, God's Real Presence, in: T. Koistinen/T. Lehtonen (Hrsg.), Philosophical Studies in Religion, Metaphysics, and Ethics (FS H. Kirjavainen), Helsinki 1997, 35-59, hier 46: "Presence cries out for a recipient, for whatever is present, is it to someone. This is not to say that to be present is to be present to consciousness, i.e. that only that of which I am aware is present. On the contrary, most of what is present I am not aware of, partly because of the crudeness of my perceptual capacities, and partly because what is present to me depends at least in part on a more or less arbitrary choice of a frame of reference in terms of which we decide and describe what is simultaneous with me."

5) Vgl. P. Bieri, Zeiterfahrung und Personalität, in: H. Burger (Hrsg.), Zeit, Natur und Mensch. Berlin 1986, 261-281, hier 266: "Um eine zeitliche Perspektive zu haben, aus der ein Ereignis zu einem Zeitpunkt als gegenwärtig erscheint, um zum nächsten Zeitpunkt als vergangen zu gelten, muß man sich selbst in ständig wechselnden zeitlichen Relationen zu den Ereignissen der Welt repräsentieren können. Man muß, mit anderen Worten, eine Form von Selbstbewußtsein haben"; M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a. M. 1991, 303 f.: "Der Vollzug der Zeit durch menschliche Subjekte ist zugleich deren Selbstvollzug. Hierin erblicke ich eines der tiefsten Geheimnisse humaner Existenz. [...] wir können menschlich, das heißt: als Subjekte, nur so existieren, daß wir die lineare Zeitordnung, die für sich genommen ein bloßes Nacheinander, bloß Sukzession ist, unaufhörlich in die Ordnung der Zeitdimensionen verwandeln."

6) Haeffner, In der Gegenwart leben (s. Anm. 3), 139.

7) Vgl. Seneca, De brevitate vitae / Von der Kürze des Lebens. Übers. u. hrsg. v. J. Feix. Stuttgart 1977, 23: "Ein jeder überstürzt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach der Zukunft, am Ekel vor der Gegenwart. [...] Daher brauchst du nicht zu glauben, jemand habe wegen seiner grauen Haare oder seiner Runzeln lange gelebt: jener hat nicht lange gelebt, sondern ist lange dagewesen."

8) R. Descartes, Die Leidenschaften der Seele. Hrsg. u. übers. v. K. Hammermacher. Hamburg 1984, 97 f. (2. Teil, Art. 57).

9) Ebd., 101 (Art. 61).

10) Ebd., 105 (Art. 67).

11) Vgl. die schöne Umschreibung bei F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1988, 322: "Das Neue, das wir suchen, muß ein Nunc stans sein, kein verfliegender also, sondern ein stehender Augenblick. Ein solches stehendes Jetzt heißt man zum Unterschied vom Augenblick: Stunde. Die Stunde, weil sie stehend ist, kann in sich selber schon die Vielfältigkeit des Alten und Neuen, den Reichtum der Augenblicke haben; ihr Ende kann wieder in ihren Anfang münden, weil sie eine Mitte, nein viele Augenblicke der Mitte zwischen ihrem Anfang und ihrem Ende hat."

12) Vgl. Haeffner, In der Gegenwart leben (s. Anm. 3), 134 f.: "Je mehr man engagiert lebt, desto weniger lebt man reflektiert [...]. Das gegenwärtige Leben hat sich [...], solange es in der Gegenwart bleibt, nicht unmittelbar als Objekt, sondern nur mittelbar in der Form des gegenwärtigen Anderen. So verweist der Vollzug der zeithaften Gegenwart auf den Aufenthalt beim präsenten Gegenüber, auf das Sein bei einem Anderen, wobei dieses Sein eine Art Außer-sich-Sein ist."

13) Vgl. Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt a. M. 1999, 102: "Der glückshafte Augenblick eröffnet eine Situation plötzlicher Erfüllung. Im Zustand einer unwillkürlichen Aufmerksamkeit wird die gegebene Situation in einer Gegenwärtigkeit erfahren, die der absichtsvoll gelenkten Aufmerksamkeit nicht zugänglich ist. Der erfüllte Augenblick, so kann man auch sagen, setzt die, die ihn erfahren, unwillkürlich für eine veränderte Wahrnehmung der Situation dieses Augenblicks frei. Diese Erfahrung der Freiheit ist eine doppelte: Sie ist Erfahrung einer Freiheit von vielem, das außerhalb des Augenblicks liegt, und sie ist Erfahrung der Freiheit für vieles, das sich in diesem Augenblick zeigt. Der erfüllte Augenblick ist daher stets der Augenblick einer überraschend veränderten Wirklichkeit der Situation, in der er sich ergibt."

14) Haeffner, In der Gegenwart leben (s. Anm. 3), 25.

15) Vgl. H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986, 114: "Heinrich Heine hat einmal gegen den Fortschrittsbegriff die humane Insistenz ausgesprochen, daß die Gegenwart ihren Wert behalte, und dass sie nicht bloß als Mittel gelte, und die Zukunft ihr Zweck sei."

16) Mit seiner Rede von der Zeit, die Herrschaft über den Menschen ausübe, bleibt Theunissen der metaphysischen Metachronik, die er überwinden will, verhaftet. Vgl. H. F. Fulda, Das Konzept einer entfremdend über uns herrschenden Zeit. Erwägungen, Einsprüche, Fragen, in: E. Angehrn u. a. (Hrsg.), Der Sinn der Zeit. Weilerswist 2002, 85-97; G. Haeffner, Leiden unter der Herrschaft der Zeit. Zu Michael Theunissens "Negativer Theologie der Zeit", in: ThPh 67 (1992), 570-577, hier 577: "Herrschaft der Zeit und Leiden scheinen [...] nicht analytisch zusammenzugehören. Richtig ist nur der synthetische Satz, daß der Leidende wohl mehr an die Zeit denkt als der Glückliche."

17) Theunissen, Negative Theologie der Zeit (s. Anm. 5), 62.

18) Vgl. ebd. 49: "Es erscheint mir sinnvoll, die verschiedenen Formen von Psychosen als ebensoviele Modi der Niederlage im Kampf mit der Zeit aufzufassen", wobei sich nach Theunissen durch die Betrachtung von solchen auffälligen Leiden "wie durch ein Vergrößerungsglas hindurch" das weniger auffällige Leiden an der Zeit zeige (ebd., 46).

19) Ebd., 224.

20) Vgl. ebd., 259: "Die Verdrängung der Gegenwart durch Vergangenes ist der zwanghafte Ersatz für dessen Vergegenwärtigung. Das Vergangene sucht heim, weil es nicht heimgeholt wird."

21) Ebd., 213.

22) Ebd., 294.

23) Ebd., 295.

24) Ebd., 358 und 360.

25) P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München-Wien 2001, 127 ff.

26) Bieri, Zeiterfahrung und Personalität (s. Anm. 5), 278.

27) Bieri, Das Handwerk der Freiheit (s. Anm. 25), 425.

28) Ebd., 426.

29) Oder wenigstens nicht nur: Die meisten Figuren der Unfreiheit, die Bieri analysiert, sind als Formen von Leidenschaft lesbar. Was Bieri Leidenschaft nennt, kommt der volitionalen Notwendigkeit H. Frankfurts nahe. Zum Verhältnis zu Frankfurt vgl. ebd., 437 f. und 445.

30) Haeffner, In der Gegenwart leben (s. Anm. 3), 145.

31) Ebd., 159.

32) Ebd., 148: "Die Aufmerksamkeit auf etwas, das präsent ist, kann sich nicht im bloßen Hinschauen, Hinhören erschöpfen; zu diesem Hinschauen, -hören usw. gehört normalerweise auch ein Versuch zu verstehen, wie die Teile des Erfassten sich zu einander und zum Ganzen verhalten, wie sie funktional einander zugeordnet sind usw. Gilt die Aufmerksamkeit jedoch der Präsenz selbst, hat die Interpretation keinen Platz mehr, weil die Präsenz selbst etwas Einfaches ist. [...] Diese erweist sich dabei nicht als ein gewissermaßen plattes Faktum, sondern als etwas, was sich dem Grade nach steigern kann, je nach dem Grade, in dem sich die meditative Aufmerksamkeit vertieft, was freilich nicht durch einen bloßen Willensentschluß möglich ist, sondern dadurch, daß man sich von der Präsenz selbst und ihrem immanenten Zug ins Mehr führen läßt."

33) Vgl. G. Haeffner, Können Präsenzerlebnisse als religiös bedeutsame Erfahrungen gelten? In: H. Eisenhofer-Halim (Hrsg.), Wandel zwischen den Welten (FS J. Laube). Frankfurt a. M. 2003, 251-269.

34) Ebd., 251.

35) Ebd., 256.

36) Ebd., 257.

37) Ebd., 265.

38) Ebd., 258.

39) Ebd., 264.

40) Ebd., 259.

41) Ebd., 267.

42) Vgl. dazu auch G. Haeffner, Erfahrung - Lebenserfahrung - religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung, in: ThPh 78 (2003), 161- 192.

43) Vgl. Dalferth, God's Real Presence (s. Anm. 4), 50: "To speak of God's presence is to characterise God's relation to us from within time but not to place Got in time [...]. God is neither past nor future, but eternally [...] present to us. For if God is present to anything at all, he is present to everything that is present; and if anything lives in the presence of God, then everything that exists exists in the presence of God." - Die folgenden Überlegungen knüpfen in manchem an Thesen an, die I. U. Dalferth im Rahmen der im Sommersemester 2003 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich gehaltenen Vorlesung Gottes Gegenwart vorgetragen hat.

44) Augustinus, Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes. Einführung und Übersetzung von E. Naab. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (De praesentia Dei liber): "Gott ist überall durch die Gegenwart seiner Gottheit, aber nicht überall durch die Gnade der Einwohnung. Wegen dieser Einwohnung, wo ohne Zweifel die Gnade seiner Liebe wahrgenommen wird, sagen wir nicht: Vater unser, der du bist überall, wiewohl auch dies wahr ist, sondern: Vater unser, der du bist im Himmel, damit wir mehr an seinen Tempel im Gebet denken. Dieser sollen wir selbst sein [...]. Wenn daher, wer überall ist, nicht in allen wohnt, wohnt er auch nicht in gleicher Weise in denen, in denen er wohnt" (229); "[...] wohnend aber wird er von den einen mehr, den anderen weniger erfaßt" (255); in der himmlischen Versammlung der Heiligen wohnt er vor allem deshalb, "weil dort vollkommen sein Wille geschieht durch den Gehorsam derer, in denen er wohnt" (259). Vgl. auch Thomas von Aquin STh I 8,3 und die prägnante Formulierung von I. U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie. Tübingen 1994, 171: "Gottes Nähe ist [...] als sein schöpferisches Mit-Sein, versöhnendes Für-Sein und vollendendes Da-Sein bei allem von ihm Verschiedenen zu denken."

45) I. U. Dalferth, Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 5.

46) Ebd., 33.

47) Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte (s. Anm. 44), 185 f.

48) Dalferth, Gedeutete Gegenwart (s. Anm. 45), 7.

49) Vgl. ebd., 7 f.: "Diese Veränderung vollzieht sich je nach Entwicklungsstand unserer Zeichen- und Sprachfähigkeit nicht zuletzt dadurch, daß wir das Wahrgenommene deuten und als etwas bestimmen. Und je deutlicher und detaillierter wir diese deutende Bestimmung und bestimmende Deutung vollziehen, desto klarer unterscheiden wir zwischen uns und dem Wahrgenommenen und desto mehr werden wir in die Lage versetzt, uns so oder anders zu dem von uns Wahrgenommenen verhalten zu können. All das gilt auch für die Wahrnehmung von Gottes Gegenwart."

50) McGinn, Die Mystik im Abendland (s. Anm. 2), 19 f. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit McGinns Mystikverständis findet sich in: S. Peng-Keller, Unmittelbare Gegenwart Gottes? Zur Theologie der Mystik bei Bernhard McGinn, in: FZPhTh 51 (2004), 253-276.

51) Vgl. auch K. Rahner, Mystische Erfahrung und mystische Theologie, in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. 12. Zürich-Einsiedeln-Köln 1975, 428-438, hier 432: "Die Vergöttlichung des Menschen, der Besitz der göttlichen ungeschaffenen Gnade, die das Christentum jedem gerechtfertigten Menschen zuspricht, lassen sich im eigentlichen Sinn nicht durch etwas überbieten, das nicht Glorie und unmittelbare Anschauung Gottes wäre; diese aber sind der letzten Vollendung des Menschen vorbehalten. Mystische Erfahrung kann den Bereich des Glaubens und der dort gegebenen Erfahrung des Geistes Gottes nicht hinter sich lassen mittels einer neuen Erfahrung, die nicht mehr Glaube wäre. Vielmehr ist Mystik nur innerhalb des normalen Rahmens von Gnade und Glaube zu konzipieren."

52) Vgl. J. Cassian, Conférences VIII-XVII. Introduction, texte latin, traduction et notes par E. Pichery. Paris 1958, 66 (Conl. 9,31): "[...] non est [...] perfecta oratio, in qua se monachus vel hoc ipsum quod orat intellegit."

53) Auch für mystisches Erleben gilt, dass es ein gegliedertes Ganzes ist, "das keine vorgängigen Teile kennt: Erleben-cum-Interpretationsspraxis." Vgl. M. Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hemeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie. Freiburg i. Br. 1999, 392 (vgl. auch ebd., 309 f.).

54) Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland (s. Anm. 2), 15.

55) Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum/Predigten über das Hohe Lied. Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von G. B. Winkler, Innsbruck 1994, 344 (Sermo 23,15).

56) Vgl. J. von Soosten, Arbeit am Dogma. Eine theologische Antwort auf Hans Blumenbergs "Arbeit am Mythos", in: O. Bayer (Hrsg.), Mythos und Religion: interdisziplinäre Aspekte. Stuttgart 1990, 95: "So wichtig es erscheint, die temporale Struktur der biblischen Erzählform in ihrer eschatologischen Bestimmtheit auszumachen, so sehr muß doch die Eigenart christlicher Eschatologie verfehlt werden, wird sie allein auf ihr negatives Moment der Zeitbefristung reduziert. [...] Denn eigentümlicherweise sagen die durch das eschatologische Denken charakterisierten Geschichten der Evangelien der Geschichte der Welt nicht nur ein Ende an, sondern sprechen in gleichem Maß ebenso von der Gewährung von Zeit. Ja, mehr noch: Das, was hier zu einem Ende gelangt, wird überhaupt erst einsehbar von dem her, was an neuer Zeit seinen Anfang nimmt." Vgl. auch M. Moxter, Gegenwart die sich nicht dehnt. Eine kritische Erinnerung an Bultmanns Zeitverständnis, in: D. Georgi/H.-G. Heimbrock/M. Moxter (Hrsg.), Religion und Gestaltung der Zeit. Kampen 1994, 108-122, hier 121: "Bultmanns Theologie schafft mit dem als Ruf zur Entscheidung interpretierten Evangelium Dringlichkeiten, die das Problem der Parusieverzögerung als Charakteristikum christlicher Zeiterfahrung auf eine Weise löst, die die Folgelasten des Zeitaufschubes einseitig verteilt: Gott bleibt in ihr der souveräne Herr der Zeit, nur gewährt er uns keine."

57) P. Eicher, Art. Zeit/Ewigkeit, in: NHThG Bd. 5 (1991), 300-326, hier 323.

58) Vgl. R. Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? In: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000, 150-176.

59) Vgl. z. B. P. Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a. M. 1989.

60) Ebd., 333.

61) Ebd., 93. Sloterdijk meint, dass "in der westlichen Hemisphäre eine eine nachchristliche Ära begonnen hat, die in den heiligen Schriften der jüdisch-christlichen Überlieferung unmöglich noch die Begriffe findet, die unsere Zeit zu einer kompetenten Selbstverständigung nötig hätte" (ebd., 87).

62) Ebd., 344.

63) J. B. Metz, Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus, in: O. Marquard (Hrsg.), Einheit und Vielheit. Hamburg 1990, 170-186, hier 170.

64) Vgl. H. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin-Heidelberg-New York 2003, 402.

65) Vgl. R. Koselleck, Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000, 177-202, hier 202.

66) H. Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum. Neukirchen-Vluyn 1993, 55; vgl. auch ebd., 69: "Wo die Gegenwart zu einer heillosen Zeit geworden ist, lebt man ständig auf dem Sprung, ihr zu entrinnen; man lebt im ständigen Exodus aus der Gegenwart, in der Sezession vom Jetzt."

67) Sacrosanctum Concilium Nr. 35 (DH 4035): Die Predigt sei "quasi annuntiatio mirabilium Dei in historia salutis seu mysterio Christi, quod in nobis praesens semper adest et operatur, praesertim in celebrationibus liturgicis". Vgl. auch Nr. 7 (DH 4007).

68) Vgl. Dalferth, God's Real Presence (s. Anm. 4), 58: "[...] why insist on Christ's real presence in the Eucharist? Because the Eucharist is not merely a memorial of events long since past or a sign of hope for events to come. Rather the symbolism of the Eucharist recalls particular events of the past in order to disclose a present reality: God here presents himself to us through the Spirit as the love which Christ has shown to be his real nature. [...] to insist on Christ's real presence in the Eucharist is to insist that God really is present here, and presents himself to us, as he really is: as self-giving love."

69) Rosenzweig, Stern der Erlösung (s. Anm. 11), 327.

70) Vgl. O. Marquard, Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes, in: Ders., Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien. Stuttgart 1994, 59-69.

71) H. Hoping, Gedenken und Erwarten. Zur Zeitstruktur christlicher Liturgie, in: LJ 50 (2000), 180-194, hier 184.

72) Ebd., 191.

73) J. Wohlmuth, Jesu Weg - unser Weg. Kleine mystagogische Christologie. Würzburg 1992, 83.

74) Vgl. E.-M. Faber, Einführung in die katholische Sakramentenlehre. Darmstadt 2002, 62.

75) H. U. von Balthasar, Klarstellungen. Zur Prüfung der Geister. Freiburg i. Br. 1971, 114.

76) Ebd., 115.

77) L. Christine, Geistliches Tagebuch. Mainz 31952, 53 f. Weiter Belege für mystische Erfahrungen im liturgischen Kontext finden sich bei Ch. Benke, Mystik und Liturgie, in: ZKTh 125 (2003), 444-473.

78) Ebd.

79) Vgl. R. Margreiter, Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung. Berlin 1997.

80) So entstand etwa das Book of Showings der Juliane von Norwich aus einer sich über zwei Jahrzehnte hinziehenden Meditation der Visionen, die ihr im Alter von 30 Jahren geschenkt wurden, während Ignatius von Loyola am Ende seines Lebens über die Erleuchtungserfahrung, die ihm 1522 oder 1523 am Cardoner geschenkt wurde, die folgenden Zeilen niederschreiben lässt: "[...] er empfing eine große Klarheit im Verstand, so daß ihm in der ganzen Folge seines Lebens bis über zweiundsechzig Jahre hinaus scheint: Wenn er alle Hilfen zusammenzähle, wie er sie von Gott erhalten habe, und alle Dinge, die er erkannt habe, selbst wenn er sie alle in eins zusammenbringe, habe er nicht so viel erlangt wie mit jenem Mal allein" (Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, Bd. 2. Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übers. v. P. Knauer. Würzburg 1998, 34; Bericht des Pilgers, Nr. 30).

81) Vgl. Dalferth, God's Real Presence (s. Anm. 4), 43 f.: "There is no experience of God's presence in this life that is not tinged by his absence. [...] Christians, in any case, hold fast to God's presence and for this reason can never rest content with the present state of the world. They suffer from God's absence just because they feel and believe his presence, and this is why they take the widespread sense of the absence of God to manifest the hidden presence of God rather than God's non-existence."

82) Vgl. z. B. Augustinus, De vera religione 21,113; Confessiones 7,10,16 und 10,40,65; Enarrationes in Psalmos 41,10; Sermo 52,16; De genesi ad litteram 12,31,59; De Trinitate 8,2,3.

83) Vgl. A. M. Haas, "Die Arbeit der Nacht". Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler, in: Ders., Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt a. M. 1996, 411-445, hier 420 f. und 439 f.

84) Vgl. auch Augustinus, Confessiones 7,17,23 und 10,49,65; Diadochus von Photike, Gespür für Gott. Hundert Kapitel über die christliche Vollkommenheit. Übers. v. K. S. Frank. Einsiedeln 1982, 105 ff. (Kap. 85ff.); Wolke des Nichtwissens Kap. 44, 69; Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate. Hrsg. u. übers. v. J. Quint. München 31969, 68 (Reden der Unterweisung, Kap. 11): "Du mußt ferner wissen, daß der gute Wille Gott gar nicht verlieren kann. Wohl aber vermißt ihn das Empfinden des Gemütes zuweilen und wähnt oft, Gott sei fortgegangen. Was sollst du dann tun? Genau dasselbe, was du tätest, wenn du im größten Trost wärest [...]. Es gibt keinen gleich guten Rat, Gott zu finden, als ihn dort zu finden, wo man ihn fahrenläßt."

85) Johannes Tauler, Predigten, Bd. I. Hrsg. v. G. Hofmann. Einsiedeln 31987, 303-306 (40. Predigt).

86) Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften. Hrsg. v. G. Hofmann. Zürich-Düsseldorf 1999, 40 (Vita 2).

87) Ebd., 41.

88) Vgl. A. M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik. Bern u. a. 1995.

89) Vgl. A. M. Haas, Die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes. Mystische Leiderfahrung nach Johannes vom Kreuz, in: Ders., Mystik als Aussage (s. Anm. 83), 446-464.

90) Johannes vom Kreuz, Die dunkle Nacht. Hrsg. u. übers. von U. Dobhan, E. Hense u. E. Peeters. Freiburg i. Br.-Basel-Wien 1995, 150 (2,13).

91) Dies kann als Fortbestimmung von 2Kor 5,6 f. und Hebr 11,1 verstanden werden. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa contra gentiles. Hrsg. u. übers. v. K. Allgaier. Bd. 3, Teil 1, 3. Buch (Kap. 1-83). Darmstadt 2001, 149 (40. Kap.): "Durch die Glaubenserkenntnis aber wird eine Glaubenssache dem Verstand nicht vollkommen vergegenwärtigt: denn der Glaube handelt von Abwesendem, nicht von Gegenwärtigem. Daher sagt Paulus 2Kor 5,6 f., daß wir, solange wir im Glauben wandeln, fern vom Herrn in der Fremde weilen. Dennoch wird Gott durch den Glauben dem Herzen gegenwärtig, da der Glaubende Gott willentlich zustimmt: dementsprechend heißt es Eph 3,17, daß Christus durch den Glauben in unseren [...] Herzen wohne."

92) Dafür finden sich vielfältige biblische Belege. So erlebte etwa Ezechiel die verborgene Gegenwart Gottes im ersten Tempel Jerusalems anders als danach im babylonischen Exil. So erlebte Jesus die Gegenwart seines himmlischen Vaters während des galiläischen Frühlings anders als im Garten Getsemani. Und so erlebte Paulus die Gegenwart Christi vor Damaskus anders als in der späteren apostolischen Bedrängnis.

93) In Anlehnung an Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. Anm. 66), 72.

94) Vgl. Theunissen, Negative Theologie der Zeit (s. Anm. 5), 361: "Die Präsenz, welche die Liebe präsentiert, ist notwendig auch zeitliche Gegenwart. Nur unter dieser Bedingung kann sie Offenheit für die Welt sein. Die ihr eigentümliche Dialektik von Zeit und Ewigkeit wird sogar am faßlichsten im Blick auf den schlichten Sachverhalt, daß lieben, neutestamentlich gedacht, wohl nicht zuletzt Zeit haben bedeutet. Ich kann mich auf den anderen nur einlassen, wenn ich mir Zeit nehme für ihn. Für ihn dasein heißt: handeln wie der barmherzige Samariter, heißt: nicht bloß die eine Meile mit ihm gehen, zu der er mich nötigt, sondern zwei (Mt 5,41). [...] Wer merkwürdigerweise keine Zeit hat, versinkt gerade im Strom der Zeit. Er muß sich dem Einen, das not tut, versagen, weil er seine Zeit für so vieles andere verbraucht, daß sie ihn verbraucht."

95) Vgl. Augustinus, Confessiones 9,4,10: "[...] devorans tempora et devoratus temporibus".