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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1103 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ballestrem, Monica Gräfin von

Titel/Untertitel:

Schreiben gegen das Überhören. Für eine plurale und basisorientierte Theologie und Praxis der Kirche.

Verlag:

Würzburg: Echter 2003. 582 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 54. Kart. Euro 32,80. ISBN 3-429-02499-4.

Rezensent:

Gottfried Orth

Wenn es Aufgabe kirchlicher Strukturen ist, einen Beitrag dazu zu leisten, Menschen ernst zu nehmen, Glaube und Leben zu verbinden und so auch Glaube und Hoffnung weiterzugeben (184), dann gilt es, "der Kompetenz möglichst vieler Raum zu geben und Verantwortung nach außen hin sichtbar zu dezentralisieren, um so Schritte zu einer gemeinsamen Verantwortung als Kirche zu ermöglichen" (225). Weiterhin ist dann entscheidend, "die Einbahnstraßen der Versorgung zu verlassen" (215), und es ist notwendig, praktisch-theologische Theorie und Ausbildung prinzipiell zu verändern, weg von "der Absicherung der eigenen Rolle und Machtposition" (209) und hin zur Ermöglichung von Begegnungs-, Wahrnehmungs- und Partizipationskompetenz.

Schritte auf diesem Weg der Veränderung kirchlichen Selbstverständnisses und seiner praktisch-theologischen Theoriebildung eröffnet diese Tübinger, von Ottmar Fuchs begleitete, katholisch-theologische und ökumenisch orientierte Dissertationsschrift. Sie ist ein Mammutwerk geworden: Doch, wo viel überhört wird, müssen viele und vieles neu ernst genommen werden (548). Schön beschreibt O. Fuchs in seinem Geleitwort das Ziel der Arbeit: "Ziel ist nicht nur, die eigene Praxis und Theologie, den eigenen Glauben und die eigene Rolle zu reflektieren, sondern diese Erfahrungen in die approximative Objektivierung sozialwissenschaftlicher Analyse wie auch theologischer Evaluation zu bringen und zu veröffentlichen. Ein pragmatisches Ziel dabei ist, sich mit dieser Reflexion an die Seite der Praktiker und Praktikerinnen zu stellen. Indem sie identifikationsfähig Probleme vergegenwärtigt, ermutigt die Autorin dazu, sich mit ihr auf den Weg der sozialen und theologischen Klärung der eigenen Situation und Rolle zu begeben. Vorwissenschaftlich reflektives Leben gelangt so in eine reflektierte Theologie, die an keiner Stelle das Leben vergisst." (13)

Zunächst nimmt die Vfn. eine dreifache praktisch-theologische Standortbestimmung vor, die den wissenschaftlichen Ausgangspunkt und die Optionen ihrer Arbeit markiert. Sie ist gekennzeichnet durch "Jesu praktische Reich-Gottes-Interpretation", durch Aspekte einer "Theologie der Beziehung" und durch die Wahrnehmung der Biographie als "Ort der Theologie". Die Aufgabe der Theologie bestimmt die Vfn. sodann als "intensive Wahrnehmung des Lebens und Zusammenlebens, das sich im Alltag von Menschen ereignet", weil "Rede von Gott nur möglich ist durch und in Beziehung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott" (102). Dieser praktisch-theologischen Aufgabenbestimmung haben sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethoden zu entsprechen, "die bei den Menschen als handelnden Subjekten ansetzen und nicht allein bei beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten ihres Handelns unter Ignorierung ihrer ausdrücklichen Intentionen als Handelnde" (ebd.). So schließen sich nun sozialwissenschaftliche methodische Klärungen (Bezug zur Theorie über soziale Wirklichkeit nach A. Schütz und Grounded Theory, B. G. Glaser und A. L. Strauss) an, mit denen die Vfn. einen sorgfältigen methodischen Rahmen ihrer Arbeit offen legt.

Der Hauptteil des Buches ist Praxiserfahrungen und ihrer Reflexion gewidmet: In wissenschaftseinbeziehender und wissenschaftsgeleiteter Perspektive geht die Vfn. Erfahrungen ihrer eigenen Biographie als wesentlichem Bestandteil des erkenntnisleitenden Interesses nach, um daran anschließend Elemente ihrer Berufsbiographie als Gemeindereferentin in einer Pfarrgemeinde zu berichten und zu reflektieren: Begegnungen, in denen viel überhört wird, Konflikte, die nicht ausgetragen werden, Aufbrüche, ihr Gelingen und ihre Schwierigkeiten kommen zur Sprache. Es sind meist keine Sensationsgeschichten, sondern Alltagserfahrungen, die viele aus der Gemeindepraxis kennen, in denen sich viele wiederfinden können. Eine zentrale Frage dabei ist die nach der Rolle der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Ermöglicht oder verhindert sie plurale und basisorientierte Praxis der Kirche? Korrespondiert sie einem Kirchen- und Sakramentsverständnis, das mehr dazu angetan ist, "hauptamtliche Rollen abzusichern und zu bestätigen", oder eröffnet und ermöglicht sie "Raum für Pluralität" (561)? Und welche Ängste oder Hoffnungen - offen oder verdeckt - spielen dabei eine wesentliche Rolle? Erzählung und Bericht, Selbstreflexion und interdisziplinäre wissenschaftliche Reflexion und theologische Deutung kommen hier in faszinierender Weise zusammen. Nicht eine Theorie oder ein Modell will die Vfn. weitergeben, sondern Erlebtes und Erfahrenes (vgl. 316), sozialwissenschaftlich aufgearbeitet und theologisch reflektiert, damit Leserinnen und Leser so eigene Kriterien für ihre Wahrnehmungen, Begegnungen und ihr wissenschaftliches praktisch-theologisches Arbeiten entdecken und sich erarbeiten können.

Die ausgebreitete Fülle der berichteten und reflektierten Erfahrungen wird sodann dreifach theologisch identifiziert und ausgewertet: zunächst im dogmatischen und liturgiewissenschaftlichen Zusammenhang der Eucharistie, dann im Kontext feministischer Theologie (der auch zuvor schon wesentliche Teile der Arbeit mitbestimmt hat) und schließlich in der sozialwissenschaftlichen und theologischen Frage nach "Struktur und Strukturwandel der Kirche, des Sakramentes für den mitgehenden Gott". Der innere Zusammenhang dieser auf den ersten Blick weit auseinander liegenden dreifachen theologischen Identifizierung und Auswertung liegt darin, dass "von der Praxis her gedacht weder unser Nachdenken über Eucharistie noch unsere Reflexion über die Stellung und Aufgabe der Frauen in feministischer Theologie an der Frage nach der Sozialgestalt der Kirche vorbeikommt" (369).

Systematisierend und mit praktischen Hinweisen verbunden folgen nun Schlussfolgerungen, die das eigene Resümee der Vfn. ebenso verdeutlichen, wie sie Vorschläge anbieten für den Umgang mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen und kirchlichen Situation. Abschließend in einem Anhang formuliert die Vfn. in Form einer handlungsorientierten Auswertung der praktischen Erfahrungen 31 Postulate "zur Arbeitsweise der Praktischen Theologie", "zur Ausbildung und Rolle der Hauptamtlichen für pastorales Handeln heute" und "zur Weise pastoralen Handelns in einer Kirche mit neuem Gesicht".

Wäre auch eine kürzende und straffende Überarbeitung der Dissertation für die Veröffentlichung angebracht gewesen, die sicherlich zu größerer Verbreitung geführt hätte, so schmälert diese Kritik nicht die Leistung dieser Arbeit, die ausgehend von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Wahrnehmungen von Kirche handlungsorientiert "Kirche vor Ort" (556) mit größtmöglicher und pluraler Beteiligung ermöglichen helfen will und gleichzeitig die Praktische Theologie auffordert, sich selbst erfahrungsorientiert "in einem lebendigen Austausch mit pastoraler Praxis" (559) zu situieren.