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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1099–1101

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schütz, Achim

Titel/Untertitel:

Phänomenologie der Glaubensgenese. Philosophisch-theologische Neufassung von Gang und Grund der analysis fidei.

Verlag:

Würzburg: Echter 2003. 467 S. gr.8 = Bonner Dogmatische Studien, 35. Kart. Euro 28,80. ISBN 3-429-02507-9.

Rezensent:

Martin Seils

Unter "analysis fidei" versteht man die im I. Vaticanum beschriebene und in der katholischen Fundamentaltheologie behandelte Auffassung, dass die Glaubenszustimmung des Menschen einerseits auf Grund übernatürlicher Offenbarung auf die Autorität des offenbarenden Gottes hin geschehe, andererseits jedoch die Glaubbarkeit der göttlichen Offenbarung auch auf Grund natürlicher Hinweise von der menschlichen Vernunft mit einer mindestens moralischen Gewissheit erkannt werden könne. Diese Auffassung wurde im 20. Jh. vielfachen interpretatorischen Bemühungen unterzogen. Gegenüber der Priorität des rationalen Erkennens in ihr hat man die personale Ganzheitlichkeit des Glaubensaktes hervorgehoben. Gegenüber der "extrinsezistischen" Glaubbarkeitsbegründung hat die Frage bewegt, ob nicht doch auch die natürliche "Glaubbarkeit" der Offenbarung bereits übernatürlich getragen sei. Dabei hat insbesondere der 1910 erschienene Essay des französischen Jesuiten Pierre Rousselot "Les yeux de la foi" (deutsch: "Die Augen des Glaubens", 1963, also erst nach über 50 Jahren) eine bestimmende Rolle gespielt. Rousselot tritt für die gänzlich übernatürliche Veranlassung des Glaubensaktes ein, meint aber, dass er synthetischen Charakter habe und dass sich also innerhalb des Glaubensaktes eine "reziproke Kausalität" der Einwirkung übernatürlicher Wahrheit und der Aufnahme natürlicher Zeichenhinweise ereigne.

Die Doktorarbeit von Achim Schütz teilt die Ansicht Rousselots und geht von ihr aus. Sie nimmt sich jedoch noch einmal der Problematik der nunmehr innerhalb der Synthesen des Glaubensaktes mitwirkenden Glaubbarkeitshinweise und damit der natürlich-genetischen Voraussetzungen der Glaubenszustimmung an. Traditionell waren das "Wunder und Weissagungen". Später waren es etwa der Vorschein göttlicher Herrlichkeit in geschichtsuniversalen Dimensionen oder die unablegbare transzendentale Verwiesenheit des Menschen auf das ihn umgebende göttliche Geheimnis. Sch. bringt hier - und das ist das Neue an seinem Entwurf - das Glaubensverständnis der neuzeitlichen Geistes- und Theologiegeschichte ein. Dabei weiß er sich von Hegels "Phänomenologie des Geistes" angeregt. Wie bei Hegel der absolute Geist sich geschichtlich erweist und entfaltet, so zeige und entfalte sich in der neuzeitlichen Philosophie- und Theologiegeschichte der Glaube. Gleichsam "makrokosmisch" lasse sich dabei eine geschichtliche "Phänomenologie der Glaubensgenese" aufweisen, die "mikrokosmisch" in der Genese jedes Glaubensaktes ihre Entsprechung habe. Sch. meint aber noch mehr: Er meint, dass das in der "Phänomenologie des Glaubens" geschichtlich vielfältig und reich aufscheinende Potential des Glaubens in der Synthese des Glaubensaktes zur Glaubbarkeit des Glaubens beitrage, vielleicht sogar: diese Glaubbarkeit zu erweisen im Stande sei.

Nach einer hinführenden Einleitung zum Problemen der Glaubensanalyse stellt Sch. zunächst das philosophische Glaubensverstehen bei Hegel, Schelling und Fichte, Kierkegaard, Heidegger und Jaspers dar, um dann die "Theologie des Glaubens" bei Guardini, Balthasar, Rahner, Jüngel und Rousselot vorzuführen. Zwischen den einzelnen Darstellungen gibt es zusammenfassende und überleitende "Intermezzi". Der Übergang von der Philosophie zur Theologie ist durch eine "Zwischenbilanz" begleitet. Das inhaltliche Fazit der Untersuchung wird durch den Aufweis von sich ergebenden "Phänomenologische[n] Grundkoordinaten des Glaubens" gezogen. Sie ergeben sich aus der "Grundspannung des Glaubens" als "Inhalt und Akt", aus dem "Glaube[n] als Gang", der "ein mehrdimensionaler Weg" ist, und aus dem "Grund des Glaubens": "Die Liebe Gottes". In einem "Epilog" werden unter Bezug auf die "sieben Worte" Jesu am Kreuz "sieben Worte über den Glauben" herausgestellt. Die "Zwischenbilanz" beim Übergang von der philosophiegeschichtlichen zur theologiegeschichtlichen Glaubensphänomenologie lautet: "Die beiden großen geistesgeschichtlichen Richtungen der Neuzeit, Idealismus und Existentialismus, werden durch den christlichen Glauben genetisch hervorgetrieben; in bzw. an ihnen spiegelt sich in der Folge phänomenologisch sein reiches Wesen" (235). Hinsichtlich der theologiegeschichtlichen Glaubensphänomenologie hebt Sch. zunächst die hier eingetretene Konzentration hervor, die "nicht wie bei Hegel in eine Aufhebung im reinen Begriff mündet, sondern zur Freilegung einiger Konstanten führt, die sich dauernd gültig durchtragen und den christlichen Glauben als solchen unumstößlich festschreiben" (398). Vom "christliche[n] Glaube[n]" selber heißt es zusammenfassend, dass "die Phänomenologie des Glaubens den Reichtum des Phänomens" erweist. "Dieser wird zum [natürlich] einsehbaren Grund der Glaubwürdigkeit: Nur Gott selbst kann eine systematisch derart relevante Erscheinung wie den christlichen Glauben hervorbringen" (402).

Es ist interessant und bewegend, wie hier versucht wird, die neuzeitliche Geistesgeschichte in den Zusammenhang der katholischen Glaubensanalytik hineinzuziehen. Das ist in der Tat so noch nicht unternommen worden. Wie auch immer es mit der möglichen Akzeptanz des Gesamtversuches stehen mag, so ist doch als bedeutsam hervorzuheben, dass Sch. - eigenartig von Hegel angeregt - es unternimmt, philosophische und theologische Glaubensverständnisse der Neuzeit auf ihre Bedeutung für den Nachweis der "Glaubbarkeit" des Glaubens hin zu untersuchen. Dies geschieht in einer zugewendeten, zunächst einmal hinhörenden und aufnehmen wollenden Weise. Sch. sucht nicht nur die Geschichte des Glaubensverstehens, sondern vor allem die Vielfalt und den Reichtum in ihr. Die einzelnen Darstellungen sind manchmal recht ausufernd, andererseits aber auch akzentuierend. Die Darstellungssprache ist - vielleicht von Balthasar, sicher aber auch von Rousselot angeregt - mit Licht- und Sichtmetaphern durchsetzt. Kierkegaard und Rahner werden kritischer bedacht als die anderen Autoren, was wohl an der Hegelkritik des einen und der Kantzugewandtheit des anderen liegen mag. Insgesamt liest man die Darstellungen mit Gewinn.

Nachfragen gibt es dennoch. Zwei davon sollen genannt sein. Die eine ist die nach der Auswahl. Sch. hat sie nur kurz mit Intuitionen begründet und dabei "bekannt, dass es vor allem Ahnungen waren, welche die Auswahl der Autoren vorantrieben ..." (51). Das reicht nicht. Einmal kann man eine "Phänomenologie der Glaubensgenese" kaum ohne ausreichende Begründung bloß auf die Neuzeit (Sch. meint sogar, es handele sich um die Nachneuzeit) beziehen. Zweitens wird ja aber auch nur ein Ausschnitt behandelt, nämlich Autoren aus der idealistischen und existentialistischen Philosophiegeschichte und einige aus der Theologiegeschichte des 20. Jh.s. Warum also, wenn schon, nicht auch James, Newman, Buber, Mouroux, Tillich und Ebeling? Und warum eigentlich nicht auch Feuerbach und Freud? Die "Phänomenologie" ist begrenzt. Dafür wünschte man sich eine methodische Begründung. Die andere Frage geht weiter. Kann man tatsächlich aus der geschichtlichen Vielfalt und dem geschichtlichen Reichtum des Glaubensverständnisses den "einsehbaren Grund der Glaubbarkeit" des Glaubens ableiten, auch wenn dies in die Synthesen des Glaubensvollzugs einbezogen sein sollte? Können also Vielfalt und Reichtum überzeugend begründende Kausalitäten in der "asymmetrischen Gegenseitigkeit von Natur und Gnade" (430) sein? Anders gewendet: Eignet geschichtlicher Quantität und Qualität eine in dieser Sache ausreichende Signifikanz? Oder wirkt hier unreflektiert doch auch Hegel mit der Vernunft in der Geschichte nach? Fragen sind vorhanden, die es nur zögernd erlauben, diese Neufassung der Glaubensanalytik für durchtragend zu halten. Doch eines ist ja richtig: Es musste einmal unternommen werden, geistesgeschichtliche Vollzüge auf ihre Bedeutung im Zusammenhang der Analytik des Glaubens hin zu untersuchen. Und deshalb bleibt, dass die Arbeit von Sch. einen interessanten und bewegenden Versuch im Feld der katholischen Fundamentaltheologie darstellt.