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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hünermann, Peter

Titel/Untertitel:

Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube - Überlieferung - Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2003. X, 318 S. gr.8. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-402-03300-3.

Rezensent:

Richard Schaeffler

Wer den Titel dieses Buches gelesen hat und dann mit der Lektüre beginnt, wird gleich zweimal überrascht: Der Titel "Prinzipienlehre" kann die Erwartung wecken, hier werde eine sehr trockene und formale Wissenschaftstheorie vorgetragen. Das Gegenteil ist der Fall. Der beständige Hinblick auf die Geschichte der Aufgaben, die der Theologie im Allgemeinen und der systematischen Glaubenslehre, der Dogmatik, im Besonderen gestellt sind, auf ihre in der Geschichte sich entwickelnden Methoden und Bewährungskriterien lässt eine sehr anschauliche von Erfahrung gesättigte Darstellung der "Prinzipien" entstehen, der der Leser nicht ohne Spannung folgt.

Der Untertitel dagegen, der von einem "Sprach- und Wahrheitsgeschehen" spricht, könnte zunächst die Erwartung wecken, hier würde die Selbstverständlichkeit wiederholt, dass die Verkündigung des Glaubens, seine Überlieferung und seine theologische Auslegung im Medium der Sprache geschehen und deshalb an deren Geschichte teilhaben. Wiederum ist das Gegenteil der Fall: Es geht um die besondere Sprache des Glaubens, die ihrerseits dem Christus-Geschehen als eschatologischem Ereignis entspricht und sich in die spezifischen Sprachformen von Verkündigung, Überlieferung und theologischer Lehre entfaltet. Weil das, wovon zu reden ist, den Charakter des Ereignisses hat, ist das Wort, das von diesem Ereignis spricht, selbst, als wirkendes Wort, Ereignis und weist Sprecher und Hörer in ihre Geschichte hinein.

Wenn der Vf. im Untertitel nicht nur von "Sprachgeschehen", sondern zugleich von "Wahrheitsgeschehen" spricht, dann ist damit keinem Historismus oder gar Relativismus des Wahrheitsverständnisses das Wort geredet, sondern deutlich gemacht: Der Theologe liest nicht, wie gewisse Spielarten des Platonismus es nahe legen, "auf himmlischen Tafeln übergeschichtliche Wahrheiten ab", sondern findet das, wovon er zu reden hat, in einem höchst spannungsreichen Zusammenspiel von unterschiedlichen "Wahrheitsinstanzen" vor. Zu diesen gehören: die "viva vox evangelii", der Bestand kanonischer Schriften, aber auch die Zeugnisse der Glaubenden im Lauf der Jahrhunderte, die Äußerungen kirchlicher Autoritäten, deren Amt es ist, derartige Zeugnisse kritisch zu sichten, um "falscher Lehre zu wehren". In diesem Kontext von "Wahrheits-Instanzen" findet auch jene "sapientia christiana" ihren Ort, die die bezeugte Wahrheit des Glaubens so ausspricht, dass die Brücke zwischen "Paratheke" und "praedicatio" geschlagen werden kann: zwischen der Wahrheit der Glaubensbotschaft, die den Christen zur getreulichen Verwaltung hinterlegt ist, und der Zusage dieser Glaubenswahrheit an die je gegenwärtig hörende Gemeinde. Was wir heute "Theologie" nennen und von einer "christlichen Philosophie" unterscheiden, hat sich aus der "sapientia christiana" nur in einem mühsamen, von manchen historischen Kontingenzen abhängigen Prozess herausgebildet. Und der heutige Fächerkanon der Theologie erweist sich bei historischer Betrachtung als ein vergleichsweise spätes Produkt dieser Entwicklung und hat erst in der "Barock-Scholastik" die uns heute bekannte Gestalt gewonnen.

In diesen Rahmen zeichnet der Vf. auch die "Arbeitsweisen und Kriteriologien" einer heutigen Dogmatik ein, wobei dem Verhältnis von dogmatischer Wissenschaft und den Entscheidungen des kirchlichen Lehramts ein besonderes Kapitel gewidmet ist. Dabei wird der Lehre Melchior Canos von den "loci theologici" eine neue Gestalt gegeben, die der Situation in einem veränderten Spannungsverhältnis von Glaubenssprache und öffentlicher Sprachgestalt Rechnung trägt. Was schon Cano unter "loci theologici" versteht und was auch der Vf. mit diesem Begriff bezeichnen will, ist nicht eine Sammlung von Fundstellen, auf die der Theologe zitierend zurückgreift wie ein Rhetor auf "loci classici" der Literatur, sondern, mit den Worten des Vf.s gesagt, jenes Gefüge von "Wahrheitsinstanzen", denen der Theologe seine spezifische Beziehung zu der Wahrheit, von der er sprechen will, erst abgewinnt.

Die Vielfalt der Informationen, die das vorliegende Buch enthält, lässt sich in einer knappen Rezension nicht nachzeichnen. Stattdessen soll abschließend die Frage gestellt werden: Wie "prinzipiell" ist die hier vorgelegte "Prinzipienlehre"?

Dazu ist zuerst und vor allem zu sagen: "Prinzipiell" ist diese "Prinzipienlehre" deshalb, weil alle theologische Systematik auf den für sie konstitutiven Bezug zu Ereignis und Geschichte verwiesen wird. Erst von hierher lassen sich ihre Methoden und die Kriterien ihrer Selbst-Beurteilung angemessen bestimmen.

Dennoch bleiben Fragen offen. Sie betreffen jeweils den ersten Schritt der Geschichte, die der Vf. nachzeichnet, und die Entscheidung, die mit diesem jeweils ersten Schritt schon gefallen ist. Derartige "erste Schritte" sind nicht nur chronologisch die frühesten, sondern die sachlich entscheidenden; sie lassen jene Aufgaben erst entstehen, mit deren Lösung die Theologie in ihrer Geschichte beschäftigt ist.

Was bedeutet, so lässt sich hier fragen, jene Schriftwerdung des Worts, die schon als geschehen vorausgesetzt ist, wenn die Schrift als "Wahrheitsinstanz" in Anspruch genommen wird? Ersetzt die- notwendigerweise schematische - Nachzeichnung der Kanonbildung die Antwort auf die Frage: Was bedeutet es für das "Sprach- und Wahrheitsgeschehen", wenn unter den Zeugnissen des Glaubens gewisse als "kanonisch" ausgezeichnet werden - ein Vorgang, der offensichtlich schon vorausgesetzt ist, wenn im Einzelnen gefragt wird, welchen unter den Schriften, die die Gemeinde kennt, der Rang des "Kanonischen" zuerkannt werden soll? Was geschieht, wenn die "Torheit der Kreuzesbotschaft" in eine "sapientia Christiana" transformiert wird, und unter welchen Voraussetzungen wird diese zu einer "Wahrheitsinstanz"? Diese Entscheidung ist offenbar schon vorausgesetzt, wenn gefragt wird, ob die "sapientia christiana" die Alternative zur Philosophie ist ("Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?") oder ob sie, als "wahre Philosophie", deren Vollendung darstellt. Ersetzt die Nachzeichnung des Vorgangs, in welchem sich - seit dem Spätmittelalter und zu einem vorläufigen Abschluss kommend in der "Barock-Scholastik" - die Vielfalt theologischer "Disziplinen" ausgebildet hat, die Antwort auf die Frage: Was bedeutet es für das "Wahrheitsgeschehen" der Theologie, wenn neben den "Doctor in biblia" der "doctor sententiarum" tritt? Ist die "Arbeitsteilung" zwischen biblischer und systematischer Theologie, die damit eingesetzt hat, ohne Einfluss auf das Verständnis jener "Wahrheit" geblieben, die in der "eschatologischen Glaubenssprache" ihren maßgeblichen Ausdruck findet?

Und vor allem, um zu den ersten Anfängen zurückzukehren, kann man von "Jesus Christus als eschatologischem Ereignis" sprechen, ohne von der Geschichte Israels zu sprechen, die in diesem Ereignis "in ihre Fülle gelangt" ist, und ohne zu beschreiben, welche Entscheidung damit gefallen ist, wenn diese Fülle in Kreuz und Auferweckung Jesu und nirgendwo sonst angesagt wird? Diese Entscheidung ist offenbar schon vorausgesetzt, wenn nach der Eigenart der "Glaubenssprache" gefragt wird, die dem eschatologischen Charakter dieser Ereignisse entspricht. Dass der Vf. diese Entscheidung als schon gefallen voraussetzt, ohne sie zum Thema eingehenderer Untersuchung zu machen, hängt möglicherweise damit zusammen, dass er in der einleitenden Schilderung der "Aufgabe einer dogmatischen Prinzipienlehre" den Begriff "Theologie" weitgehend synonym mit dem der "systematischen Theologie" und diesen Begriff synonym mit dem der "Dogmatik" verwendet.

Doch sollen diese Bemerkungen nicht davon ablenken, dass das vorliegende Buch eine Fülle von Orientierungshilfen für die Theologie bietet - auch nicht davon, dass die Lektüre immer wieder ein echtes "Lese-Vergnügen" bereitet. Man merkt dem Buche an, dass es aus der reichen Praxis eines erfolgreichen Hochschullehrers hervorgegangen ist.