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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1094 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Albrecht, u. Georg Pfleiderer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Gelebte Religion" als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2002. 217 S. 8 = Christentum und Kultur, 1. Kart. Euro 22,00. ISBN 3-290-17235-X.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

"Mit Begriffen verhält es sich wie mit Männern ab vierzig: sie setzen leicht Fett an." Mit dieser provokanten Beschreibung zu Beginn des Beitrags von Klaas Huizing (91) ist das Ausgreifende wie das Beschwerliche eines theologischen "Programmbegriffes" umschrieben, dem bei einem Baseler Symposium drei praktische (Wilhelm Gräb, Albrecht Grözinger, Hans-Günter Heimbrock) und sechs systematische Theologen (Florence Develey, Klaas Huizing, Dietrich Korsch, Martin Laube, Georg Pfleiderer, Folkart Wittekind) nachgingen.

Der Begriff "Gelebte Religion" ist zwar noch nicht 30 Jahre alt (er geht zurück auf Dietrich Rösslers "Die Vernunft der Religion" von 1976, wo die Unterscheidung zwischen "gedeuteter" und "gelebter" Religion eingeführt wurde). Aber der Begriff hat in letzter Zeit tatsächlich verschiedenste Anlagerungen erfahren und bekommt nun mit dem Prädikat "Programmbegriff" eine Gewichtsverstärkung ins Grundsätzliche, die mit der Rösslerschen Kategorie einer prozessualen Unterscheidung innerhalb des theologischen Diskurses so nicht gegeben war.

In dem Band finden sich neben den einleitenden und zusammenfassenden Beiträgen der beiden Herausgeber (13-41) zunächst die bekannten Konzepte gelebter Religion von W. Gräb (Praktische Theologie als religionstheologische Kulturhermeneutik, 43-63) und H.-G. Heimbrock (Praktische Theologie als leibphänomenologische Wahrnehmungstheorie der Religion als vorgegebener "Horizont", 65-90). Es folgen Beispiele religiöser Deutung gegenwärtiger Kultur: K. Huizing bietet neben differenzierten kulturtheoretischen Reflexionen zu Geste und Gebärde eine Interpretation von R. Wainwrights Film "Stigmata" von 1999 (91-107); F. Develey vergleicht die Regula Benedicti mit dem Regelwerk von "Big Brother" (109-130), identifiziert dabei die "Frage nach dem gnädigen Publikum" als Pendant zur Frage nach dem gnädigen Gott (118) und stellt fest, dass hier aber die Doppelstruktur des richtenden und zugleich rechtfertigenden Handelns fehle (130).

Hinzu kommen die religionstheoretischen Beiträge von F. Wittekind über die postmoderne Diskussion um Ich und Subjekt, besonders anhand von Gegenwartsliteratur (131-159), von M. Laube über die kommunikativen und differenzierenden Grundstrukturen in Luhmanns Religionstheorie als Modell für theologische Beschreibungen von Religion (161-189) und von D. Korsch über Leben als Thema gelebter Religion (191-207).

Auffällig ist, dass die Systematiker in dem Band gegenüber der "gelebten Religion" als Programmbegriff eher Skepsis anmelden: Der Formel hafte ein "unverkennbares Pathos" an (G. Pfleiderer, 25); die Ausweitung der Sicht auf Religion über deren kirchliche Gestalt hinaus sei zwar nötig gewesen, löse diese aber "von den realen Vollzügen praktizierten Glaubens ab" (F. Wittekind, 153); nachteilig könne der nahe liegende Schluss sein, "Religion" brauche man nur bei besonderen Lebenslagen, während sonst kulturelle Deutungen ausreichten: Damit aber könnten solche Deutungen "nur noch vom geschulten Auge als religiös identifiziert werden" (D. Korsch, 192). Korsch weist darüber hinaus darauf hin, dass der Begriff des "Lebens" gegenwärtig "die Rolle einer autopoietischen Religion einnimmt" (195). "Leben" werde zum Gegenstand von Technik und sei gleichzeitig eine Metapher: "Leben ist insofern eine Super-Religion: religiös verfasst und in demselben Maße technisch handhabbar" (199). Damit ist die seit der Lebensphilosophie bekannte Ambivalenz des emphatisch gebrauchten Lebensbegriffes klar umrissen.

Nach Ansicht des Rezensenten kann die religionstheoretische Perspektive des dokumentierten Symposiums nur so fruchtbar werden, dass die Unterscheidungen innerhalb des eigenen Zugriffes auf Religion lebendig gehalten und jeweils aktuell reformuliert werden. Dies ergibt sich besonders aus dem Beitrag von Laube (Beobachtungen in systemtheoretischer Sicht, 161-189): Der Rekurs auf die "gelebte Religion" hat seinen Ort nach Laube nicht in der Erfassung eines bestimmten Gegenstandes (einer bestimmten Erscheinungsweise von Religion), sondern er dient vielmehr der Verständigung der Theologie über das jeweilige Verhältnis zu ihrem eigenen Gegenstand (184). In der Tat: Außerhalb einer Unterscheidungsleistung ist der Begriff eher eine Tautologie. Denn Religion als Deutung (d. h. als Denken, als Feiern, als reflexive Beschreibung, als kirchliches Ringen um Dogmen) ist immer ein Lebensvorgang!

Das heißt weiter: Sinnvoller als der isolierte Gebrauch, als der Bezug auf bestimmte Ausdrucksweisen von Religion, ist der Begriff in Bezug auf konkrete Menschen, die in verschiedener Weise auf Religion zurückgreifen und so in ihrer eigenen Praxis Unterscheidungen vornehmen. So wird bei Religionslehrern und Religionslehrerinnen einleuchtend zwischen ihrer jeweils gelebten und ihrer professionell gelehrten Religion unterschieden, ohne dass beides auseinander fällt (dazu s. A. Feige, B. Dressler u. a.: Religion bei ReligionslehrerInnen, Münster 2000).

Insgesamt kann Religion (als ein umfassend Differenzen beschreibender Begriff) eben nur im Modus der Unterscheidung gebraucht werden, wie das seit Reformation und Aufklärung geläufig ist. Wer "Religion" sagt, fordert implizit dazu auf, die jeweils angenommenen Unterscheidungen explizit zu machen. Das ist die Stärke des Religionsbegriffes, die durch einseitige programmatische Epitheta eher geschwächt zu werden droht. Das Spannungsfeld der Begriffe "Leben" und "Religion" aufgewiesen zu haben, ist damit das Verdienst der Herausgeber und Autoren des Bandes.