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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1090–1092

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte.

Verlag:

Begonnen von O. Schmitt (+). Hrsg. v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte München. Lfg. 108: Flucht nach Ägypten - Flagge (Nachtrag). München: Beck (im Kommission) 2003. Sp. 1409-1568 m. zahlr. Abb. 4. Kart. Euro 25,00. ISBN 3-406-14208-7.

Rezensent:

Wolfgang Wischmeyer

Die letzte Lieferung des 9. Bandes beginnt mit der Fortsetzung des von Wolfgang Augustyn verfassten Artikels Flucht nach Ägypten, die detailreich spätestens seit der 1. Hälfte des 5. Jh.s verbreitet war, wie die so genannten Triumphbogenmosaiken von S. Maria Maggiore (432-440) und - leider im Artikel z. T. beiseite gelassen - eine Reihe von Elfenbeinen zeigen, so besonders das fünfteilige Elfenbeindiptychon als Buchdeckel des so genannten Codex Etschmiadzin (Eriwan, Mashtot Matenadaran Cod. 2374, vgl. Josef Strzygowski, Das Etschmiadzin-Evangeliar. Beiträge zur Geschichte der armenischen, ravennatischen und syro-ägyptischen Kunst, Wien 1891; Heide und Helmut Buschhausen, Codex Etschmiadzin. Kommentar, Graz 2001) sowie weitere Beispiele der Kleinkunst wie etwa das Goldenkolpion aus Adana in Istanbul, Archäologisches Museum (D. Talbot Rice/M. Hirmer, Kunst aus Byzanz, München 1959, Tafel 66; hier Abb. 1).

Für Theologen ist die Rezeptionsgeschichte der seit etwa 200 nachzuweisenden Traditionen der so genannten Apokryphen Kindheitsevangelien, besonders des Protevangeliums des Jakobus (vgl. Gerhard Schneider, Evangelia infantiae apocrypha - Apocryphe Kindheitsevangelien [Fontes Christiani 18], Freiburg 1995), und die Verbreitung und das Wachstum ihres legendarischen Stoffes besonders in der religiösen Dichtung sowie seine Visualisierung von höchstem Interesse. Neben den wichtigen Bemerkungen zur Landschaft und zu den multikausalen Motiven ihrer Gestaltung zwischen Genrebild, antiquarischem Interesse und Theologisierung von Fauna und Flora stehen hier vor allen Dingen die von A. herausgearbeiteten 16 Ereignisse der Flucht im Vordergrund, die aber fast nie gleichzeitig dargestellt waren: Aufforderung zur Flucht, Aufbruch, Kornfeldwunder, ein Engel tröstet Joseph, Drachenhuldigung, Huldigung und Leitung durch wilde Tiere, Palmenwunder (dieses nur in der westlichen Kunst seit dem 12. Jh. verbreitete Bildthema ist am häufigsten dargestellt), Palmensegnung, Quellwunder, Gruß der Vögel, Räuberepisode, Heilungswunder, Herbergssuche, wunderbare Wegverkürzung, Götzensturz und Ankunft in Ägypten. Der größte bekannte Zyklus sind 27 Radierungen von Giovanni Domenico Tiepolo, Idee pittoresche sopra La Fugga in Egitto (zwischen 1750 und 1753).

Der zwischen dem Artikel Fluchlinie (1432-1436, Maria Vollmann und Friedrich Kobler) und dem Artikel Flügelglas (1447-1449, Friedrich Kobler) stehende Artikel Flugblatt (1436-1446, William A. Coupe) bringt zwar eine vorzügliche Definition, ist aber, gerade was das Material des 16. Jh.s angeht, für reformationsgeschichtlich Interessierte deutlich zu kurz.

Der von Karl Werner Bachmann, Géza Jászai, Friedrich Kobler, Catheline Périer-D'Ieteren, Barbara Rommé und Norbert Wolf verfasste Artikel Flügelretabel (1450-1536) beginnt mit der Definition dieser - auch Flügelaltar genannten - Retabelform, die nach dem Spätmittelalter ihre zweite Blüte im 19. Jh. erlebt hat: "Das [gewöhnlich aus Holz gefertigte] F. ist ein Altarretabel, das mit beweglichen Flügeln versehen ist und dessen Mittelteil (Tafel, Schrein) geschlossen und geöffnet werden kann, um die Schauseite zu verändern" (1450). Dabei stehen verschiedene Theorien zur Entstehung der Flügelaltäre nebeneinander: geordnet nach formalen Kriterien einerseits, so aus der Kleinkunst über Triptychen, von Reliquienschränken oder Figurenbaldachinen und den so genannten Schreinmadonnen; andererseits nach funktionalen Kriterien, wobei der Wechsel der Liturgie im kirchlichen Jahr und repräsentative Aufgaben im Vordergrund stehen. Nach den Bemerkungen zur Konstruktion, zur Montage und Verriegelung folgen unter "Funktion" unsere erhaltenen Quellen zum Öffnen und Schließen des R., das in der Regel zum Aufgabenbereich des Mesners gehörte. Wenn in deren Dienstanweisungen auch keine allgemeinen Regeln feststellbar sind, so ist doch davon auszugehen, dass an den Hochfesten das Hochaltarretabel geöffnet war. Das wurde in den protestantisch gewordenen Gebieten im Allgemeinen beibehalten, auch bei den im 16. Jh. entstandenen Beispielen mit protestantisch geprägten Bildprogrammen (Pirna-Zuschendorf; Wittenberg, St. Marien). Dann folgt der ausführliche gegliederte Katalog der Formen und Vorkommen vom Anfang des 14. Jh.s bis nach 1800. Neben den Abbildungen selbst, die trotz ihrer Kleinheit durch ihre Schärfe bestechen und unter der einschlägigen Literatur heute besonders hervorgehoben werden müssen, muss die weiterführende Qualität des Bildnachweises und der Bibliographie hier als vorbildlich hingestellt werden.

Friedrich Kobler trägt am Schluss des 9. Bandes den ebenso informationsreichen wie ergötzlich zu lesenden vexillologischen Artikel Flagge (1537-1568) nach.

So beschließt diese Lieferung wieder einen Band des RDK, eines Unternehmens, dem für sein langsames, aber solides Fortschreiten der Rezensent nur seine guten Wünsche für die Zukunft aussprechen kann. Denn für Theologen gehört dieses Lexikon, gerade je weiter es voranschreitet, umso stärker, zu den unverzichtbaren Arbeitsinstrumenten, um die materielle und visuelle Welt der Christentumsgeschichte zu verstehen und die Zusammenhänge ihrer Texte mit den Darstellungen ihrer Kirchen zu begreifen.