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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

507 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hirsh, John C.

Titel/Untertitel:

The Boundaries of Faith. The Development and Transmission of medieval Spirituality.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XII, 189 S. gr.8 = Studies in the History of Christian Thought, 67. Lw. hfl. 150,-. ISBN 90-04-10428-3.

Rezensent:

Josef Sudbrack

Der Literaturprofessor der Georgetown University, Washington D. C. hat sich auf das Thema: mittelalterlicher Spiritualität in literarischen Quellen spezialisiert. Dieses Buch bringt ältere Veröffentlichungen in verbesserter Form zusammen mit einigen neuen Beiträgen. In Anlehnung (nicht in genauer Übernahme) an die von W. C. Smith erarbeitete Unterscheidung von Faith and Belief versucht die Introduction (1-10) das Thema "Spiritualität" zu umreißen: eine Verhaltensweise, Mentalität, "faith", die im sozialen Umfeld verankert ist und im "belief", dem jeweils formulierten und institutionalisierten Glauben, kategoriale Eindeutigkeit hat. Eine solche Mentalität sei leichter von ihren Grenzen her darzustellen; deshalb verweist er auf dreierlei: auf Personen (und nicht Texte und Gebräuche) als Träger der Spiritualität; auf die Interaktion zwischen Geschlecht (Gender) und Spiritualität; auf die Beziehung der Mystik zur Spiritualität, woher das Engagement des Mystikers in der Welt stammt. H.s Methode greift Einzelzüge heraus, die für Gesamtentwicklungen signifikant sind. Das 1. Kapitel, Der Ursprung affektiver Frömmigkeit (11-30), belegt die umfassendere These an einem mehrfach überlieferten Marien-Gebet: Im Mittelalter wird die Spiritualität konkreter und gefühlswärmer. Die Rezeption der Barlaam-Josaphat-Geschichte (30-46), die auf die manichäisch überlieferte Bekehrungsgeschichte Buddhas zurückgeht, dokumentiert im "Jederman" und in Chaucers "Pardoner’s Tale" eine verschiedene Mentalität: "Instead of the perception of Imperfection and suffering, there is wrongdoing". An einigen spätmittelalterlichen literarischen Texten zeigt H. (47-59), was die reine Textwissenschaft oft übersieht: Dort wird das Religiöse sichtbar, "The Gods appear". Zwei lange Kapitel arbeiten das frauliche Element bei Margery Kempe (60-77, H. hat ihr ein Buch gewidmet) und Chaucer (78-90) heraus, wehren sich aber gegen eine modern-kämpferische Feminismusdeutung. Eine Brücke nach heute schlägt H. im Kapitel über "Christi Blut" (91-110); schon damals führte die Leiden-Christi-Verehrung zum Mitleid mit den Menschen, zum sozialen Engagement und auch zur mystischen Erfahrung. Noch breiter wird diese Brücke im Vergleich (111-123) des Mystikers Richard Rolle (1349) mit der heutigen Befreiungstheologie (L. Boff). Das Kapitel über die "Arma Christi" (124-149), die Marterwerkzeuge Jesu (wohl byzantinischen Ursprungs), bringt interessante alte Texte und greift wiederum hinein in die Gegenwart der Befreiungstheologie. Und so vereint auch das Schlußkapitel, The New World (150-167), rückblickende und moderne Analysen zur "parallel between colonial and modern ideologies". Im kurzen "Schluß" (169-171) unterstreicht H. mit einer Anekdote aus der Studienzeit Clintons die Bedeutung des Studiums der Spiritualität: Eine Verstehensbasis für die geschichtliche Beweglichkeit im "Belief", in den "Gender", in den Geschichtsperioden, in der Religiosität mit der Verknotung von Spiritualität und Engagement in die Welt hinein.

Es mag als Kritik gelten oder einfachhin die essayistische Methode des Autors beleuchten, wenn die Verwunderung angemerkt wird, daß andere große Forschungsbeiträge nicht einmal erwähnt werden, wie zur affektiven Frömmigkeit der 1971 neu herausgebene Band A. Wilmarts: "Auteurs spirituels Textes dévots du moyen àge latin (1932)", und allgemein zur Thematik die reiche französische Mentalitäts-Spiritualitäts-Forschung (J. Le Goff u. a.), die großartigen Arbeiten Aaron J. Gurjewitsch aus der russischen Tradition. P. Dinzelbachers oberflächlicher Sammelband zur Europäischen Mentalitätsgeschichte (1993) und die wichtige dreibändige, aus dem Amerikanischen übersetzte Geschichte der christlichen Spiritualität (1993-1997) können den Horizont erweitern.