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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Thurner, M. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Beiträge eines deutsch-italienischen Symposiums in der Villa Vigoni.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2002. 691 S. m. Abb. gr.8 = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, 48. Geb. Euro 69,80. ISBN 3-05-003583-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Der "Titel benennt eine singuläre kulturelle Vermittlungsleistung von europäischen Dimensionen", so hebt es der Herausgeber mit Recht im Vorwort hervor. Dieser Leistung ist der Band gewidmet, der die Vorträge eines diesbezüglichen Symposions enthält. Die Aufsätze sind fast genau zur Hälfte in Deutsch und Italienisch verfasst, ein Beitrag in Englisch. Es wäre sicher besser gewesen, wäre allen Beiträgen eine Zusammenfassung je in der anderen Sprache (Deutsch oder/und Italienisch) beigefügt worden, denn in Deutschland ist die Kenntnis der italienischen Sprache nun einmal nicht so allgemein üblich, außerdem ist Deutsch die Sprache, in der die internationale Cusanus-Forschung betrieben wird.

An den Beginn des Bandes hat der Herausgeber einen Forschungsbericht mit Bibliographie gesetzt, ohne freilich ein Auswahlkriterium anzugeben. Nach einer Eröffnung durch C. Vasoli ("Niccolò Cusano e la cultura umanistica fiorentina") folgt ein erster Teil "Einflüsse der deutschen und italienischen Kultur auf Cusanus" mit Beiträgen von G. F. Vescovini, G. Piaia, P. Arfé und dem Herausgeber, dann ein zweiter "Cusanus und die Handschriften- und Bibliothekskultur des 15. Jahrhunderts", ein weiterer "Wirkungen des Cusanus auf seine deutschen und italienischen Zeitgenossen", ein vierter "Cusanus und die italienische Philosophie des 15. Jahrhunderts" und schließlich ein letzter "Cusanus in der Gesamtperspektive der deutsch-italienischen Philosophie vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit". Autoren- und Siglenverzeichnis sowie ein Personenregister sind beigefügt.

Cusanus (= NvK) hat wie wohl kein anderer Deutscher Bedeutung nicht nur für die Vermittlung der italienischen auf die deutsche Kultur im 15. Jh. (und umgekehrt!), sondern er ist selbst Teil des italienischen Quattrocento ebenso wie des spätmittelalterlichen Denkens in Deutschland. So erfüllt sich in seiner Person die "Koinzidenz der Gegensätze", die ja überhaupt charakteristisch ist für sein Denken, für seine Theologie wie für seine Philosophie. Er hat nicht, wie K. Flasch behauptet (vgl. ders., Nicolaus Cusanus. Geschichte einer Entwicklung, 1998, 218) die deutsche spätmittelalterliche Wissenschaft von sich abgestoßen, um "zu einer anderen kulturellen Welt" zu gehören. In seiner Person und in seinem Denken verband er beides - und zwar seit seinem Studienaufenthalt in Padua (1417?-1423), das damals "Zentrum des europäischen Kulturaustausches" war (93).

Den italienischen Zeitgenossen galt NvK als deutscher Kardinal, als ein sehr bekannter Mann, als großartiger Philosoph und Theologe und auch als großer Platonist (75). In Padua lernte er die Bedeutung der Mathematik kennen; nur sie sei im Stande, "mit höchster Gewißheit die Wahrheit zu erfassen" (94). Bussi rühmt NvK als einen Deutschen, der "über Erwarten beredt und Lateiner" war (202). Als Kenner und Sammler alter Handschriften war er allgemein anerkannt - und das mit dem Ziel, die Notwendigkeit der Reform der Kirche zu begründen (H. Schnarr, 212). Auch seine Bedeutung als Vertreter des Papstes Pius II. wird ebenso hervorgehoben wie die als Reformer auf dem Basler Konzil. Gegen den Strom schwimmt W. Baum in seinem Aufsatz; er bestreitet eine enge (Humanisten-)Freundschaft zu Pius II. ebenso wie "säkulare wissenschaftliche Interessen" bei NvK (315-337). Ob man von "Hasstiraden gegen die orthodoxen Christen oder die Hussiten" sprechen muss, ist doch zu hinterfragen (334). G. Girgenti sieht in Porphyrios und Jamblichos zwei indirekte Quellen für den cusanischen Neuplatonismus. Sowohl A. T. Canavero als auch W. A. Euler untersuchen erneut das Verhältnis von M. Ficino zu NvK. Euler betont, dass die religio connata als Grundform der Religion für NvK die Voraussetzung aller Religionen ist und sie alle auf die Gestalt des Gottmenschen hin zielen (515 f.). Sowohl NvK als auch Ficino "betrachten die christliche Offenbarungsreligion ... als Erfüllung des durch den Begriff der natürlichen Religion Intendierten" (524). Ähnlich urteilt - im weiteren Zusammenhang - P. R. Blum. Einige Beiträge gehen der Cusanus-Rezeption nach, über die freilich verschieden geurteilt wird.

Nicht alle Beiträge sind dem deutsch-italienischen Verhältnis gewidmet. Der Herausgeber beschreibt die "Philosophie der Gabe bei Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus": Beide "philosophieren nicht nur über die Gabe, sondern entfalten ihr ganzes Denken als eine Philosophie der Gabe", "indem sie die Erfahrung des Beschenkt-Werdens von vornherein als inneres Begründungsmoment des Denkens selbst reflektieren" (177. 156). Man denke daran, welche Bedeutung Jak 1,17 im Schrifttum des NvK hat! M. Enders widmet sich dem Thema "Unendlichkeit und All-Einheit": Das Größte ist nach NvK "in vollendeter Wirklichkeit all' das, was in der Möglichkeit der absoluten Einfachheit liegt"; er begründet "die größere Wahrheit der negativen gegenüber der affirmativen Theologie mit der Unendlichkeit Gottes". NvK geht "von der anthropologischen Grundthese aus, dass das der Vernunftnatur des Menschen innewohnende desiderium intellectuale sich nicht auf etwas richten kann, welches größer, d. h. besser, und deshalb noch begehrenswerter zu sein vermag". NvK schließt so "von der Unendlichkeit des Wesens-Verlangens der menschlichen Vernunft auf die wesenhafte Unendlichkeit seines Bezugspunktes", also Gottes (401.408.440). W. Haug, der der cusanischen Bezeichnung des Menschen nachgeht, will NvK zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino sehen. Letzterer habe dann wie selbstverständlich vom "schöpferischen Dichter" gesprochen (599). Ob das aber Folge cusanischer Gedanken ist, wird nicht eindeutig dargelegt. In diesem Beitrag fällt auf, dass von einer "intensiven Cusanus-Rezeption Ficinos" gesprochen wird (598), was sowohl Thurner (19) als auch M. Rotzoll (265) deutlich relativieren. Zuletzt schreibt H. G. Senger über das "Nichtwissen als Wissensform" und führt dabei Petrarca, NvK, Agrippa von Nettesheim und Erasmus auf. So typisch auch für NvK die docta ignorantia ist, so sehr spielt sie doch schon seit Augustin eine nicht unerhebliche Rolle. Die Liste der Genannten ließe sich also unschwer erweitern.

Einige Ungenauigkeiten sind aufgefallen: Die Tiroler Briefe des NvK sind jetzt neu ediert und sollten nach der Ausgabe von W. Baum und R. Senoner (Nikolaus von Kues: Briefe und Dokumente zum Brixner Streit, I Wien 1998; II Klagenfurt 2000) zitiert werden (zu 17). Die Heidelberger Akademie-Ausgabe der Opera omnia erscheint seit 1932, nicht schon seit 1923 (zu 167). Wenck von Herrenbergs Angriff auf NvK sollte nicht als dessen "Interpretation im Sinne eines Pantheismus" genannt werden; der Begriff ist wesentlich jünger, auch trifft er NvK nicht (zu 429). Denzingers Enchiridion Symbolorum sollte nicht mehr nach der 30. Auflage zitiert werden (585); 1991 lag bereits die 37. Auflage vor.

Der Band enthält einen bunten Strauß anregender Beiträge, die manchmal zum Widerspruch reizen und auch untereinander nicht immer kongruent sind. Aber das ist kein Schaden. NvK wird überwiegend aus einer bisher wenig beachteten Perspektive gesehen. So ergänzen die Beiträge die bisherige Cusanus-Forschung an vielen Punkten.