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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1080–1082

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Libera, Alain de

Titel/Untertitel:

Denken im Mittelalter.

Verlag:

Aus dem Franz. v. A. Knop. München: Fink 2003. 310 S. gr.8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7705-3242-2.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Auch im Mittelalter gab es Denken und Denker. Im Unterschied zu Le Goffs klassisch gewordenem Buch "Die Intellektuellen im Mittelalter" (deutsch 21987), das sich der soziologisch-historischen Dimension des Themas widmet, will der Vf. die Erfahrung des Denkens darstellen. Die Intellektuellen des Mittelalters sind sich ihrer Besonderheit bewusst. "An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert gibt es zwei Arten von Intellektuellen: diejenigen, die auf der Grundlage von Texten die philosophische Existenz erfinden, und die, die versuchen, die Metaphern der universitären Lehre ins wirkliche Leben zu überführen" (14). Dem Vf. geht es in seinem Buch nicht um die Universitätsgelehrten, sondern um die zweite Kategorie, die er als "Außenseiter" bezeichnet und die die Philosophie "entprofessionalisieren" wollen. Sie "laisieren" das Denken und benutzen darum die Volkssprache; sie haben "gemeinverständlich gesprochen", wurden aber vom universitären Diskurs inspiriert. Diesen sieht der Vf. als "Import des arabischen philosophischen Ideals", das wiederum ein Erbe der griechischen Philosophie darstellt. Dabei war, natürlich ungewollt, letztlich die Verurteilung von 1277 durch Stephan Tempier schöpferisch tätig: "Der von den verurteilten Philosophen gefeierte Genuß ist intellektueller Natur: es ist die Lust am Denken". Dabei stellt sich natürlich die Frage nach dem Sinn der Philosophie, die (nach Le Goff) in der Suche nach "dem schwierigen Gleichgewicht zwischen Glauben und Vernunft" besteht (16 f.). Die Folge der Verurteilung von 1277, das "große intellektuelle Ereignis des 13. Jahrhunderts" (114), sei gewesen: "Man glaubte, in Paris eine Irrlehre unterbunden zu haben, und schon findet man sie, virulenter als zuvor, in Italien und Deutschland wieder, wo sie die Laien begeistert und deren Sprache zu sprechen beginnt" (21). Als Höhepunkt dieses Denkens werden Lullus, Dante und Eckhart genannt. Gerade Eckhart habe die "Schwelle zur Häresie" überschritten, vor allem aber radikal die Grenze der Universität und des Lehramts.

Nach dieser provokanten Einleitung (11-23) kann der Leser die nächsten drei Kapitel überblättern (Philosophie und Geschichte, Wozu Mediävisten?, Das "christliche Abendland"). Hier räsonniert der Vf. und wendet sich vor allem gegen die verbreitete Ansicht, mittelalterliche Philosophie gebe nur "schlechte Antworten auf falsche Fragen".

In Kap. 4 ("Das vergessene Erbe", 77-109) sieht der Vf. zu Recht in der muslimischen Philosophie des (frühen) Mittelalters nicht nur (wie im christlichen Abendland) ein Bewahren des griechischen Erbes, sondern eine schöpferische Weiterentwicklung. Dabei sollte deutlicher werden, dass es syrische Christen waren, die durch ihre Übersetzertätigkeit ins Arabische den Grundstein dafür legten. Wenn im 12. Jh. Bernhard von Clairvaux neue Tendenzen des Denkens auch im Abendland kritisiert, so wettert er gegen etwas, was er nicht kennt.

Zu Kap. 5 ("Philosophen und Intellektuelle", 111-137): Der Siegeszug arabischer (averroistischer) Philosophie im Abendland setzte ein, bevor es den ganzen Aristoteles kannte. Interessant ist, dass der Vf. die mittelalterliche Theologie rehabilitiert; er meint, sie habe "mehr philosophiert als die Philosophen vom Fach": "Die analytische Philosophie entstand im Mittelalter, und zwar bei den Theologen" - durch die Kommentierung der lombardischen Sentenzen (118). Das zentrale Problem mittelalterlichen Denkens sei nicht der Konflikt zwischen Vernunft und Glaube. Auch die Theologen dachten wie die Philosophen. Es erschien aber die "Idee eines philosophischen Heils wieder auf dem Plan" (136). So stellte Kaiser Friedrich II. durchaus wirkliche Fragen, die ihn umtrieben, es ging ihm nicht um "eitle Neugierde".

In Kap. 6 ("Geschlecht und Muße", 139-185) untersucht der Vf. Probleme vor allem anhand der Verurteilungen von 1277 im Vergleich zwischen Thomas und Aristoteles. Die Thesen, die Stephan Tempier verurteilt, sind Teil eines philosophischen Modells; die durch sie skizzierte Sexualmoral ist offensichtlich antichristlich, vor allem antimonastisch. Auch die Philosophen predigen die Maßhaltung, sie definieren sie nur anders als die Theologen. Es geht beiden letzten Endes um das Erkennen Gottes, doch den Philosophen auf dem Weg der natürlichen Theologie und nicht der Offenbarung. Die Intellektuellen, wie sie die Philosophen verstehen, sind als Vertreter eines neuen Adels verstanden, des Adels der Intellektuellen. Sie fordern kein sacrificium intellectus, sondern sie haben die Notwendigkeit des Denkens zur Moral erhoben (184). Bei Eckhart wird dann die "abegescheidenheit" den Menschen adeln (208).

In Kap. 7 ("Der Philosoph und die Sterne", 187-222) geht es um die Bedeutung der Astrologie. Stephan Tempier hatte bereits 1270 die These verurteilt, dass "alles, was hienieden geschieht, notwendig dem Einfluß der Sterne unterworfen ist." Bei Dante ist der "edle Mensch" Produkt des Spermas und der Sterne. Die Astrologie hat im universitären Bereich kaum eine Rolle gespielt, sie wird zunehmend zurückgedrängt, "die Himmelskörper raten, aber zwingen nicht" (Boethius von Dacien). Der Intellektuelle wird durch die Philosophie, die irdische Glückseligkeit, Gegenstück des fleischgewordenen Gottes (214). Dieses Kapitel ist nicht durchgehend stringent.

Kap. 8 ("Die Erfahrung des Denkens", 223-257) wendet sich mystischem Denken zu: dem der Frauenmystik und dem von Eckhart. Doch der Begriff ist mit Vorsicht zu gebrauchen. Mystik meint im mittelalterlichen Sprachgebrauch weniger bestimmte Zustände, sondern ist bestimmt vom Traktat des Ps.-Dionysius Areopagita, der in ihm eine Abfolge von Methoden beschreibt, die zu Gott führen, zu einer Vereinigung mit dem, der über allem Erkennen ist. Eckhart war von seinem Orden mit der Frauenseelsorge beauftragt und ist, so urteilt der Vf., damit gescheitert: Der Lesemeister stellt "sein Wissen in den Dienst der Patientinnen, läßt sich mitreißen, umgarnen, ja verführen". Was er eindämmen sollte, predigt er nun auf Deutsch. Bei ihm ist (so der Vf.) "das Denken bis zur Gotteslästerung gesteigert" und werden die "christlichen Tatsachen" im Ganzen geleugnet. So entspricht seine Verdammung dem Ausmaß all dieser Verfehlungen (226). Das ist eine sehr einseitige, überspitzte Sichtweise. Gewiss finden wir bei Eckhart sehr gewagte Formulierungen, aber dass er auf dem Boden des christlichen Glaubens steht und ihn bezeugen will, kann nicht in Abrede gestellt werden. Dagegen hat der Vf. sicher Recht, wenn er betont, dass sich Eckhart nicht mit Visionen, sondern mit Ideen auseinander zu setzen hat. Darin sieht der Vf. die typische deutsche oder "rheinische Mystik". Das alles erläutert der Vf. am Exempel der Katrei, einer Beichttochter Eckharts, die "ihren Beichtvater den Weg der Gottwerdung lehrt". Ganz eng wird hier Eckhart an die Lehre der "Brüder und Schwestern vom freien Geist" gerückt (230). Der Vf. ist überzeugt, dass "Eckharts scheinbar mystische Sprache ... sehr einfach theologisch zu entziffern" sei, die "Enthöhung Gottes ist die Inkarnation, der ursprüngliche Akt der göttlichen Demut, der erste Moment der erlösenden Vergöttlichung des Menschen" (242). Das alles kann man mit Zitaten aus Eckharts Predigten belegen, aber die Eckhart-Exegese ist doch sehr einseitig und wird sich kaum in der Eckhart-Forschung so behaupten können. Andererseits trifft es sicher zu, dass "die Sprache des Intellekts" die Universität verlassen und sich in "deutschen Landen" bei Nonnen und Beginen verbreitet hat (248).

Die Absicht des Vf.s, "wir wollten den mittelalterlichen Intellektuellen dort zu fassen bekommen, wo sich ihm die intellektuelle Frage aufdrängte", ist gewiss erfüllt, aber seine Ausführungen werden Widerspruch ernten. Doch lohnt sich die Lektüre (ab S. 77) und eröffnet dem aufmerksamen Leser neue, ungewohnte Perspektiven.