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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1076–1080

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

1) Leppin, Volker 2) Leppin, Volker

Titel/Untertitel:

1) Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham.

2) Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch.

Verlag:

1) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 365 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 63. Geb. Euro 64,00. ISBN 3-525-55173-8.

2) Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. X, 309 S. 8. Geb. Euro 49,90. ISBN 3-89678-476-5.

Rezensent:

Berndt Hamm

In den letzten Jahren erschienen zwei beachtliche Ockham-Bücher des Jenenser evangelischen Kirchenhistorikers Volker Leppin: Das erste über die theologische Wissenschaftstheorie des spätmittelalterlichen Franziskanertheologen ist die Druckfassung der Heidelberger theologischen Dissertation von 1994, das zweite ist eine auf dieser sehr gründlichen Untersuchung aufbauende, sie in allen wichtigen Ergebnissen aufnehmende und zugleich thematisch ausweitende Gesamtdarstellung der Lebens- und Schaffensperioden Ockhams und seiner Nachwirkungen. Was beide Werke kennzeichnet, ist die völlige Freiheit von jeder apologetischen oder polemischen Tendenz und eine große Zurückhaltung gegenüber den weiträumigen geistesgeschichtlichen Einordnungen und Etikettierungen Ockhams. Diese sachliche Nüchternheit betrifft auch die Verhältnisbestimmung zur Reformation: Ockham dient weder als Negativfolie noch als Vorläufer der Reformation oder speziell Luthers, der bekanntlich auch in späteren Lebensjahren als Schüler Ockhams verstanden werden wollte. L. erweist sich so als Vertreter einer neueren Forschergeneration, die durch Namen wie Jürgen Miethke oder William J. Courtenay repräsentiert wird und deren Qualitätsmerkmal die konsequente historische Kontextualisierung Ockhams in den akademischen, sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhängen der Jahrzehnte 1270 bis 1350 ist.

Was L. darüber hinaus auszeichnet, ist die Bereitschaft und Fähigkeit, Ockham - gerade auch da, wo er als Philosoph arbeitet - als den wahrzunehmen, der er selbst vor allem sein wollte: als Theologen aus dem Franziskanerorden. L.s Dissertation ist daher die erste Monographie überhaupt, die Ockhams Theologieverständnis in seinem historischen und systematischen Zusammenhang untersucht. Das bedeutet, dass sie auch intensiv auf den allgemeinen, philosophischen Wissenschaftsbegriff der Artes-Fakultät eingeht, um im Vergleich dazu die Eigenart des besonderen theologischen Wissenschaftsverständnisses zu erkunden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die Theologie für Ockham keine Wissenschaft im strengen Sinne sein kann: Ihr fehlt die Gewissheit unmittelbarer rationaler Evidenz. Allerdings gelangt man dann mit Hilfe der Argumentationsketten des Ockhamschen Sentenzenkommentars zum Resultat, dass die Theologie im Sinne mittelbarer Evidenz doch Wissenschaft sein kann, sofern sie ihre nur im Glauben zugänglichen Prinzipien nach den Regeln der Logik einsichtig macht. L.s Gesamtdarstellung führt diesen Ansatz seiner Dissertation weiter, indem sie zeigt, dass Ockham auf allen Tätigkeitsfeldern, als Sententiar und Logiker, im Avignoneser Ketzerprozess und als exkommunizierter kirchenpolitischer Publizist und Berater des Kaisers, immer bei der Sache der Theologie blieb. Ob im Gespräch mit dem philosophischen Wissenschaftsbegriff oder im Ringen um das Häresieproblem: stets geht es ihm um die Ortsbestimmung theologischer Wahrheit und um die Frage, welche Instanz der Kirche diese katholische Wahrheit verbürgt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Kontinuität durch den Bruch des Avignonaufenthaltes (1324-1328) hindurch bis zum Tod im Münchener Franziskanerkonvent 1347.

Während L.s erstes Buch eine hochsubtile theologiegeschichtliche Erkundung auf dem Niveau der Ockhamschen Denkbewegungen darstellt, kommt in der Gesamtdarstellung die lebensgeschichtliche - und nicht nur diskurshistorische - Erschließung Ockhams zum Zuge. Allerdings hat der Biograph mit dem Problem zu ringen, dass er zwar ein Riesenuvre des Theologen, aber nur wenige gesicherte Lebensdaten hat und in den Schriften kaum etwas Persönliches findet. Dennoch zieht sich L. nicht auf die Gleichung "Sein Werk ist seine Biographie" zurück, sondern unternimmt es, die Lebens- und Konfliktfelder als Zugangsweg zum Werk und Denken Ockhams zu wählen. Aus der Not macht er eine Tugend, indem er den Mangel an biographischer Detailkenntnis weniger durch phantasievolle Spekulationen als vielmehr durch Schilderungen des historischen Umfelds und der Zeitgeschichte ersetzt.

So wird man höchst prägnant und auf der Höhe der internationalen Forschung über das Bildungswesen im Franziskanerorden informiert, den Universitätslehrbetrieb in Paris und Oxford, das besondere intellektuelle Klima in Oxford seit dem 2.Jahrzehnt des 14. Jh.s, die Geschichte der Aristoteles-Rezeption und der Konflikte um den radikalen Pariser Aristotelismus, über Streitigkeiten zwischen der Oxforder Universität und den Bettelorden, die Geschichte des avignonesischen Papsttums und besonders über die Pontifikate Johannes' XXII. und Benedikts XII., den gleichzeitig mit Ockham - ebenfalls wegen eines Häresieprozesses - in Avignon weilenden Meister Eckhart, die verschiedenen Richtungen im Franziskanerorden und den franziskanischen Armutsstreit, über König Ludwig den Bayern und seinen Kampf mit den avignonesischen Päpsten vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Papsttum und weltlichen Mächten (wobei auch besonders intensiv auf die Beziehungen zwischen der Kurie und der französischen Krone eingegangen wird). Bei diesen kompendienartigen Ausflügen in die Kirchen- und Bildungsgeschichte (nur ganz marginal in die Mentalitäts- und Frömmigkeitsgeschichte) verliert man Ockham bisweilen ganz aus den Augen, doch gelingt es L. immer wieder, plausibel zu machen, dass die langen Anläufe notwendig waren, um Ockhams Positionen in den universitären, ordensinternen, intellektuellen und politischen Konflikten verständlich zu machen.

Das besondere Profil des Theologen, Philosophen und publizistisch agierenden Intellektuellen Ockham wird durch diese konsequente Einbettung in die zeitgenössischen Debatten und Kraftfelder zwar nicht verwischt, aber deutlich relativiert. Wenn Ockham beispielsweise in seiner Oxforder Sentenzenvorlesung für den Bereich der Theologie den autoritativen Vorrang der aus der Heiligen Schrift gewonnenen Prinzipien vor der systematisierenden Tätigkeit der Logik betont, dann agiert er als typischer Vertreter der Bettelordensinteressen gegen die Vorschrift der Universität, dass "niemand zur Bibelvorlesung zugelassen werden sollte, wenn er nicht zuvor die Sentenzenvorlesung gehalten habe" (II,44, vgl. 42-54). Und wenn Ockham zugleich die Bedeutung des Logikstudiums so forciert, dass die anderen (material-orientierten) aristotelischen Fächer des Artes-Studiums völlig an den Rand gedrängt werden, dann verfolgt er damit die Strategie der Bettelorden, die um der aristotelisch angefochtenen Theologie willen das traditionelle Grundlagengebäude der Artes-Fakultät für entbehrlich halten und das philosophische Propädeutikum wesentlich verschlanken möchten (54-59).

Gegenüber einer Geistesgeschichte alten Stils, die Ockham zum bahnbrechenden Vorkämpfer einer neuen Ära machte, empfinde ich L.s historische Relativierung des originellen Denkers als wohltuend. So kann er etwa sagen, dass Ockhams philosophische "Universalienlehre nichts anderes ist als eine Reformulierung klassischer Positionen" (78); seine materiale theologische Dogmatik bleibe "den traditionellen Mustern verhaftet" und sei "unoriginell" (97). Interessant werde der Theologe Ockham eigentlich nur im Grenzbereich zwischen Theologie und Philosophie und mit seiner Lehre von der Allmacht Gottes. Gerade an diesen beiden Punkten aber verdient, wie ich meine, L.s Ockhambild einige Korrekturen, die den innovativen Impuls dieses Denkens und seine philosophisch-theologische Konsistenz klarer hervortreten lassen.

Der Innovationskraft und zugleich inneren Kohärenz der Ockhamschen Denkbewegungen in Oxford, London (falls er dort wirklich von 1320/21 bis 1324 lehrte), Avignon und München kommt man mit Hilfe L.s auf die Spur, wenn man fragt, was Ockham an der Logik so ungemein fasziniert, dass er sie in den Rang der Zentralwissenschaft erhebt. Der Grund liegt besonders darin, dass seine Art der Logik (mit ihrer Suppositionslehre) zu einer völligen Entontologisierung der Philosophie und Theologie führt: Die ontologischen Brücken zwischen dem absoluten Sein Gottes, dem Sein der extramentalen Weltdinge und dem Sein des menschlichen intellectus werden zu Gunsten der freien Souveränität Gottes abgebrochen, was zugleich bedeutet, dass keine Metaphysik im traditionellen Sinne mehr möglich ist. Ockham selbst spricht emphatisch von der Neuartigkeit seiner logisch fundierten Universalienlehre, wenn er contra omnes formuliert, "dass keine Entität (res) außerhalb der Seele allgemein (universalis) ist" (II,68) oder dass "außerhalb der Seele kein Allgemeines in den vereinzelten Substanzen existiert" (93). L. versucht die Radikalität dieser Entontologisierung abzumildern, indem er darauf verweist, dass die ordnenden Universalien des menschlichen Verstandes nicht willkürliche Benennungen sind, sondern gedanklich-begriffliche Konzeptionen, die sich an der Arten-Ordnung der extramentalen Realität orientieren (weshalb man sachgemäß bei Ockham nicht von Nominalismus, sondern von Konzeptualismus reden solle, 68). Doch ist demgegenüber zu betonen, dass diese Ordnungselemente der Welt aus Ockhams Sicht nicht als individualitätsübergreifende Wesenheiten existieren, sondern allein durch Gottes kontingente Anordnungen gestiftet und gewährleistet sind.

Die Entontologisierung des Zugangs zur Weltwirklichkeit hängt daher unmittelbar mit der theologischen Entontologisierung der Wahrheit durch die grundlegende Ockhamsche Unterscheidung von potentia dei absoluta und ordinata zusammen. Vor allem die Verbindung dieser Allmachtslehre mit der Universalienproblematik macht die Besonderheit seiner Gesamtkonzeption gegenüber dem Verständnis der beiden Machtbereiche Gottes in der Theologie des Johannes Duns Scotus aus. An diesem zentralen Punkt aber ist die Darstellungsweise L.s in beiden Büchern zu kritisieren. Zutreffend beobachtet er, wie Ockham immer wieder zwischen dem absoluten Möglichkeitsraum Gottes, seiner potentia absoluta (aus der nur Widersprüchliches ausgeschlossen ist), und seinem faktischen Verhalten gemäß der anordnungsgemäßen Macht (potentia ordinata) unterscheidet, wobei für Ockham gilt, dass Gott nie etwas inordinate (nicht-anordnungsgemäß) tun kann (II,145 f.). Insofern ist die absolute Macht stets eine nicht realisierte Potentialität: was Gott in seiner souveränen Freiheit tun könnte, aber nicht tun will. L. betont nun, dass Gott zwar jeweils kraft einer Anordnung handelt, dass diese Anordnungen aber keine unumstößliche Regularität und Verlässlichkeit stiften, da Gott kraft seiner potentia absoluta jederzeit bisherige Anordnungen durch neue außer Kraft setzen kann, wie er etwa die natürlichen Kausalverhältnisse durch Wunder aufhebt. Auch dann handelt er ordinans (anordnend), aber eben in der Weise, dass er Ordnungen durchbricht. Mit dieser Deutung bleibt L. noch nahe bei jenen Kritikern Ockhams (einschließlich der Fehlinterpretation Hans Blumenbergs), die seinem Gott eine "Willkürfreiheit" zuschrieben. Auch L. spricht von einer Relativierung der normalen kirchlichen Heilsordnung durch den Gesichtspunkt der souveränen Allmacht Gottes (II,164) und findet bei Ockham das Bewusstsein ausgedrückt, "dass die Ordnungen der Welt nicht mehr vollen Halt gaben" (165). Ockham selbst erläuterte sein Verständnis der potentia dei ordinata durch den Vergleich mit der päpstlichen Amtsvollmacht: "Ebenso kann ja der Papst manches nach den von ihm angeordneten Rechten nicht, was er gleichwohl absolut kann" (145). L. interpretiert diesen Satz im Sinne einer potestas directa des Papstes, mit der er als absoluter Souverän, "alles rechtliche Maß" sprengend, jederzeit und überall in die Kirche eingreifen und neues Recht setzen kann (148 f.). Anhand dieser absolutistischen Vorstellungen vom Papstamt habe Ockham sein Gottesbild konstruiert (218) - mit dem Ergebnis, dass Gott ebenfalls der freie Souverän ist, der seine Anordnungen, Gesetze und Regeln permanent durchbrechen kann (148). Später allerdings, nach Avignon, habe Ockham dieses (von Aegidius Romanus propagierte) Papstverständnis zu Gunsten rechtlich gebundener Autorität revidiert (241).

Man wird das Verhältnis wohl umgekehrt sehen müssen: Ockham hatte in dieser Hinsicht kaum etwas zu revidieren. Er hatte seinerzeit nicht das Papstbild auf Gott, sondern umgekehrt die Vorstellung von einer freien Selbstbindung Gottes auf sein Papstverständnis übertragen: Auch der Papst kann manches, was eigentlich im Möglichkeitsraum seiner Machtbefugnis läge, de facto nicht, weil er oder seine Vorgänger sich durch bestimmte iura statuta selbst gebunden haben. Ockhams Verständnis der potentia ordinata Gottes schließt nämlich Willkürlichkeit strikt aus: Es gibt reversible Anordnungen Gottes (z. B. die Beschneidung des Alten Bundes), aber auch solche Ordnungen, in denen sich Gott irreversibel gebunden hat und die er nicht durchbricht (I,51). So ist eine bestimmte Naturordnung der Arten (dass z. B. der Mensch ein Nicht-Esel ist, 52) dauerhaft gültig, ebenso wie für die Menschen des Neuen Bundes die Heilsordnung Jesu Christi (zu der Wunder gehören) verlässlich ist. Sie schließt z. B. die irreversible Regel ein, dass Gott nur solche Menschen zur ewigen Seligkeit akzeptiert, die im Besitz des eingegossenen Gnadenhabitus sind. Gottes freie Selbstbindung macht ein künftiges, willkürliches Anders-Können Gottes definitiv unmöglich.

Mit rationaler Raffinesse demonstriert Ockham, dass Gottes Natur- und Heilsordnung nicht auf dem Wege einer substanzontologischen Metaphysik rational zu erschließen ist. Damit schafft er Raum für die Demut eines Glaubens, der im Bewusstsein der Grenzen des Geschöpfs aus den kontingenten Anordnungen Gottes Gewissheit schöpft. Wenn L. nach dem "franziskanischen Charakter" Ockhams fragt (II,214), so kann man in der von ihm angegebenen Richtung weitergehen und hervorheben, dass gerade die Betonung kontingenter, geschichtlicher und personaler Selbstbindungen des göttlichen Willens vor dem Hintergrund des unermesslichen Möglichkeitsraumes Gottes ein Merkmal franziskanischer Theologie seit den vierziger Jahren des 13. Jh.s, d. h. seit Odo Rigaldi und Bonaventura, ist. L. zeigt eindrücklich, wie Ockham unter dem Druck des Avignoneser Papsttums und im Schutz des Münchener Hofs Ludwigs des Bayern seinem Franziskanertum und seiner Rolle als franziskanischer Intellektueller treu blieb, auch wenn er sich auf neue Tätigkeitsfelder im kirchen- und allgemeinrechtlichen Bereich, als legitimierender Theoretiker der Gottunmittelbarkeit der kaiserlichen Macht und als Berater des Kaisers im Kampf mit dem Papsttum einließ. Ockham bewahrte gegenüber den Bedrohungen und Umarmungen durch die Mächte seiner Zeit seine unbestechliche Integrität. Wenn es so scheint, als sei er am Ende in München politisch "benutzbar" geworden - so L. mit einer zu starken Formulierung (II,262) -, dann nur deshalb, weil er aus Überzeugung Positionen vertrat, die mit den Interessen des Kaisers konvergierten.

L.s Gesamtdarstellung schließt mit einem sehr gelungenen Überblick über die Nachwirkungen Ockhams, in dem die gut ockhamistisch-nominalistische Einsicht auffällt, dass es im Spätmittelalter keinen "Ockhamismus" gab (276), aber einzelne Menschen wie Gabriel Biel, die man "Ockhamisten" nennen kann (278). Es ist ein exzellentes Buch, das nicht der Versuchung nachgibt, Ockham moderner zu machen als er ist, sondern ihn in seiner eigenen Zeit aufsucht. Durch die gelehrte Grundlagenforschung seiner Dissertation, die eine anspruchsvolle Lektüre für Spezialisten ist, hat L. die Souveränität gewonnen, sich in seinem jüngsten Buch dem ganzen Ockham und einer weiten Leserschaft zuzuwenden und ihr auf hohem Niveau die Begegnung mit einer ebenso fernen wie anregenden Gestalt zu erleichtern. Dieser Ockham ist das notwendige Pendant zu Umberto Ecos Wilhelm von Baskerville.