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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1064–1066

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ebner, Martin

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2003. X, 242 S. 8 = Stuttgarter Bibelstudien, 196. Kart. Euro 30,20. ISBN 3-460-04961-8.

Rezensent:

Jens Schröter

Die aktuelle Diskussion um den historischen Jesus, angestoßen durch die nordamerikanische Forschung, führt seit einiger Zeit auch im europäischen Bereich zu neuen Darstellungen. Kennzeichnend für sie ist in der Regel eine umfassende Berücksichtigung des sozialen, politischen und religiösen Kontextes Jesu, mitunter auch eine hermeneutische Reflexion des Verhältnisses von historischem Material und darauf basierender Geschichtskonstruktion. Für Ebners in zehn Kapitel unterteilte, allgemein verständlich geschriebene Darstellung, die aus einer Münsteraner "Sondervorlesung im Sommersemester 2000" (Vorwort) hervorgegangen ist, trifft Ersteres zweifellos zu.

Kapitel 1 stellt vier Rezeptionen Jesu in Dichtung und Malerei vor, um ihnen den historisch-kritischen Zugang gegenüberzustellen. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass auch historische Forschung ein dialogisches Unterfangen ist und auf konstruktive Einbildungskraft angewiesen bleibt. Ihr Ziel kann deshalb kaum sein, "Jesus im Kontext seiner Zeit, mit den Augen und den Vorstellungen seiner Zeitgenossen zu verstehen" (9 - das ist weder möglich noch erstrebenswert), sondern vielmehr, die Quellen im Dialog zwischen Text und Ausleger in der jeweiligen Gegenwart zur Sprache zu bringen. Die alte Diastase zwischen Geschichte und Glaube, seit Reimarus und Strauß in der Jesusforschung in immer wieder neuen Variationen durchgespielt, lässt sich nur so fruchtbar bearbeiten.

Die Kapitel 2 und 3 führen zum materialen Teil des Buches hin. Ein konziser Durchgang durch die Forschung von Reimarus bis zur Third Quest endet bei dem insbesondere von Gerd Theißen betonten Kriterium der Kontext- und Wirkungsplausibilität sowie der Versicherung, Jesusforschung diene nicht der Begründung des Glaubens. Stattdessen solle Jesus "im Horizont seiner eigenen Zeit verständlich [gemacht werden], unabhängig davon, ob und wie seine Impulse aufgenommen worden sind oder nicht" (19). Die Person Jesu kann jedoch ausschließlich auf Grund der Rezeptionen, die sie erfahren hat, verständlich gemacht werden, niemals unabhängig von ihnen. Die Pluralität der Jesusbilder in der neueren Forschung ist zudem kein Zeichen fehlender Methodenreflexion (so 18), sondern Ausdruck des Charakters historischer Forschung, die auf der Grundlage des zugänglichen Materials sowie der eigenen erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Prämissen Hypothesen über die Vergangenheit formuliert.

Ein sehr knappes Kapitel (21-29) stellt drei Arten von Quellen vor: christliche, nicht-christliche sowie zeitgeschichtliche Zeugnisse, die der Erschließung des historischen Kontextes Jesu dienen ("Jesus embedded"). Maßgebliche Quellen für die Wirksamkeit Jesu seien in erster Linie die aus den Evangelien (Synoptiker, Q, Johannes, Thomas) zu erhebenden ältesten Nachrichten. Deren Überlieferungsprozess wäre einer Betrachtung wert gewesen, zumal hier durch die Mündlichkeitsforschung in neuerer Zeit einiges in Bewegung geraten ist. Darauf hätte zumindest hingewiesen werden können.

Kapitel 4 umreißt Galiläa als Wirkungsfeld Jesu in historischer Hinsicht. Die These eines "heidnischen Galiläa" wird mit der Mehrheit der neueren Forschung zu Recht zurückgewiesen, was durch die Ausgrabungskampagnen der letzten Jahrzehnte deutliche Unterstützung findet. In der Beurteilung der politischen Situation gehört E. mit Theißen und Richard Horsley anders als Sean Freyne auf die Seite derjenigen, die in der Regierungszeit des Herodes Antipas ein von sozialen Spannungen und daraus resultierenden Aufständen geprägtes Gebiet vor Augen haben. Herausgestellt wird des Weiteren die enge Bindung der galiläischen Juden an Judäa und Jerusalem, was für das religiöse Profil Galiläas von Bedeutung ist. Kapitel 5 weitet die Perspektive auf die politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnisse Palästinas aus und endet mit einer Einordnung des Täufers in das Spektrum jüdischer Gruppen und messianischer bzw. prophetischer Einzelgestalten des Judentums.

Die Präsentation des historischen Kontextes vermittelt einen zuverlässigen, den gegenwärtigen Diskussionsstand aufbereitenden Überblick über das Wirkungsfeld Jesu. Aufbauend auf neuere Arbeiten zur Geschichte und Archäologie Palästinas zeigt E., dass ein solcher Teil einer Jesusdarstellung nicht zum - letztlich belanglosen - "Umfeld" des Wirkens Jesu degradiert werden darf und auch Thesen, die auf den gesamten Mittelmeerraum zielen, weniger erklären als eine Konzentration auf Galiläa und Judäa.

Die Kapitel 6 bis 10 stellen den Weg Jesu dar. Grundlegend seien die Taufe durch Johannes sowie ein "Schlüsselerlebnis", das E. aus dem Wort vom Satansturz in Lk 10,18 in Kombination mit dem Versuchungsbericht in Mk 1,12 f. erschließt. Zurückzuführen sei es auf die Beobachtung eines Meteors, den Jesus als apokalyptisches Zeichen gedeutet habe (103 f.). E. hat sich hier von Samuel Vollenweider inspirieren lassen, der auf den Zusammenhang von Lk 10,18 mit TestSal 20 hingewiesen hatte (Dämonen fallen wie Sterne bzw. Blitze vom Himmel). Ob die Stelle die Beweislast einer biographischen Wende, die E. ihr aufbürdet, zu tragen vermag, sei dahingestellt. Der Kontrast zu dem Täufer und die rein präsentische Vorstellung von der Gottesherrschaft, die er für Jesus postuliert, ergeben sich jedenfalls keineswegs so eindeutig aus dem Material, wie es hier den Anschein hat.

Ein soziologisches Profil der Jesusbewegung wird in Kapitel 8 gezeichnet. Anknüpfend an Theißen nimmt E. eine ökonomisch verursachte soziale Entwurzelung als Grundlage für die von Jesus ins Leben gerufene Wanderbewegung an. Jesusworte wie dasjenige über den Bruch mit familiären Bindungen (QLk 14,26), das Ehescheidungsverbot (Mt 5,32 par.) oder die paarweise Aussendung (Mk 6,7; Lk 10,1) erklärten sich vor dem Hintergrund der Forderung, bisherige Sozialstrukturen aufzugeben.

Es wundert nicht, dass sich die Suche nach Gründen für Verurteilung und Hinrichtung Jesu angesichts eines solchen Bildes schwierig gestaltet. Die Tempelaktion könne hierfür nicht angeführt werden, da sie historisch betrachtet allenfalls eine kleinere Episode ohne römisches Eingreifen gewesen sei, das Menschensohnwort aus Mk 14,62 (nicht 15,62, so 182) stilisiere Jesus zum "Vorbild eines christlichen Märtyrers" (ebd., eine zumindest streitbare Deutung). Es verbleibt das Tempelwort, das sich jedoch, wie E. selbst auffällt, nicht so recht zu seiner Jesusdarstellung fügen will. Er sieht sich deshalb genötigt, in Korrespondenz zu dem beobachteten Meteor, einen zweiten biographischen Bruch zu postulieren: Gegen Ende seiner Wirksamkeit sei Jesus "wieder auf den Kurs seines Lehrers eingeschwenkt" (190) und habe sich - zwar spät, dafür aber nachhaltig - von des Täufers eschatologisch ausgerichteter Botschaft überzeugen lassen. Hierfür würde auch die Verzichtserklärung in Mk 14,25 sprechen.

Die Darstellung endet "anstelle eines Nachworts" mit einer kurzen Erzählung von Ernest Hemingway, in der sich drei römische Soldaten über das Verhalten Jesu am Kreuz wundern. Damit wird die bereits im Eingangskapitel zu Tage getretene Position, literarische Zeugnisse und Glaubensüberzeugungen von der "eigentlichen" historischen Darstellung abzusetzen, wieder aufgegriffen.

Das Buch besitzt seine Stärke in der Beschreibung des historischen Kontextes Jesu, für die die neuere Forschung gut aufgearbeitet und verständlich dargeboten wird. Eine hermeneutische Betrachtung historisch-kritischer Jesusforschung fehlt gänzlich, was angesichts der derzeitigen Forschungslage zu bedauern ist. Die Reduktion auf eine rein innerweltlich ausgerichtete Botschaft Jesu vom anbrechenden Gottesreich sowie den Verzicht auf eine Verknüpfung von Wirken Jesu und Entstehung der ältesten Christologie kann E. nur um den Preis der genannten These vom doppelten biographischen Bruch erkaufen. Die Frage, ob dies zu überzeugen vermag und sich das damit entstehende, von E. selbst indizierte Problem nicht quellennäher - und damit auch historisch kohärenter - lösen lässt, drängt sich nach der Lektüre auf.